四、

Tôkyô

Im Licht flackernder Papierlaternen ziehen Ôsugi und Studenten der Universität durch die nächtlichen Straßen. Sie halten Schilder in die Höhe, auf denen der Buchstabe Y zu erkennen ist. Y wie Yanaka.

Das Dorf Yanaka im Norden Tôkyôs lag am Ufer des durch die Ashio-Kupfermine kontaminierten Tonegawa-Flusses. Anstatt die Mine zu sperren, die Fluss und Grundwasser verseuchte, entschied die Regierung, das Wasser in der Höhe Yanakas zu stauen und umzuleiten, damit das vergiftete Wasser im weiteren Verlauf nicht in die Hauptstadt gelangte. Die seit Generationen dort ansässigen Dorfbewohner mussten umgesiedelt werden. Da ihnen aber kein entsprechender Ersatz geboten wurde, weigerten sich viele, ihre Häuser zu verlassen. Es kam zu Auseinandersetzungen, die auch die Hauptstadt erreichten. Natürlich konnten die Studenten in Tôkyô nichts an den Zwangsevakuierungen ändern. Dennoch zogen sie wieder und wieder los, um sich für die Dörfler einzusetzen.

»Links, rechts, links, rechts«, skandieren sie aufgebracht.

Im Zickzackkurs schreiten Demonstrantenreihen durch die Stadt. Eine in sich fließende Protestbewegung entsteht. Die Demonstranten schützen sich gegenseitig, indem sie ineinander verkettet ständig ihre Positionen verschieben. Es gibt keine Front- und keine Abschlusslinie bei ihren Aufmärschen. Das macht es schwierig, sie anzugreifen. Sobald Polizisten auftauchen, verstreuen sich die Protestierenden in alle Richtungen, um sich später wieder zusammenzuschließen.

Für die meisten Studenten war es auch nicht mehr als das: ein Katz-und-Maus-Spiel, das sie mit der Polizei trieben. Sie spielten es mit kindlicher Lust. Im Grunde aber fürchteten sie die Staatsgewalt und wagten es nicht, sich ihr zu widersetzen.

Ôsugi hingegen erkennt in der Solidarisierung mit dem Bauernvolk die Anfänge einer wachsenden Bewegung.

»Freiheit!«, ruft er, lauter als die anderen.

Selbst einem Stotterer wie ihm kommt dieses Wort locker über die Lippen.

»Jiyû!«

Bis in die hintersten Winkel der Hauptstadt soll dieser Ruf eines Tages zu hören sein. Wie ein Virus soll er sich von einem Kopf auf den nächsten übertragen, sodass irgendwann selbst Bevölkerungsschichten, die gar nicht wissen, was Selbstbestimmung bedeutet, diese Forderung aufgreifen würden.

»Jiyû! Jiyû!«

Freiheit für die Arbeiter in den Bleiminen, Freiheit für den von ihnen verschmutzten Fluss, Freiheit für die das Flussufer besiedelnden Bauern! Freiheit für die Bleibenden und Freiheit für die Vertriebenen!

Flugblätter, die wir konfiszierten, trugen immer öfter Ôsugis Handschrift. Rasch hatte er sich in den linken Zirkeln Tôkyôs einen Ruf gemacht. Seine Mitstreiter nannten ihn den »erotischen Anarchisten«. Ôsugis männliche Erscheinung, sein Charisma, seine aufbrausenden Texte machten Eindruck auf sein Umfeld. Dass er an Popularität gewann, war ihm nur recht. Alles, was dazu beitrug, seine Visionen zu verbreiten, kam ihm gelegen.

Wir sind Arbeiter, schrieb Ôsugi — auch wenn er selbst nie eine redliche Arbeit angenommen hatte. Wir erledigen selbst, was uns betrifft. Weder besitzen wir ein Erbe, wovon wir leben könnten, noch haben wir Eltern, die uns aushalten. Wir sind frei. Niemand bestimmt über uns. Niemandem müssen wir dankbar sein. Wir müssen diese Tatsache nur anerkennen. Kein Mensch steht über uns. Kein Mensch darf über anderen Menschen stehen. Das Ich wird nur vom eigenen Ich geführt. Nicht weniger und nicht mehr verlangen wir. Wir wollen in Freiheit leben. Dieses Verlangen lässt uns aufbegehren, und unser Aufbegehren wird eine neue Gesellschaft erschaffen!

Ôsugi mutmaßte, dass Demokratien weiter entwickelt waren als Japans Erbmonarchie. Die Europäer, die Amerikaner, auch die Russen wandten sich von Ordnung und Hierarchie ab. Ôsugi tat es ihnen gleich.

In der Geschichte steckt eine einfache Logik. Immer stehen auf gegenüberliegenden Seiten der Gesellschaft Herrscher und Beherrschte. Diese Herrschaft ist in unseren Traditionen verankert. Wir aber sind »neue Menschen«. Als solche lassen wir alte Vorstellungen hinter uns.

In dem ein halbes Jahrhundert zuvor verstorbenen deutschen Philosophen Max Stirner erkennt Ôsugi einen Bruder im Geiste. Stirner hatte die Agitation mehr als die Demut zu schätzen gewusst und mehr der Leidenschaft gehuldigt als der Vernunft.

Wir alle lieben unseren Geist. Wird aber der Geist theoretisiert, kann ich ihn kaum ertragen, wird auch Ôsugi nicht müde, die Grenzen der Intellektualität zu benennen. Rein theoretisches Wissen ist ihm zu wenig.

Wohl spürte Ôsugi den anderen Ôsugi, der weiterhin in ihm steckte, den, der sich auf die Körperlichkeit berief und daraus Nutzen zog, den Jûdô-Meister aus Echigo, den Liebhaber, dessen Anziehungskraft die Mitschülerinnen, eine nach der anderen, erlegen waren, den Schläger und Messerstecher, den Tierquäler. Wohl erinnerte er den Geist der Katze, die er auf dem Schulweg getreten hatte. Ôsugi war bewusst, welche moralische Entwicklung die entkörperte Katzenseele in ihm angestoßen hatte, zugleich aber erkannte er, dass ohne die ursprüngliche unmoralische Tat kein Weiterkommen in Gang gesetzt worden wäre. Nur im Wechselspiel mit der blinden, triebgesteuerten Tat erwies sich der Intellekt als nützlich. Er benötigte den rohen Gegenspieler. Der Geist brauchte das Fleisch, das ihn motivierte. Ideen ergriffen Ôsugi nur, wenn er mit all seinen Sinnen deren Ursprung erspürte. So viel Ôsugi las und studierte, er verstand sich als Mann der Sinne, nicht als blutleeren Intellektuellen.

Eine Ideologie aus purem Geist ist nicht vorstellbar. Nur wo Menschen instinktiv handeln, entstehen Ideen.

Ôsugi dachte, das Zusammenleben würde besser funktionieren, würde die Bevölkerung auf Instinkte statt auf Anordnungen hören. Menschen bräuchten keine Führung. Den Respekt vor der Tradition, die Hochachtung vor einem erprobten System müssten sie ablegen. Nur frei und ungelenkt, nur gemeinschaftlich könnten sie sich weiterentwickeln. Ôsugi wollte keine neue Ordnung, lediglich das Ende der Ordnung. Er wollte nicht die strenge Disziplin durch eine neue, ebenso strenge ersetzen. Er hatte die Demütigungen nicht vergessen, die ihm in Nagoya zugefügt worden waren. Die physische Erinnerung trieb ihn an. Vorgesetzte tolerierte er nicht, weder unter seinen Gesinnungsgenossen noch unter jenen, deren Anschauungen er bekämpfte. Keine Hierarchie erkannte er an. Niemandem wollte er gehören, niemandem Rechenschaft ablegen. Und ebenso sollte niemand ihm gehören, kein Anhänger, Nachfolger, auch keine Frau sollte ihm ergeben sein, ihm folgen. Kein Mensch sollte sich irgendjemandem, auch ihm nicht, unterstellen. Nicht das schwächste Glied der Gesellschaft sollte jemandem verpflichtet sein. Der Mensch hätte eine Entwicklungsstufe erreicht, in der es galt, sich vollends zu emanzipieren. Frei geboren war er, dazu berechtigt, ein freies Leben zu führen und frei zu sterben, befreit von Zwängen und Pflichten. Nichts und vor allem keine Gewalt oder Angst durften die Freiheit beeinträchtigen.

Keine Furcht mehr, forderte Ôsugi. Und keinerlei Ehrfurcht!

Wie Stirner empfahl er, Menschen sollten die Demut grundsätzlich ablegen. Genug gefürchtet! In der Furcht steckt der Versuch, sich von dem Gefürchteten zu befreien. Durch solches Verhalten wird ebenjenes als Höhergestelltes akzeptiert. Die Hierarchie wird bestätigt, nicht unterbrochen. Und mit der Ehrfurcht verhält es sich noch weitaus schlimmer. Der Ehrfürchtige fürchtet nicht bloß, er ehrt auch noch. In ihm gedeiht das Gefürchtete zu einer inneren Macht, einer Innerlichkeit, stärker und heimtückischer als äußere Gewalt. Druck von außen kann dem geistig Starken, Soliden, seiner Überzeugung treu Verbundenen prinzipiell nichts anhaben. Seinem Inneren aber — so stark der Mensch als Hülle ist — kann er sich nicht widersetzen. Dort setzt die Ehrfurcht an. Sie ist die Wurzel des Übels. Ehrfurcht vor jedweder Überlegenheit, vor Leistungen, Errungenschaften, vor Gott und Herrschern geht Hand in Hand mit Unterwürfigkeit und Unmündigkeit. Fängt der Mensch mit der Ehrfurcht an, ist es zu spät. Die Befreiung strebt er in der Folge nicht einmal mehr an. Denn er und das, wovor er sich fürchtet, sind eins geworden, sobald die Ehrfurcht in ihm wohnt.

Genug gefürchtet!, verkündete Ôsugi im Einklang mit Stirner. Genug gepriesen!

Mir schwirrt der Kopf, wenn ich nur daran denke.

Alles hätte doch bleiben können, wie es war. Bis Ôsugi und seine Genossen die Welt umzukrempeln begannen, hatte sie nach klaren Regeln funktioniert. Alle Bereiche hatten ihre Ordnung. Das Zusammenleben von Mann und Frau, von Vorgesetzten und Untergebenen, Herrschern und Beherrschten, die Rechte der Adeligen und jene der Arbeiter, alles war vorgegeben, das Sittenbild der Gesellschaft bis ins Detail festgelegt. Nun aber wurde unser Zusammenleben von Tag zu Tag unübersichtlicher. Ôsugi und seine Mitstreiter gaben sich Utopien hin, stellten alles in Frage. Sie suchten, vielleicht nicht nach dem einen Weg, sondern nach einer Vielzahl von Wegen, nach Auswegen und Umwegen. Sie lustwandelten durch ein Labyrinth von Zukunftsvisionen. Ôsugi sah sich zugleich als Irrlicht wie als Leuchtfeuer. Und auch mir fiel es plötzlich schwerer, eindeutig in meinen Beurteilungen zu bleiben.

Die Welt ist komplizierter geworden, las ich in Ôsugis Aufzeichnungen. Man kann Freunde von Feinden kaum unterscheiden.

War dies eine Anspielung auf einen wie mich? Oder war es gar eine Anspielung auf den Taishô-Kaiser? Wäre diese Aussage ausreichend gewesen, um Ôsugi des Hochverrats zu bezichtigen?

Ich durfte es nicht in dieser Weise deuten, damit hätte ich mich selbst des Verrats verdächtig gemacht. Ich hätte eigene antimonarchistische Gedankengänge offenbart. Ich verbot es mir selbst, weiter darüber nachzudenken. Doch heute, da mir die gesamte Existenz unverständlich geworden ist und ich anerkennen muss, wie alles aus den Fugen geraten ist, im Rückblick darf ich mich an diese Frage erinnern, die in mir schwelte: Auf welcher Seite stand der Kaiser tatsächlich? Waren er und seine Gattin in ihrer Harmoniesucht nicht aufwieglerischen Ideen näher als den Traditionen? Standen sie mit ihrem neumodischen, weichen Denken nicht dem Revolutionären näher als dem Konservativen?

Es waren ungeheuerliche Gedanken, die ich mir machte. Das neue, respektlose Denken hatte auch mich erreicht. Ich stellte, wenn auch heimlich und nur für mich, Ihre himmlische Majestät in Frage. Das war ein Frevel, für den ich mich schämte und den ich sogar heute kaum zuzugeben wage. Trotzdem: Wäre Ôsugi die Chance gegeben gewesen, sich in das Weltbild des Kaisers hineinzufressen, oder umgekehrt: Wären Yoshihitos Luftschlösser bis zu Straßenkämpfern wie Ôsugi durchgedrungen, wer weiß, wohin diese Synergien geführt hätten?

Sicherlich war ich nicht der Einzige, der solche Überlegungen anstellte. Doch niemand wagte, sie auszusprechen. Nur ein diffuses, unartikuliertes Misstrauen machte sich breit. Ich reagierte darauf, indem ich entschied, noch wachsamer zu sein. Ich schärfte meinen Blick für jede neue Bewegung, die im Untergrund entstand. Der Kaiser war schwach und würde schwach bleiben bis in den Tod, davon war ich überzeugt. Das Reich zu schützen musste heißen, ihn zu schützen und auch: ihn vor sich selbst zu schützen. Das Innere des Kaiserhauses musste so vollständig wie möglich von der Außenwelt abgeschottet bleiben.

Während draußen Ôsugi und die Studenten hin und her schlängelnd durch die Straßen zogen, aus voller Kehle schrien, Flugblätter verteilten und Pläne schmiedeten, saß wenige Kilometer und doch Welten davon entfernt Yoshihito neben seinem Blumenarrangement. Es inspirierte ihn, wenn er den Schreibpinsel zu Papier führte und seine Verse verfasste. Mal war er mehr, mal weniger zufrieden mit dem Ergebnis seiner Kontemplation.

Die Spuren des Schleims einer Schnecke,

wohin ihr Weg auch führt,

sie liegen versteckt im Schatten.

Aller Abschirmung zum Trotz war es, als bemerkte Yoshihito intuitiv, wie sich in den Nischen und Niederungen seines Landes ein Umdenken zusammenbraute.

Ein paar Zimmer neben dem dichtenden Kaiser verbrachte Sadako ihre Zeit. Sie war seine Ehefrau und eben nur das: des Kaisers Gattin. Sie hatte dem Volk nichts zu sagen. Kein Repräsentieren, nur bescheidene Zurückhaltung wurde von Sadako erwartet. In dieser Beziehung sollte sie im Land als Vorbild dienen, als Frau, die sich ihren Pflichten und ihrem Mann unterordnete, selbst wenn sie die Kaiserin war. Niemals würde es ihr gestattet sein oder sie es wagen, sich in den Vordergrund zu spielen.

Sadako hatte innerhalb weniger Jahre drei gesunde Söhne zur Welt gebracht. Ihr starkes Naturell hatte gehalten, was es versprochen hatte. Ihr noch übermütiges, ungeschliffenes Wesen aber schlug beizeiten über das Ziel hinaus. Bei jedem öffentlichen Auftreten bestand die Gefahr, dass sie sich eine unbedachte Geste leistete oder ihr ein vorschnelles Wort über die Lippen rutschte. Also wurde der Kaiserin nahegelegt, sich nach den kurz aufeinandergefolgten Schwangerschaften zu schonen und den schönen, kleinen Dingen des Lebens zuzuwenden. Anstatt sich für die Aussätzigen in den Lepra-Stationen und andere Benachteiligte zu engagieren, sollte sie wie ihr Ehemann den feinen Künsten nachgehen. Dichten, malen, die Teezeremonie, die Kalligrafie oder die Kunst des Blumensteckens, all dies reichte doch, um ein Leben auszufüllen. Wie Yoshihito benötigte auch sie Zeit zur Regeneration. Zeit, um in sich zu gehen.

Sadako bekam ihren Mann nur selten unter vier Augen zu sehen, und selbst wenn, dann durfte sie nicht frei und ungezwungen mit ihm sprechen. Sie hatte dies zu akzeptieren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich Sadako an die Distanz gewöhnen würde. Innerhalb der Palastmauern genoss sie kaum Spielraum, und nach draußen gelangte sie fast nie. So und nicht anders war es und würde es immer bleiben. Sadako hatte sich mit einem goldenen Käfig zu begnügen.

Zehn Jahre nach der Geburt des dritten Kaisersohns gebar Sadako noch einen vierten Prinzen. Inzwischen hatte sie gelernt, sich im Hintergrund zu halten und unaufdringlich ihrer eingeschränkten Wege zu gehen. Sie verwirklichte sich in manchen wohltätigen Bemühungen, aber sie richtete keinen Schaden an. Erst als Witwe, viele Jahre nachdem sowohl Yoshihito als auch Ôsugi gestorben waren und auch ich von der Bildfläche verschwunden war, erst dann machte Sadako mit pazifistischen und feministischen Aussagen von sich reden. Mich hatte es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu kümmern. Mein Beitrag zur nationalen Sicherheit war seit dem »Amakasu-Zwischenfall« nicht mehr gefragt. Andere mussten sich darum bemühen, die Kaiserwitwe in Schach zu halten. Mir fiel nur noch die Beobachterrolle zu. In Shinkyô, meinem Exil, fernab vom Geschehen, konnte ich mir meine Meinung bilden, mehr nicht.

Solange sie Kaiserin war, hatte Sadako gemäßigt werden können. Einige Waisenkinder, Verstoßene und Obdachlose profitierten von ihrer Solidarität, gerade nach dem großen Beben, als sie sich der leidenden Bevölkerung gegenüber verpflichtet fühlte. Davon abgesehen war sie eine ruhig gehaltene, schöne Frau, meist in Blütenweiß gekleidet und mit prächtigen Hüten und Federn geschmückt. So viele Schichten feinsten Reismehlpuders ihr die Dienerinnen bei öffentlichen Auftritten aber auch auftrugen, das kleine wilde Mädchen vom Land, es blieb durch Schminke und Schmuck hindurch stets zu sehen.

Im Lauf ihrer langen Tage in der engen, kaiserlichen Routine wandte sich auch Sadako der Lyrik zu.

Ein Lächeln,

das die acht Millionen Götter preist,

ist der Ursprung für die Freude in der Welt.

Vielleicht ist dies das gelungenste Waka, das Sadako je geschrieben hat.

Außerhalb des kaiserlichen Kokons jonglierte Ôsugi immer selbstbewusster mit seinen unausgegorenen Visionen. Eines Tages würde eine davon zu Boden fallen und sich über die gesamte Nation ergießen, hoffte er. Anstatt überlieferten Antworten zu vertrauen, warf er unbeantwortete und nicht zu beantwortende Fragen auf. Ein Narr wollte er sein, lieber einer, der nicht wusste, wie die Dinge funktionierten, als einer, der am Wissen über das Funktionieren festhielt. Von borniertem Wissen schrieb Ôsugi. Ein Wissen, das sich und seine Konsequenzen nicht ständig hinterfragt, beschränkt sich auf die eigenen Erfolge und widersetzt sich in logischer Folge jeglichen Veränderungen. Es ist kein Wissen, sondern ein Festhalten. Niederträchtig steht es im Schulterschluss mit der Macht.

Ich persönlich konnte nichts Niederträchtiges daran erkennen, sich hergebrachten Regeln und Gesetzen zu unterwerfen. Und ich kannte keine taugliche Alternative. Solange sich eine solche nicht bewiesen haben würde, schien es mir klüger, am Bestehenden festzuhalten. Ôsugi war anderer Meinung. Er hatte keine Scheu vor abenteuerlichen Experimenten. Nur weil etwas nicht in Sichtweite war, bedeutete das in seinen Augen nicht, dass es nicht existierte. Fantasiegebilde hatten für ihn denselben Stellenwert wie real Erprobtes. Das Denken sollte sich von allen Normen befreien, nur so konnte es den Schritt in ein neues Zeitalter tun. Nur offenherziges Unwissen führte zu Neugestaltung.

Freiheit für die Idee!, polterte Ôsugi. Freiheit für die ungehemmte Tat!

Es folgten seine ersten Inhaftierungen.

Von Woche zu Woche mehrten sich die Festnahmen auf Tôkyôs Straßen. Und auch wenn Ôsugi wie kein anderer verstand, Gefangenschaften zur persönlichen Fortbildung zu nutzen, so setzten ihm die Tage, Nächte, Wochen, Monate hinter Gittern dennoch zu. Wir machten uns Hoffnungen, dass es damit getan sein könnte. Der Rebell wurde gebrochen, indem ihm immer wieder die Bewegungsfreiheit genommen wurde. Irgendwann würde er aufgeben. Vor allem die schlechte Kost in den Haftanstalten — das merkten wir bald — zermürbte Ôsugi. In dieser Beziehung war er nicht zäher als die anderen.

Nach Monaten hinter Gittern konnten diese Umstürzler den Shibu-Roku nicht mehr sehen, den Häftlinge tagtäglich zu essen bekamen, den minderwertigen, faulig schmeckenden Mischreis, der zu vierzig Prozent aus Reiskörnern und zu sechzig Prozent aus Hirse bestand. Wenigstens im Gefängnis lernten die Revolutionäre, die Errungenschaften unserer Kultur zu würdigen. Wurden sie nach ihren Haftstrafen auf freien Fuß gesetzt, war ihr erstes Bestreben nicht, die Revolution voranzutreiben, sondern sich den Magen mit Feinkost vollzuschlagen, soweit sie es sich leisten konnten. Eine einfache Schale weißer japanischer Reis reichte bereits aus, sie vollends zu begeistern. Sie erinnerten sich daran, wie sie in Haft, stumm in einer Reihe nebeneinander sitzend, an eine feuchte Mauer gelehnt, die harten, kalten Klumpen Shibu-Roku hinunterwürgen hatten müssen. Gefängnisinsassen mussten verzehren, was ihnen vorgesetzt wurde. Zu Beginn waren sie vielleicht noch wählerisch gewesen und hatten sich darüber beklagt, dass es neben falschem Reis und dünner Brühe aus getrockneten Fischresten nichts als eingelegten Rettich oder getrocknete Pflaumen gab. Bald aber wurden sie dankbar um jeden Schluck leere Misosuppe, den sie ergattern konnten.

Ich hatte durchaus den Eindruck, als wäre den Sozialisten auf diese Weise beizukommen. Sie wünschten sich Makrelen oder Dorade, zumindest aber Hering, das Futter der Revolution. Im Gefängnis verloren sie an Gewicht und Energie, bis sich der Hunger über all ihre Bedürfnisse schob. Sie bekamen gerade so viel Nahrung zugeführt, um zu überleben. Wurden sie nach Wochen oder Monaten aus der Haft entlassen, waren sie bis auf die Knochen abgemagert und freud- und ideenlos geworden. Eine Weile verlangten sie nach nichts als den simpelsten Nahrungsmitteln. Nur essen wollten sie, essen, trinken, essen. Doch ihre Mägen waren durch die rationierten Portionen in der Haftanstalt geschrumpft. Kaum brachten sie die Schale Reis hinunter, nach der sie sich so lange gesehnt hatten.

Sobald der Magen aber wieder gefüllt war, wurde der Kopf frei für neue Parolen und Aktionen. Außerhalb der Gefängnismauern verstellte der Hunger den Männern nicht lange die Sicht. Waren sie erst einmal satt, erwachte ihr Kampfgeist von Neuem. Mit ihren Inhaftierungen erreichten wir Auszeiten, Pausen im Klassenkampf, mehr nicht.

Yoshihito verlor den »Kaiser des Volkes«, den er für sich ersonnen hatte, nicht aus den Augen. So schwer es ihm fiel, die Ideen, die in seinem Kopf herumspukten, in die Tat umzusetzen, weil ihn ein Schwächeanfall nach dem anderen niederstreckte, so bemühte er sich dennoch um die Solidarität mit den Schwachen und Minderbemittelten seines Landes. Er wollte ihnen das Gefühl geben, nicht über, sondern neben ihnen zu stehen. Die Sorgen, die Meinungen der Bauern, der Arbeiter, der gebildeten wie der ungebildeten Bevölkerung interessierten ihn. Ein Miteinander, »unabhängig von gesellschaftlichem Rang oder Stellung«, wie er es später ausdrückte, schwebte ihm vor. Yoshihito fehlte es im Gegensatz zu Ôsugi an der nötigen Durchsetzungskraft, aber während draußen die Umwälzler ihre Köpfe zusammensteckten, gefiel auch er sich in der Rolle als Weltverbesserer. Vielleicht auch unter Sadakos Einfluss hielt er an der Idee einer neuartigen kaiserlichen Führung fest. Er träumte von gegenseitigem Mitgefühl zwischen dem einfachen Volk und ihm. Folgende Rechnung hatte er aufgestellt: Er war schwach, und das gemeine Volk war es ebenso. Er litt, sie litten. Er fühlte sich überfordert, sie fühlten sich dementsprechend, wenn auch aus anderen Gründen. Sie alle waren Menschen ein und derselben Nation, die Bauern, die Soldaten, die Fließbandarbeiter, die Näherinnen, die Liebesdienerinnen, die Gutsbesitzer, er, der Kaiser. Sie teilten dasselbe Schicksal, nämlich dass sie ein Leben anzunehmen hatten, ein Menschenleben, das für niemanden leicht zu meistern war. Sie sollten zusammenhalten und alle aufeinander Acht geben.

Es waren haarsträubende, unwürdige Gedanken. Der Kaiser war dem Menschsein enthoben. Vollkommen ausgeschlossen, dass er den unteren sozialen Schichten die Hand reichte und sich um Familien statt um seine Armee kümmerte. Derartige Ideen von Gleichheit waren unverantwortlich. Doch Yoshihito konnte nicht anders, als die Führungslosigkeit des Reichs zu verkörpern. In den öffentlichen Auftritten, die er zu absolvieren hatte, stellte er die eigene Schwäche zur Schau. Erschöpft, überfordert, fahrig, mitgenommen, wie er wirkte, machte Yoshihito deutlich, dass es dem gottgleichen Kaiser nicht besser ging als anderen.

Seine Auftritte lösten jedoch weniger Mitgefühl als Erstaunen, Fassungslosigkeit oder Belustigung aus. Früher oder später mündeten Yoshihitos Reden in lyrische Vorträge, die er selber nicht zu verstehen schien. Er unterbrach mitten im Satz, setzte neu an oder wiederholte, was er bereits gesagt hatte. Manche Rede, wie jene Geburtstagsansprache 1913, beendete er verfrüht. Er starrte das Papier in seinen Händen an, als wäre es eine fremdartige Blume. Er verließ das Podium oder ließ seinen Blick in den Himmel schweifen und folgte gebannt dem Schweben einer Cumuluswolke, bis ihm der Nacken steif wurde und er sich zu massieren begann. Eine Rede, die ihm das Kriegsministerium zum Vortrag vor den Untertanen anvertraute, stimmte er säuselnd an, als wäre er ein Wanderpoet, der ein Klagelied unter die Leute brachte. Nach einigen Minuten faltete er den Manuskriptbogen zu einer Blüte und warf ihn den erstarrten Kompanien zu. Bei einem Festakt in Kyôto rollte er vor den Augen der Nation das Papier, von dem er ablas, zu einem Fernrohr zusammen und setzte es ans Auge. Das andere Auge zusammengekniffen, den Mund halb geöffnet, starrte er durch es hindurch ins Nirgendwo. Was immer er in der Ferne erblickte; die Öffentlichkeit sah in ihm keinen Herrscher, sondern das Kind in einem Mann, und staunte, murrte und wartete, bis der Kaiser lange genug durch sein Rohr geschaut hatte.

Yoshihito brachte das gemeine Volk, mit dem er sich so gern verbrüdert hätte, zum Schmunzeln, mehr nicht. Die Leute sahen vielleicht einen sympathischen Narren in ihm, aber das half weder ihm noch ihnen. Nach seinen Ansprachen gingen sie ratlos nach Hause, amüsiert und verunsichert zugleich. Auch Yoshihito ließ sich so schnell wie möglich zurück in den Palast bringen. Mit hämmernden Kopfschmerzen und zittrigen Knien zog er sich in sein Schreibzimmer zurück.

Anstatt Machtworte zu sprechen, dichtete Yoshihito einen zarten Vers nach dem anderen. Kamen ihm Verszeilen besonders gelungen vor, ließ er sie unter seinen Gefolgsleuten verteilen. Seine Gefolgschaft war die einzige Gesellschaft, die Yoshihito hatte. Die einzigen Menschen, mit denen er in Kontakt treten konnte, waren jene, die innerhalb des Kaiserpalasts beschäftigt waren oder wohnten. Doch sie durften ihm wie die Mitglieder der Kaiserfamilie, Sadako oder seine Söhne, nicht wie ihresgleichen gegenübertreten. Sie waren Sterbliche. Nur der Kaiser war erhaben. Niemandem war gestattet, sich auf eine Ebene mit ihm zu begeben.

In seiner Abgeschiedenheit und Einsamkeit malte sich Yoshihito aus, wie es wäre, ein schlichter Mann des Volks zu sein, anstatt Anführer eines mächtigen Reichs. Er empfand sich als Seelenbruder der Geschundenen, Geknechteten, Vernachlässigten und stellte sich vor, unter ihnen zu wandeln, mit ihnen auf den Feldern und an den Fabrikstoren zu stehen und zu hören, was sie zu erzählen hatten. In korrektem Versmaß sinnierte er über Die Arme Frau:

Haarschmuck aus Dornen,

flache Futons für ein reines Leben in Armut,

keine Blume soll das Aussehen schmücken.

Von morgens bis abends ackert sie auf dem Feld,

Jahr für Jahr wiederholt sie das leidvolle Leben

in einem armen Haus.

Yoshihito wünschte sich in eine von Reinheit, Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit geprägte Armut hinein, die seiner Vorstellung nach außerhalb des Kaiserpalasts herrschte. Sein Drängen, die Mühen der Bevölkerung mit eigenen Augen zu sehen, wurde so stark, dass man ihm eines Tages gestatten musste, in unauffälligen Kleidern und einer ungeschmückten Kutsche, als wären er und seine Begleiter einfache Gutsherren oder Ministerräte, eine heimliche Reise durchs Land zu unternehmen. Unerkannt wurde Yoshihito durch Arbeiterviertel, Vororte und Bauerndörfer geführt, verstohlen betrachtete er das Reich, dessen Oberhaupt er war. In normalen Gewändern besuchte er einen Gebetstempel und sichtete die Opfergaben, Reisfladen, Bier, Sojabohnen oder Sake, mit denen die einfachen Leute die Götter gnädig stimmen wollten. Seine Kutsche hielt auch bei einer Fabrik, wo sich ein Begleiter des getarnten Kaisers nach den Bedingungen der Arbeiter erkundigte.

Ob den armen, braven Menschen nicht kalt sei?, fragte Yoshihito. Draußen herrschte bitterer Winter, und die Fabrikhallen waren unbeheizt.

»Es geht ihnen gut. Sie sind glücklich, hier arbeiten zu können«, berichtete der Begleiter.

»Wie geht es ihren Frauen und Kindern?«, wollte Yoshihito wissen. »Haben sie genug zu essen und anzuziehen?«

»Selbstverständlich. Ihr Lohn reicht für ein anständiges Leben.«

Später, als Yoshihito besonders bedürftige Menschen am Straßenrand auffielen, ließ er eine Decke, ein Huhn und eine Schale Reis verschenken. Irritiert blickten die Beschenkten auf und wunderten sich, wer ihr Gönner war. Sie verneigten sich und nahmen die Gaben an. Yoshihito versteckte sich im Inneren der Kutsche.

Auch wenn er unerkannt blieb; nichts als Verwirrung stiftete Yoshihito mit dieser Exkursion. Die Leute zerrissen sich, nachdem er weitergefahren war, in ihrer derben Alltagssprache das Maul darüber, wem diese Wohlfahrtskutsche wohl gehörte. Und auch Yoshihito selber wühlte das Erlebte auf. Er nahm den fragenden Blick, den er in den trüben Augen der Armen erkannt hatte, mit zurück in seinen Palast und tat nächtelang kein Auge zu. Bis zum Morgengrauen spürte Yoshihito der Begegnung mit der fremden Welt nach. Kopfschmerzen quälten ihn. Seine Leibärzte empfahlen ihm, von derartigen Straßenabenteuern abzusehen.

Trotzdem wagte sich der Kaiser noch einige Male hinaus. Er beharrte auf seinen verdeckten Fahrten durchs Land. Er habe noch nicht genug gesehen, insistierte er. Sein Tross unternahm sogar Reisen jenseits der Stadtgrenzen in benachbarte Präfekturen. Dort riskierte Yoshihito sogar, aus der Kutsche zu steigen und eigenmächtig den Kontakt zu Reisbauern oder Handwerksleuten zu suchen. Er grüßte sie freundlich. Sie erwiderten seinen Gruß, nicht ahnend, wer vor ihnen stand. Von einem Fischer ließ sich Yoshihito zu einem primitiven Essen einladen. Auf Augenhöhe unterhielt er sich mit ihm in dessen ärmlicher Behausung, aß den getrockneten Hering und den Reis, der ihm angeboten wurde, aß mit gewöhnlichen Holzstäbchen, trank aus einem abgegriffenen Holzbecher. Nachdem er sich höflich bedankt und verabschiedet hatte und weitergezogen war, hatte der einfältige Fischer keine Ahnung, dass der Kaiser an seinem Tisch gesessen und gegessen hatte, was er mit seinen groben Händen aus der See gezogen hatte.

Die Geheimpolizei musste immer öfter in jene Stadtviertel vorrücken, wo die Sozialisten und Linksintellektuellen beieinandersaßen. Immer selbstbewusster rotteten sich die Aufrührer zusammen. Studenten, Journalisten, Chaoten und Mitläufer aus unteren sozialen Schichten fanden einander. Es fehlte ihnen an Geld und Mitteln. Bald aber kamen Unterstützer aus gehobenen Gesellschaftsklassen hinzu.

Takeo Arishima, der große Literat. Sogar eine Lichtgestalt wie er meinte, teilnehmen zu müssen. Er stammte aus bestem Hause, hatte die elitärsten Schulen besucht. Schon als junger Mann war er Großgrundbesitzer in Hokkaidô geworden. Arishima besaß, wovon andere nur träumten. Er hatte einen glasklaren Verstand, verfügte über Ansehen und Macht. Sein Reichtum würde ein Leben lang nicht versiegen. Arishima konnte sich das Leben aussuchen, das er führen wollte. Und was entschied er zu tun? Er trat zum Christentum über und verschrieb sich der sozialistischen Revolution. Er glaubte an die Gleichberechtigung und das gemeinschaftliche Zusammenleben. Nach und nach stellte Arishima seinen Besitz der Allgemeinheit zur Verfügung. Selbstlos unterstützte er die Dissidenten, die die Welt seinen Anschauungen entsprechend zu verbessern trachteten. Auch Ôsugi steckte er mehr als einmal große Geldbeträge zu, die dieser im Sinne der Revolution verwenden sollte.

Arishima wurde ein bedrohlicher Gegner der Staatsgewalt. In allem, was er tat, wirkte dieser stets maßvoll, aber elegant gekleidete Mann bedacht und gefasst. Jeder seiner Schritte folgte in logischer Konsequenz auf den vorangegangenen. Arishima war weder wirr und schwächlich wie der Kaiser noch blind vor Wut und fanatisch wie die rebellischen Hitzköpfe. Er war eine literarische Instanz, ein landesweit anerkannter Denker. Was er von sich gab und vorlebte, konnte weder vertuscht noch ins Lächerliche gezogen werden. Die Geheimpolizei hätte ihn wie die Straßenkämpfer, die er diskret zu fördern verstand, aus dem Verkehr ziehen müssen. Vielleicht wäre Arishima hinter Gittern von seinen Visionen abgekommen? Doch Arishima einzusperren war undenkbar. Gegenüber diesem Schriftsteller und seinem Status als Moralapostel waren dem Geheimdienst die Hände gebunden. Auch wenn er sich zum Sozialismus bekannte und Manifeste verfasste, die Tausende lasen; er tat dies umsichtig genug, um gegen kein Gesetz zu verstoßen. Nichts ließ er sich zuschulden kommen. Arishima spann klug im Hintergrund die Fäden, wir konnten nichts gegen ihn unternehmen. Nur einer Fügung des Schicksals verdankten wir, dass wir ihn als Gegner loswurden.

Eines Tages ging Arishima eine verhängnisvolle Affäre mit einer verheirateten Frau ein. Nicht nur war diese Geliebte die überaus hübsche Tochter einer Geisha und hatte ein Schuldirektor wegen ihr bereits seine Familie verlassen. Auch betätigte sie sich als Schreiberin für eine Frauenzeitschrift. In diesem Umfeld war Arishima auf sie gestoßen. Er verfiel dieser Frau so sehr, dass er, kein Jahr, nachdem sie zusammengekommen waren, entschied, sich gemeinsam mit ihr das Leben zu nehmen. Arishima war 45 Jahre alt geworden, nun wählte er den Doppelselbstmord aus Liebe. Die höchste Form der Hingabe.

Mit dem Moment, da sich Arishima über alle Maßen verliebte, erlosch sein sozialistisches Engagement. Das romantische Ideal überragte seine politischen Bestrebungen. Die Liebe in ihrer äußersten Leidenschaft erledigte, wozu das Militär nicht imstande gewesen war. Unter keinen Umständen hätten wir einen wie Arishima erhängen können. Nein, er musste es selber tun. Mit seiner Auserwählten an der Hand wanderte er zu Fuß von einem kleinen Provinzbahnhof zum letzten verbliebenen Anwesen seiner Familie, das er nicht dem Volk vermacht hatte. Es war ein bescheidenes Haus in einem abgelegenen Waldstück im Norden des Landes. Arishima hatte alles penibel vorbereitet. Seine Geliebte und er wurden an diesem Ort von niemandem gestört. Tagelang, wochenlang hätten sie dort mit sich allein sein können. Alle Zeit, die sie benötigt hätten, um sich von der Welt zu verabschieden, stand ihnen zur Verfügung. Doch sie blieben nur noch einen einzigen Tag am Leben.

Oft habe ich mir vorgestellt, wie dieser Tag verlaufen sein musste. Wie anders er sicherlich war als mein letzter Tag. Nicht nur weil sie zu zweit waren und ich allein bin, auch waren sie an dem Ort, an dem sie wünschten zu sein, während ich nur hier bin, weil ich nicht weiß, wohin ich sonst noch gehen könnte. Doch auch ich bin nun ganz bei mir, auch ich mache mir jeden Handgriff bewusst, prüfe jede Regung meines Körpers. Arishima und seine Geliebte mussten an jenem Tag eine ähnliche Konzentration erfahren haben, nur sicherlich noch gesteigerter. Ein letztes Mal liebten sie sich. Sie aßen auf Birkenholz gebratenen, süßlichen Flussaal, den sie in Holzboxen mitgebracht hatten, ihr Abschiedsmahl. Sie saßen im Kerzenschein beieinander. Tranken eine letzte Tasse Tee. Bewunderten ihre gegenseitige Schönheit. Sie sprachen kein Wort mehr, schwiegen von nun an miteinander bis in den Tod. Ohne ein Geräusch zu machen legten sie die Essstäbchen beiseite. Ohne Eile, aber auch ohne Verzögerung erhoben sie sich. Fassten sich an der Hand. Sie stiegen auf den Tisch, von dem sie gegessen hatten und über dem die Schlingen befestigt waren. Gegenseitig legten sie sich diese zärtlich um den Hals. Dann nickten sie sich ein letztes Mal zu und warfen sich, Hand in Hand, in den Strick.

Die Nacht in der Berghütte ist dunkel, die Uhr zeigt eine Stunde nach Mitternacht, hielt Arishima in seinem Abschiedsbrief fest. Es regnet unaufhörlich. Wir sind einen langen Weg durchnässt gewandert und haben uns zum letzten Mal geküsst. Wir sind wie zwei kleine spielende Kinder. Ich habe bis zu diesem Augenblick nicht erahnt, wie machtlos der Tod im Angesicht der Liebe ist. Unsere Leichen werden verwest aufgefunden werden. Meine liebe Mutter und meine drei Söhne, die ich über alles liebe, bitte ich um Verzeihung. Ich habe alles versucht, aber jetzt ist es an der Zeit zu gehen.

Ich frage mich: Hatte auch Yoshihito jemals in Betracht gezogen, gemeinsam mit Sadako in den Freitod zu gehen? Die beiden liebten sich doch auch. Sie hätten niemanden außer sich selbst gebraucht, um ein erfülltes Leben zu führen. Doch durch die Umstände ihrer Existenz war, solange sie lebten, ihre Liebe auseinandergerissen und zur Nebensächlichkeit geworden. Wären die beiden nicht im gemeinsamen Sterben besser miteinander vereint gewesen als am kaiserlichen Hof?

Vielleicht hatte Yoshihito wegen der Ausweglosigkeit seines Daseins hin und wieder an ein solches Ritual gedacht? Vielleicht hatte Sadako in ihrer Lebensfreude es ihm ausgeredet? Eher hatte er sie nie gefragt, weil er sich trotz allem der kaiserlichen Pflichten bewusst war, die er zu leisten hatte. Der Freitod eines Kaisers … unvorstellbar. Hunderttausende wären ihm gefolgt. Nein, die Freiheiten Arishimas besaß Yoshihito nicht.

Ich, meinerseits, hätte ich jemals Liebe erleben dürfen, hätte ich jemals leidenschaftlich geliebt und wäre ich geliebt worden, ich hätte mir gewünscht, zusammen mit dem geliebten Menschen aus der Welt zu gehen. Ich wünschte, ich hätte es tun können, früh genug, bevor es zu spät gewesen wäre. Heute bin ich zwar verheiratet, aber Mine ist keine Partnerin, mit der ich einen solchen Moment teilen würde. Ich denke, sie ist jetzt ohnehin nicht mehr am Leben.

So gut es war, dass Arishima ging, und sosehr ich ihn um sein Lebensende beneide; er ging spät, am 9. Juni 1923, im zwölften Jahr Taishô erst. Erst am 7. Juli, zwei Monate vor dem Kantô-Beben, wurden die beiden Leichen entdeckt. Sie waren verwest, wie Arishima es vorausgesagt hatte, und doch wurde schnell klar, um wen es sich handelte.

In der Bevölkerung löste der Vorfall einen großen Skandal aus. Niemand hatte erwartet, dass sich ein angesehener Mann so unmoralisch verhalten würde. Mit einer verheirateten Frau eine Affäre einzugehen und mit ihr den Freitod zu wählen! Dieses Verhalten zerstörte Arishimas öffentliches Ansehen mit einem Schlag. Mit der Geliebten war er zum Waldhaus gewandert und aus der Abgeschiedenheit nie wieder zurückgekehrt. Nicht bloß vom Tisch in den Strick gestürzt hatte er sich, sondern aus strahlendem Licht heraus war Arishima in die Finsternis gefallen. Von der Unantastbarkeit ins Vergessen.

Nichts als ein Punkt in der Ewigkeit war auch Arishima nun. Ihn hatten wir als Gegner überwunden. Niemand würde sich mehr von seinen Ideen und Schriften anstecken lassen. Doch Arishima war nicht der einzige Vermögende gewesen, der der Monarchie entgegengewirkt hatte. Weitere Mäzene und Unterstützer hatten sich in seinem Schatten hervorgetan, von oben nach unten war eine Umverteilung in Gang gekommen. Als Nutznießer konnten nun nicht nur vereinzelte Stadtstreicher ein Huhn verspeisen, das am kaiserlichen Hof großgezogen worden war, sondern sich auch mittellose Anarchosyndikalisten den Bauch mit Curry-Reis vollschlagen. Es warf ein beschämendes Bild auf unser Land. Teils führten Rebellen ein rauschenderes Leben als loyale Milizionäre. Sie feierten, als wäre ihr Sieg im Klassenkampf bereits errungen. Tonkatsu landete in ihren Schüsseln — das panierte Schnitzel aus Europa, das Eingang in die japanische Kultur gefunden hatte. Die Umstürzler deuteten es als Sinnbild für die Öffnung der Gesellschaft und verzehrten es bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Am liebsten hätte ich es ihnen eigenhändig vom Tisch gewischt, von jenen hohen Tischen, an die sie mittlerweile westliche Holzstühle rückten, um in kleinen und größeren Runden die nächsten Aktionen zu besprechen. Jeden Abend saß Ôsugi auf solch einem europäischen Stuhl, in irgendwelchen Hinterzimmern mit wechselnden Diskussionspartnern, stets nur an einer Sache interessiert: dem Umsturz.

Er genießt sein neues, aufregendes Leben in vollen Zügen. Ôsugi liest und studiert ausländische Schriften, er flirtet mit jungen Frauen, er sitzt mit Gleichgesinnten zusammen und debattiert. »Gleichgesinnte« ist zu viel behauptet, ich sollte sagen: andersartig Gesinnte. Denn das Einzige, was den losen Haufen eint, ist, dass sie anders sein wollen, als es das Land seit Jahrtausenden ist. Sie wollen unjapanisch sein. Manche lassen sich taufen, andere laufen zu den Kommunisten über, wieder anderen geht es nur darum, Chaos und Unfrieden zu stiften. Ständig wird das Versammlungsverbot missachtet. Anarchisten, Trotzkisten, Marxisten, Bolschewiken, Syndikalisten, Pazifisten, Naturalisten, Dadaisten, Nihilisten, Feministen, wer immer den Weg zu den vielerorts stattfindenden Zusammenkünften findet, scheint willkommen. Nie war Tôkyô von solcher Unordnung heimgesucht wie jetzt. Eine Krankheit, ähnlich jener, die im Hirn des Kaisers steckt, ergreift die Hauptstadt.

Eines Abends sitzen die Chaoten in Sukiyabashi zu einer sogenannten Bürgerversammlung zusammen, um sozialistische Studien zu analysieren. Ôsugi ergreift das Wort. Er berichtet, wie er die Lügen und Absurditäten des militärischen Lebens am eigenen Leib erfahren und sich deshalb entschieden habe, sein Leben der sozialistischen Bewegung zu widmen. Geduldig folgen die Genossen seinem Stottern. Gerade als Ôsugi ansetzt, von den Demütigungen in Nagoya zu erzählen, klopft es an der Tür. Ein besonders schrulliger Zeitgenosse tritt ein. Ein grillenhafter, knochiger Typ, mehr Insekt als Mann. Vielleicht ist er noch jung, aber er bewegt sich wie ein Greis. Buckelig, vornübergebeugt, einen Leinensack auf seiner Schulter, nähert er sich dem Tisch. Er wirkt friedlich und gleichzeitig befremdlich wie ein Einsiedler, der sich in die tiefsten Wälder, fernab der Zivilisation, zurückgezogen hat. In Wahrheit aber hat dieser Sonderling nie etwas anderes gesehen als die Tôkyôter Innenstadt, durch die er sich von den Launen des Windes treiben lässt wie eine abgefallene Kirschblüte. Auf dem Kopf trägt er einen gewaltigen Bambushut, der sein bleiches, zerfurchtes Gesicht vor jedem Sonnenstrahl oder Regentropfen schützt. Eine grobe, um sein schmales Kinn gespannte Schnur presst den Hut an seine Schläfen. Am Körper trägt er einen wetterfesten Kimono, der wirkt, als hätte er ihn seit Anbeginn der Zeit getragen. Dennoch macht dieser Besucher keinen verwahrlosten Eindruck. Er stinkt nicht, torkelt nicht, er wirkt nicht verwirrt. Vielmehr scheint er in sich zu ruhen und bei klarem Verstand zu sein. Zielstrebig peilt er einen der freien Stühle an.

Die Runde begegnet ihm wie allem Neuen zuvorkommend.

»Was trägt dich zu uns?«, wird er gefragt.

Ein optimistischer Ton schwingt in der Frage mit. Vielleicht trägt dieser Kauz eine progressive Idee in sich, die sich diskutieren und einbauen lässt in den Fetzenteppich der Visionen?

»Mich trägt alles und mich trägt nichts. Eher nichts, will ich hoffen, denn das würde mir weniger Mühe bereiten«, antwortet er.

»Setz dich zu uns«, wird er eingeladen. »Trink einen Gerstentee mit uns und erzähl uns, was dich antreibt.«

»Da ich nichts anderes zu tun habe und nichts anderes, ja grundsätzlich nichts zu tun gedenke, setze ich mich gern zu euch. Auch wenn ich mich natürlich ebenso gut anderswohin setzen oder legen und vielleicht in Zukunft auch einfach nie wieder aufstehen könnte.«

Er gleitet auf den Stuhl. Offensichtlich ist er nicht daran gewöhnt, im westlichen Stil zu sitzen. Den Sack mit ein paar Habseligkeiten, den er auf einem geschulterten Stock transportierte, nimmt er auf seinen Schoß und umklammert ihn. Seinen Hut behält er auf, was ihn, nun schief und gewunden hockend, ohne die Lehne zu berühren, größer erscheinen lässt, als er in Wirklichkeit ist. Von nun an verharrt er in dieser Position. Unter der Achsel eingeklemmt trägt er die ganze Zeit schon eine Shakuhachi, eine Bambusflöte, die so lang und auch fast so dick wie sein Unterarm ist. Er nimmt sie nicht hervor, führt sie nicht an seine Lippen, auch nicht, als er darum gebeten wird, etwas zu spielen.

»Mir ist jetzt nicht nach Musik«, sagt er.

»Wie ist dein Name, Alter?«

»Alter? Habe ich euch denn mein Alter schon verraten?«

»Nein, entschuldige bitte, das hast du nicht.«

»Das werde ich auch nicht. Ganz einfach, weil ich es nicht kann. Ich habe es vergessen.«

Er grinst in die Runde und offenbart ein unvollständiges Gebiss. Und die Runde lächelt angeregt zurück.

»Deinen Namen aber, den hast du doch wohl nicht vergessen?«

»Offen gestanden: Ich würde ihn gern vergessen. Noch aber bin ich nicht so weit. Noch weiß ich, dass ich Jun Tsuji heiße. Eines Tages aber werde ich auch das aus meinem Hirn verdrängt haben.«

Jun Tsuji also. Der eine oder andere meint, bereits von ihm gehört zu haben.

»Was treibst du so? Den lieben langen Tag lang, Tsuji?«

»Nichts. Das habe ich, meine ich, doch schon gesagt. Ich hab’ mein Sach’ auf Nichts gestellt

Nun grinst Tsuji noch breiter als zuvor, und seine ausladenden Nasenflügel flattern ein wenig.

Ôsugi ist hellhörig geworden. Nur zu gut kennt er und schätzt er verschiedene Bögen von Max Stirners atheistischer Streitschrift »Der Einzige und sein Eigentum«. Mit Tsuji sitzt ihm zum ersten Mal ein Fremder gegenüber, der sie ebenfalls zu kennen scheint.

»Du z-zitierst Max Stirner?«, fragt Ôsugi.

»Ich zitiere Max Stirner, der Goethe zitiert«, antwortet Tsuji.

»Was soll nicht a-alles meine Sache sein«, beginnt nun auch Ôsugi, Stirner zu zitieren. »Die Sache G-Gottes, die Sache der Menschen, der Freiheit, der G-G-Gerechtigkeit …«

Bei diesen Worten erwacht in Tsuji, trotz Ôsugis holprigem Vortrag, eine Leidenschaft, die ihm bislang keiner zugetraut hätte. Er fällt in die Aufzählung ein:

»Die Sache meines Volkes, die meines Fürsten, die des Vaterlandes …«

Gemeinsam bringen Ôsugi und Tsuji die Passage auf den Punkt und verlauten schließlich wie aus einer Kehle:

»So stelle ich meine Sache bloß auf mich!«

Ôsugi, der die letzten Sätze ohne zu stottern gesprochen hat, blickt in die verblüffte Runde.

»Wenn dieser Herr hier Stirner stud-d-diert und frei zitiert, dann muss er bei uns g-g-gut aufgehoben sein. Stirner lehrt uns, uns von allem Herk-kömmlichen abzuwenden. In allem lauert eine Falle. Gerade k-kürzlich haben wir darüber diskutiert, wie träge und selbstgefällig der eigene Geist nach kl-l-leinsten Errungenschaften zu werden pflegt. Die Eitelkeit ist unser größter Feind. Gerade haben wir die Aufklärung geschafft, da legen wir uns k-klammheimlich in uns selbst schon einen neuen Gott zurecht. Schon g-glauben wir wieder dies und das und verg-gessen darüber unsere Pflicht am Umbau der Gesellschaft. Stirner zeigt auf, wie wir mit einer Pseudomoral die K-Kraft und Energie aufbrauchen, die so dringend notwendig für andere T-T-Taten wäre. Wir sind weit von Freiheit entfernt. Wir sind alles andere als frei!«

Ôsugi wendet sich wieder an Tsuji, der wie alle den Ausführungen langmütig zugehört hat.

»D-du aber, Tsuji, du verstehst, scheint mir, dich von allem zu lösen, von allem Bösen und allem G-Guten, dem Böses innewohnt.«

»Unsinn«, murmelt Tsuji, und man sieht und hört ihn kaum unter seinem Hut. »Was mich angeht, ich bin weder gut noch böse. Beides hat für mich doch keinen Sinn.«

Wieder zitiert er Stirner. Ôsugi durchschaut es als Einziger und nimmt es mit einem Lächeln zur Kenntnis.

Viele Tage und Nächte werden Ôsugi und Tsuji in der Folge zusammensitzen, Stirner und alles andere diskutieren, sich besprechen und Notizen machen. In Gesprächen unter vier Augen oder in größeren Runden, gemeinsam mit weiteren Genossen, werden sie versuchen, den Wert des Menschseins zu erörtern. Bald werden sie auch in Gesellschaft von Itô, Tsujis junger Ehefrau, Diskurse führen. Aufmerksam wird diese wissbegierige Frau zwischen Ôsugi und Tsuji sitzen und zuhören, was die beiden zu sagen haben. Schon damals trägt sie die Melancholie in ihren Augen, die ich später auf dem Foto erkannte, das mir zu Ôsugis Beschattung vorgelegt wurde. Auf dieser Fotografie sitzt Itô neben ihrem späteren Mann, Ôsugi, im Omnibus, das lümmelnde Kind zwischen ihnen. Noch aber ist sie Tsujis Gattin. Verstohlen nippt Itô an ihrem Grüntee, wenn sich Ôsugi und Tsuji unterhalten. Heimlich wandert ihr Blick über den Rand der Teetasse hinaus. Nicht lange wird es dauern, bis er direkt auf Ôsugis mandelförmige Augen trifft. Itô hat ein kurzes Leben vor sich. Vielleicht ahnt sie das zu diesem Zeitpunkt bereits? Sie ist entschlossen, so viel wie nur irgendwie möglich daraus zu machen.

Genauso zerstörerisch, unberechenbar und unabänderlich wie der politische Kampf ist die Liebe. In diesen Taishô-Tagen sah ich das eine wie das andere plötzlich überall um mich herum entstehen. Vermutlich ging dieser Überschwang vom Kaiser aus, denn Yoshihito war der am meisten von der Liebe Zerrissene. Er konnte für alles noch so Kleine eine Zuneigung entwickeln, für den Flügelschlag einer Schwalbe gleich wie für das Lächeln einer Obdachlosen. Seiner Ehefrau gegenüber verspürte er Liebe, die ein Leben lang hielt — auch wenn sie klein gehalten wurde und nie einen ekstatischen Höhepunkt erlebte wie die Liebe Arishimas und seiner Geliebten. Sadako wiederum, die fürsorgliche, mitfühlende Kaiserin, wandte sich der Nächstenliebe zu, um den Armen und Schwachen Trost zu spenden. Ôsugi und Itô ihrerseits würden wie andere Rebellen bald vollkommen zügellos, haltlos, schamlos mit der Liebe verfahren. Nur ich selbst erfuhr sie nie. Meine Rolle in der Geschichte bestand darin, ein Zeuge der leidenschaftlichen Liebe zu werden und ihr als Außenstehender Einhalt zu gebieten.

Der politische Kampf erfüllte mich voll und ganz. Ich widmete mich dem Schutz der nationalen Ordnung mit allem, was ich hatte. Es blieb keine Zeit für Sinnliches. Der Polizeiapparat hatte Knochenarbeit zu leisten. Ein klebriges Netz aus neuen Ideologien und Umbruchsfantasien spannte sich von der Hauptstadt ausgehend über das ganze Land. Was sich in Russland andeutete und schließlich in die Tat umgesetzt wurde, die Entmachtung des Zaren und die Entfaltung des Kommunismus, schien auch in Japan vorstellbar. Unerbittlich arbeiteten die revolutionären Zellen daran. Ebenso entschlossen galt es, den Kampf gegen sie zu führen.

Ein Kaiser, der dem Volk das Signal gab, frei zu denken und sich frei zu äußern, hauchte all diesen Gruppierungen Leben ein. Die Narrenfreiheit, die er zur Schau stellte, verbreitete sich wie ein Virus. Auch wenn niemand verstand, was Yoshihito von sich gab; auf der Straße wurde es als Ruf nach Selbstbestimmung ausgelegt. Die Staatsfeinde verstanden Yoshihitos Flatterhaftigkeit als Ermutigung, sich aufzulehnen. Das erreichte er mit seiner Liebesfähigkeit. Da er jedes Lebewesen auf Erden umarmen wollte, schien er sogar Dissidenten einen Platz in seinem Herzen zu schenken. Inmitten seines Reichs gediehen sie, und er ging unbekümmert seiner Wege. Der Kaiser verwehrte jeglicher Erkenntnis die Möglichkeit, ihn zu durchdringen. Was immer er lernte, sah, erlebte; in der nächsten dunklen Stunde verlor er die Kraft, es weiterzuverfolgen. Höchstens in dem einen oder anderen Haiku manifestierte es sich.

Für wen blüht die Blume,

wer nicht dort lebt und sie nicht sieht,

die Blume in der Heimat?

Solche Fragen und Betrachtungen beschäftigten Yoshihito.

Die sinkende Marine,

einem Trugbild gleich,

ein verschwindender Kämpfer,

dem wir nachtrauern.

Das Absinken kultureller Größe tat er mit gereimten Zeilen ab. Als wären die Zerfallserscheinungen Zufallserscheinungen. Vergängliche Momente, nicht bedeutender als andere. Die Desorientierung, die von seinem Thron ausging, das Durcheinander, das er auslöste, Yoshihito nahm es, wenn überhaupt, als Nebensächlichkeit zur Kenntnis. Er schrieb es sich von der Seele, vergaß es wieder. Eines nach dem anderen landeten die Haikus und Wakas, die Yoshihito verfasste, in der Schublade. Niemand las seine Gedichte, auch er selber nicht. Niemand musste sie lesen. Jeder hatte bereits verstanden: Ein introvertierter Kaiser, der sich in seinen eigenen Künsten und Sphären verlor, würde über kurz oder lang das Land unter seinem Thron verlieren. Es galt, Yoshihitos Phantom-Regentschaft so kurz und schadlos wie möglich zu gestalten. Der Regierungsstab zog in Betracht, des Kaisers erstgeborenen Sohn Hirohito, obwohl er noch ein Kind war, als Thronfolger auszurufen. Doch es war zu früh für diesen Schritt. Noch war Yoshihito nicht bettlägerig genug, um aus der Pflicht genommen zu werden. Erst 1921 wurde mit der schrittweisen Übergabe der Regierungsgeschäfte an seinen Sohn begonnen, einer fünfjährigen Übergangsphase, bis Yoshihito starb und Hirohito übernahm. Bis dahin hatten wir mit ihm umzugehen. Erst im zwölften Jahr Taishô eilte uns das große Erdbeben zu Hilfe.

Ich weiß nicht, ob Yoshihito dieses Ringen um ihn herum zur Kenntnis nahm. Zusehends legte sich wenigstens sein Tatendrang. Die Phase seines Aufbäumens ging vorbei. Das bisschen Energie, das Yoshihito generiert hatte, erschöpfte sich. Bald setzte er sich weder für noch gegen etwas ein. Womöglich verspürte er noch Motivation, bald aber war nur mehr seine Müdigkeit, Antriebslosigkeit zu erkennen. Nach dem kurzen Aufraffen, das zu nichts geführt hatte, gab er sich seinem Schicksal hin. Er war zu schwach, um sich darüber hinwegzusetzen, was sich ihm Tag für Tag in den Weg stellte. Von Jahr zu Jahr wurde Yoshihito schwächer. Er ging dazu über, sein Kaisersein teilnahmslos auszusitzen.

Auch seine geheimen Reisen durchs Land ließ Yoshihito bleiben. Er musste einsehen, dass er mit diesen Ausflügen und sporadischen Gaben nichts an der Situation der Menschen änderte. Er betrachtete, bestaunte das Land, seine Leute, ihr Leid. Exemplarische Studien, hohl, aussichtslos. Ein Kaiser konnte nie Teil des Volks werden. Warum auch? Es hatte keinen Nutzen, wenn alle dieselben Nöte teilten, weder für den Kaiser noch für die Bevölkerung, die auf dem Thron einen sublimen, über alles erhabenen Führer brauchte. Nie erfüllte Yoshihito diese Vorgabe. Er war ein Kaiser, der so wenig sichtbar war wie kein Kaiser zuvor. Mit Mühe wurde die Erinnerung an den Chrysanthementhron wachgehalten. Die Bürger mussten wissen, dass es einen Kaiser gab; Yoshihito sehen oder hören aber durften sie so wenig wie möglich. Der Taishô-Tennô, der so gern mit dem Volk verschmolzen wäre, allmählich verschwand er aus dessen Wahrnehmung. Andere rückten auf und beanspruchten den entstehenden Freiraum für sich und ihre Ideen. Sie verhielten sich, als gäbe es keinen Kaiser mehr. Es gab nur das Militär, das wie sie unermüdlich operierte, und die Geheimpolizei, die sie eliminieren musste. Doch unsere Apparate jagten den Verschwörern keine Angst ein. Im Gegenteil, die Rebellen entschieden, die Narrenzeit, die ihnen bis zu ihrer Auslöschung blieb, so gut es ging zu nutzen, um leidenschaftlich zu kämpfen und leidenschaftlich zu lieben. Ôsugi, Itô, und wie sie alle hießen.