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osie schnallte ihr Holster um, griff sich ihre Krücke und humpelte durch das Büro zu den Treppen in den Keller. Sie blieb einen Augenblick stehen, um sich zu sammeln, und als sie etwas ruhiger war, ging sie hinunter.
De Lacey lag auf der Sitzbank an der Zellenwand. Es gab nur vier weitere Insassen, und sie hatten sich so arrangiert, dass jeder von ihnen etwas Platz hatte, um sich auszustrecken. De Lacey schien es einigermaßen bequem zu haben: Er hatte die Beine ausgestreckt und die Arme auf der Brust gekreuzt.
Sie ging zu dem Klemmbrett und trug ein, dass sie den Gefangenen 1535, de Lacey, Fitzroy, in ihre Obhut nahm.
De Lacey entdeckte sie und schwang die Beine über die Kante der Bank, um sich aufzusetzen. „Ah, Officer Hernández. Schön, Sie wiederzusehen.“
„Stehen Sie auf“, sagte sie.
„Ich habe es Ihnen gesagt.“ Er grinste. „Ich komme hier raus, bevor Sie Feierabend haben.“
„Ja, das haben Sie“, entgegnete sie. „Drehen Sie sich um. Stecken Sie die Hände durch die Öffnung.“
„Warum?“
„Für die Handschellen.“
„Nein. Sie werden mich freilassen
. Wofür brauche ich Handschellen?“
„Der Commander hat angeordnet, dass ich Sie persönlich zum Jachthafen eskortiere und auf Ihr Schiff bringe. Er will sichergehen, dass Sie das Land verlassen.“
„Mein Fahrer kann mich abholen. Es ist nicht nötig, dass Sie …“
„Sir, bitte drehen Sie sich um und stecken Sie Ihre Hände durch die Öffnung. Je früher Sie das tun, desto früher kann ich Sie auf Ihrer Jacht absetzen und zusehen, wie Sie verdammt noch mal hinterm Horizont verschwinden.“
„Wo sind meine Anwälte?“
„Wir haben sie darüber informiert, dass Sie freigelassen werden“, sagte sie. „Sie erwarten Sie an Ihrer Jacht.“
Für eine Sekunde schien er protestieren zu wollen, doch dann zuckte er mit den Achseln, drehte sich um und hielt seine Hände durch die Öffnung. „In Ordnung“, sagte er. „Bringen wir es hinter uns.“
Sie nahm ihre Handschellen und legte sie ihm um.
„Vorsichtig“, sagte de Lacey und verzog das Gesicht. „Sie haben mich gekratzt.“
„Das tut mir leid.“
Sie rief nach hinten, dass die Tür geöffnet werden konnte, und führte de Lacey hinaus.
Sie hätte
de Lacey auf die Rückbank eines Streifenwagens verfrachten können, doch das wollte sie nicht. Einer der größeren Gefangenentransporter der Wache wurde gerade mit dem Schlauch ausgespült, nachdem, wie sie vermutete, darin ein Drogensüchtiger ins Gefängnis transportiert worden war. In den fensterlosen Trucks wurde es schnell heiß, und die Junkies übergaben sich häufig darin. Der Geruch blieb, ganz gleich, wie oft man die Fahrzeuge reinigte. Die Vorstellung, dass de Lacey in der Hitze eines der Trucks schmorte, den beißenden Geruch fremder Kotze in der Nase, versprach ihr ein klein wenig Befriedigung. Es war immerhin etwas.
Ein Officer, den Josie kannte, legte im Büro eine Patience. Sein Name war Carlos, und Gerüchten zufolge gehörte er zu Mendozas Truppe. Zumindest war er einer ihrer Kollegen, mit denen sie im Normalfall nicht gesprochen hätte, aber er war nun einmal hier, sie brauchte einen Fahrer, und ihrer Ansicht nach war er für den Job geeignet.
„Fährst du mich?“, rief sie ihm zu.
„Ich bin nicht im Dienst“, antwortete er.
„Nur zum Jachtclub. Dauert zwanzig Minuten. Ist der Wunsch des Station Commanders.“
„Dann nimm einen Streifenwagen.“
„Er hat auf Dalisay geschossen“, erklärte Josie.
Damit weckte sie sein Interesse. „Das ist der Kerl?“
Sie nickte. „Ich würde ihn gern im Truck transportieren.“
Er warf seine Karten auf den Tisch und stand auf.
Josie führte de Lacey zur Rückseite und wartete, bis Carlos seine Schlüssel geholt und die Hecktüren des Fahrzeugs geöffnet hatte.
„Rein da“, sagte sie.
„Es stinkt“, beschwerte sich de Lacey.
„Soll ich Sie in die Zelle zurückbringen? Ihre Wahl, Sir. Entweder steigen Sie ein und ich bringe Sie nach Hause, oder wir kehren um und Sie können warten, bis jemand anderes Sie fährt. Was ist Ihnen lieber?“
Carlos war ein Vollidiot, und Josie hatte mehr als nur einen Grund, seine moralische Integrität in Frage zu stellen, aber sie wusste, wie er reagierte, wenn jemand Schwierigkeiten machte, der gerade einen Kollegen niedergeschossen hatte, ganz gleich, wie wichtig dieser Jemand angeblich war. Er wartete de Laceys Antwort nicht einmal ab. Stattdessen packte er ihn am Revers seines Jacketts, schleifte ihn zum Truck und warf ihn dann hinein. De Laceys Schienbeine stießen gegen die Kante der Tür, und er fluchte schmerzerfüllt. Carlos schlug erst die innere und dann die äußere Tür zu, bevor er sich beschweren konnte.
„Schaffen wir ihn hier weg“, sagte er.
Es waren etwa
acht Kilometer von der Polizeiwache 4 zum Jachthafen. Es gab zwei Strecken, die Carlos wählen konnte: Der schnellere Weg führte über den Skyway nach Abenida Epifanio de los Santos, von dort nach Westen zur Globe Rotunda und dann Richtung Süden auf dem J. W. Diokno Boulevard. Die Alternative war etwas direkter, ging aber über kleinere Straßen: Richtung Osten auf der Edison Avenue, dann über die Buenida Avenue und schließlich nach Süden auf dem Boulevard. Carlos blieb auf der Auffahrt zur Wache stehen und blinkte nach rechts, in Richtung des Skyways.
„Nimm die andere Route“, sagte Josie.
„Warum? Die dauert länger.“
„Der Verkehr. Es gab einen Unfall, da staut es sich, und jetzt ist Rushhour. Das dauert ewig.“
„Na gut“, gab er zurück, wechselte den Blinker nach links und fuhr auf die Edison.
Die Straßen in dieser Gegend waren nach berühmten Erfindern benannt: Edison, Morse, Faraday, Bell, Marconi. Die Edison war den größten Teil ihres Verlaufs eine schmale Straße, auf beiden Seiten von parkenden Autos gesäumt und mit etlichen kleinen Ständen auf den Gehwegen. Sie boten gestohlene T-Shirts feil, Plastikkanister mit Wasser und Auslagen voll welkem Gemüse. Müll sammelte sich am Straßenrand, und die Häuser waren ziemlich heruntergekommen. Viele Bewohner deckten die Löcher in Dächern und Wänden mit nichts als einer Plastikplane ab.
„Also ist es wahr?“, fragte Carlos.
„Was?“
„Dass er auf Dalisay geschossen hat?“
Sie nickte.
„Und wir lassen ihn gehen?“
„Wem sagst du das.“
„Was hältst du davon, wenn wir kurz rechts ranfahren? Ich könnte mich dort hinten mal kurz mit ihm unterhalten.“
„Ich hätte nichts dagegen“, sagte sie. „Aber ich glaube, das ist den Ärger nicht wert. Ich will ihn einfach nur loswerden.“
Carlos knurrte unzufrieden. „Ich weiß nicht, warum das alles gerade jetzt passiert. Erst Bruno, jetzt Dalisay. Wenn die Leute glauben, sie könnten einfach auf uns schießen und damit durchkommen, dann …“
Ein Auto kam aus der Faraday Avenue geschossen, völlig unerwartet, und krachte mit voller Wucht gegen den Kotflügel auf Josies Seite. Sie waren ebenfalls schnell gefahren, und der Aufprall ließ sie über die Straße schlingern und ins Heck eines neben einer Werkstatt geparkten Autos donnern. Carlos wurde nach vorne geworfen und schlug mit der Stirn gegen das Lenkrad. Josie hatte sich noch festhalten können, aber die Wucht des ersten und dann des zweiten Aufpralls schleuderte ihr verletztes Bein gegen den Schaltknüppel und ließ Blitze aus Schmerz durch ihren Körper zucken.
Carlos stöhnte und spuckte Blut aus.
Josie sah hinaus. Sie waren von einem alten Toyota Camry gerammt worden, der unter dem Truck eingekeilt war. Ihr Reifen stand auf der zusammengeknautschten Motorhaube des Mittelklassewagens. Der Fahrer des Toyota öffnete die Tür und stieg aus, gerade als ein zweites Fahrzeug – ein weißer Lieferwagen – mit quietschenden Reifen neben ihnen zum Stehen kam.
Der Fahrer des Camry war maskiert. Er ging zum Kofferraum des Wagens und holte eine Schrotflinte heraus. Ein ebenfalls bewaffneter und maskierter Mann stieg aus dem weißen Lieferwagen.
„Was zur Hölle tun die da?“, fragte Josie.
Der Mann richtete seine Schrotflinte auf sie. „Aussteigen.“
Josie schaute zu Carlos. „Was sollen wir tun?“, fragte sie.
Der zweite Mann klopfte an die Scheiben. „Raus da.“
„Verstärkung rufen?“, schlug sie vor und deutete auf das Funkgerät.
„Die sind nie rechtzeitig hier“, murmelte Carlos. „Wir stecken in der Scheiße.“
„Und jetzt? Steigen wir aus?“
„Wir haben keine Wahl. Die Scheiben sind nicht kugelsicher. Wenn sie abdrücken, sind wir tot.“
„Die bluffen nur.“
„Ach ja? Die haben uns gerade gerammt. Das Risiko gehe ich nicht ein.“
Carlos öffnete seine Tür, und kurz darauf folgte Josie seinem Beispiel. Die zwei Männer hatten sich so aufgestellt, dass sie beide Seiten des Polizeitrucks im Visier hatten.
„Los, raus“, bellte der Mann auf Josies Seite. „Mach den Adler, Gesicht nach unten. Eine Bewegung, und ich knall dich ab.“
„Nur die Ruhe“, sagte Josie so laut, dass Carlos es hören konnte. „Wir tun alles, was Sie sagen.“
Sie legte sich auf den Boden. Der Asphalt war heiß und kratzte an ihrer Wange, als sie den Kopf drehte, um sehen zu können, was als Nächstes geschah.
Der zweite Mann stand hinter Carlos und führte ihn mit vorgehaltener Waffe zum Heck des Trucks. Josie konnte unter dem Wagen hindurch ihre Füße und Knöchel sehen und hörte, wie der Mann Carlos befahl, die Tür aufzuschließen.
„Unten bleiben“, bellte der Mann über ihr.
Die Hecktür wurde aufgeschlossen. Sie hörte das satte Klatschen, als etwas Hartes, Schweres auf menschliches Fleisch traf, und sah dann, wie Carlos zusammensackte und still liegen blieb.
Er hatte das Gesicht in ihre Richtung gewandt, und sie sah Blut aus einer frischen Wunde an seiner Stirn quellen.
Die Türen des Transporters wurden geöffnet und ein knapper Befehl ausgestoßen: „Raus!“
Dann sah sie die Füße und Schienbeine von de Lacey, die auf der Erde aufkamen, als er aus dem Wagen stieg. Sie sah, wie er auf ihre Seite des Wagens stolperte. Der andere Mann war hinter ihm und stieß de Lacey immer wieder mit der Schrotflinte in den Rücken, während er ihn zu dem weißen Lieferwagen führte.
„Öffne die Tür.“
Josie drehte den Kopf so, dass sie etwas sehen konnte. De Lacey sagte etwas und erhielt zur Belohnung einen Schlag mit dem Griff des Gewehrs in seine Rippen.
„Mach sie auf.“
De Lacey gehorchte, und bevor er sich erneut beschweren konnte, wurde er hineingestoßen. Der Mann schlug die Tür zu und lief nach vorne zur Fahrerkabine des Lieferwagens.
„Unten bleiben“, sagte der Mann hinter Josie, bevor auch er über die Straße lief und in den Lieferwagen stieg.
Der Motor heulte auf, die Reifen quietschten, und als der Wagen davonjagte, ließ er nichts als eine frische Gummispur auf dem Asphalt zurück.