九、

Die rote Dorade

Am Samstag, dem 1. September 1923, war es so weit. Hier war er. Der gewaltige Lärm. Die große Katastrophe. Die große Chance. Um 11 Uhr 58 bebte die Erde unter der Kantô-Ebene.

Zuerst war es ein schrilles, fast unhörbares Surren, das den Überlebenden des Unglücks erst im Nachhinein ins Bewusstsein dringen würde. Rohre, die tief in die Erde ragten, pfiffen, ächzten, verbogen sich. Die Brunnenschächte klapperten. Doch die Menschen wussten diese Dissonanzen nicht einzuordnen. Niemand konnte das gespenstische Pfeifen und Klacken einschätzen, das aus den Eingeweiden der Stadt drang und bald vom Knirschen des Bodens begleitet wurde. Nicht einmal denen, die zuvor bereits starke Erdbeben erlebt hatten, galten diese Vorzeichen als Warnung. Denn es gab nichts Vergleichbares. Das Kantô-Beben übertraf alles Bisherige bei Weitem.

In Japan ereigneten sich alle paar Wochen mittlere Erdstöße. Wir hatten uns an das Leben mit dieser Gefahr gewöhnt. Wir blendeten sie aus, verdrängten, vergaßen sie glatt. Die Erde war seit langer Zeit ruhig gewesen. Nun aber öffnete und verzerrte sich der Boden mit einem Mal in bislang ungekanntem Ausmaß direkt unter der Stadt. Wenige Sekunden nach den ersten Anzeichen quoll ein Grollen aus der Tiefe an die Oberfläche. Es vermengte sich mit dem Rasseln, Krachen und Klirren von zerbrechendem Glas, zerbrechendem Holz, zerbrechendem Stein, zerbrechendem Geschirr.

Nun wurde den Bewohnern Tôkyôs klar, was vor sich ging. Jetzt, da es zu spät war, verstanden sie. Manche von ihnen verharrten im Schock an Ort und Stelle. Andere hielten sich die Hände vor den Mund und schrien in sich hinein. Sie duckten sich auf den Boden, kauerten unter Möbelstücken oder flüchteten in Panik aus den Häusern auf die Straße, wo sie sich in die Arme fielen oder stumm oder heftig durcheinanderrufend beieinanderstanden, als gäbe ihnen der Zusammenhalt irgendeine Sicherheit. Auch die Tiere ergriffen die Flucht. Ohne zu wissen, wohin, jagten bellende, jaulende Hunde in alle Richtungen, Pferde gingen durch, Katzen, Ratten, Mäuse stoben davon und suchten Unterschlupf. Scharen von Kakerlaken kletterten die Wände hoch, um sich vor dem von unten kommenden Unheil in Sicherheit zu bringen. Krähen, Spatzen, Tauben, Schwalben, Möwen erhoben sich von Masten, Mauern und Ästen und retteten sich so hoch in die Lüfte, wie sie fliegen konnten. Unten auf dem Boden schüttelte eine Urgewalt die Häuser und Brücken Tôkyôs und Yokohamas. Alles Menschenerbaute und auch die umliegenden Hügel waren im Begriff, niedergerissen zu werden.

Dreißig Sekunden dauerte der erste Erdstoß, dann war, von einem Moment auf den anderen, das Schauspiel vorbei. Dreißig Sekunden. Sie änderten alles. Ab jener schicksalhaften halben Minute kurz vor Mittag an diesem 1. September würde nichts mehr je so sein, wie es zuvor gewesen war.

Vormittags waren wir alle noch unseren Tätigkeiten nachgegangen. Ich saß in meinem Büro in Kanazawa und sichtete Akten. Unteroffizier Mori und zwei weitere Beamte waren in Shinjuku eingeteilt, um Ôsugis Wohnung zu observieren. Ôsugi selbst saß an seinem Schreibtisch und arbeitete an einem neuen Artikel. Die fünfjährige Mako, seine Lieblingstochter, hockte neben ihm auf dem Boden, ein Buch in ihrem Schoß. Sie ging noch nicht zur Schule, war aber bereits geübt im Umgang mit den Silbenschriften und beherrschte eine beträchtliche Zahl chinesischer Schriftzeichen. Lesen war ihre Lieblingsbeschäftigung. Ihre Mutter, Itô, war aus dem Haus gegangen. Sie trug den neugeborenen Nesutoru auf dem Rücken und machte Besorgungen. Yukko, die Haushaltshilfe, kümmerte sich im Wohnzimmer um die beiden jüngeren Mädchen, Ema und Luisu. Überall in der Stadt saßen an jenem Vormittag größere und kleinere Kinder in der Schule, in den Fabriken standen Schichtarbeiter am Fließband, Marktfrauen priesen in Tsukiji ihren Weißkohl, Fischer die Makrelen an, die sie gefangen hatten. In Tôkyô und ganz Japan wurden jene Arbeiten verübt, die an einem Samstag erledigt werden mussten. In den Wohnungen bereiteten die Frauen das Mittagessen vor, Holzöfen wurden angeheizt, um Makrelen oder Auberginen zu grillen. Niemand dachte daran, dass die kleinen offenen Feuerstellen, die in Küchen und im Freien, in jeder Gasse benutzt wurden, sich bald zu einem Flammenmeer vereinigen würden, in dem die Gebäude der Stadt niedergingen. Vormittags hatte der Himmel über Tôkyô noch gestrahlt, wenig später würde er von Rauchsäulen schwarz gefärbt sein und tagelang dunkel und giftig bleiben.

Eine Magnitude von 7,9 auf der Richterskala maß der erste Erdstoß. Drei Minuten später folgte ein zweiter und weitere zwei Minuten darauf ein dritter ähnlich starker. Mächtige Stürme begleiteten dieses Drillingsbeben. Als wäre Susanoo, der aus dem Himmel verbannte Bruder der Sonnengöttin, Gottheit des Windes und des Meeres, in Zorn geraten, brachen Taifune vom Meer her über das gebeutelte Land herein. Die Erdstöße hatten gerade die Häuser eingerissen, schon setzten Flutwellen in Vierteln am Wasser und Gerölllawinen in Hanglagen die Zerstörung fort. Die Feuerherde, die besonders in den armen Stadtvierteln ausgebrochen waren, wurden durch die Stürme angefacht. In die brennenden Holzhäuser der einfachen Leute fuhren die Sturmböen hinein und verteilten das Feuer. Von einem Häuserblock zum nächsten sprang es, bald standen ganze Straßenzüge in Flammen. Feuerzungen durchschossen Häuserfronten, eine Fassade nach der anderen stürzte ein. Selbst aus kleinen Brandherden wurden berstende und umherwandernde Feuerwände, die auffraßen, was sich ihnen in den Weg stellte. Selbst wenn die Löschwege funktioniert hätten, wäre es der Feuerwehr nicht möglich gewesen, hunderte Brände gleichzeitig zu löschen. Doch durch das Beben waren zudem die Wasserleitungen unterbrochen worden. Nichts konnte gegen die Ausbreitung des Feuers unternommen werden. Binnen weniger Stunden brannten ganz Yokohama sowie große Gebiete Kawasakis und Tôkyôs nieder.

In den frühen Nachmittagsstunden, während weitere Nachbeben den Boden erschütterten, bauten sich in der Gluthitze im Osten der Stadt erste Feuertornados auf. Sie schraubten sich dutzende Meter in die Luft und wirbelten um die eigene Achse. In rasender Geschwindigkeit bewegten sie sich über das Häusermeer hinweg. Wo Gebäude den Erdstößen getrotzt hatten, waren bald nur mehr Gluthaufen übrig. Zehntausende Menschen starben in diesen Feuerwalzen. Nichts, niemand konnte sich ihnen in den Weg stellen. Was brennen konnte, brannte nieder. Wer laufen konnte, lief um sein Leben.

In vielen Teilen der Stadt aber fanden die Menschen keinen Ausweg, wohin sie laufen hätten können. Besonders in Honjô und in Fukagawa kesselten Feuersbrünste die Bewohner von allen Seiten her ein. Die Infernos waren so heiß, dass selbst weit entfernte Möbelstücke, die aus Wohnungen gerettet worden waren, sich auf offener Straße entzündeten. Kleider, die die Menschen am Körper trugen, gingen in Flammen auf. Nackt versuchten Männer, Frauen und Kinder offene Plätze, Parks oder Gewässer zu erreichen, um sich zu retten. Viele von ihnen verbrannten oder erstickten, wurden zertrampelt, von herabfallenden Trümmern erschlagen oder von Geröll begraben. Oder sie ertranken wie dutzende Geishas, die in einem Teich in Yoshiwara Schutz gesucht hatten. Die Ufer des Teichs standen in Flammen und hielten die eingekesselten Frauen im von Minute zu Minute heißer werdenden Wasser ausweglos gefangen. Keine Einzige von ihnen konnte gerettet werden.

Alle Menschen in Japan waren von dieser Katastrophe betroffen. Von einem Wimpernschlag auf den nächsten war der Boden unter unser aller Füßen aufgerissen. Ein Einschnitt zog sich durch das gesamte Land, veränderte alles, jede und jeden. Alles, was am Tag zuvor noch gegolten hatte, musste nun unter neuen Umständen wieder zusammengesetzt werden. Das Kantô-Beben war mehr als bloß die alles ergreifende Vernichtung. Es war nicht nur sinnlose Auslöschung. So entsetzlich sich dieser erste Septembertag gestaltete, er markierte einen Wendepunkt. Jahrelang war die Geheimpolizei damit überfordert gewesen, den Aufruhr der Taishô-Zeit unter Kontrolle zu halten. Nun eilte uns die Natur zu Hilfe. Die Grabenkämpfe, die so verbissen geführt worden waren, all die Aktionen und Reaktionen, sie wurden mit einem Schlag vom Boden verschluckt. Die Hauptstadt fiel in sich zusammen. Nun konnte man sie neu aufrichten und alles richtigstellen, was sich falsch entwickelt hatte.

Sobald die Gewalt ausgestanden sein würde, die Tôkyô augenblicklich niederzwang, würde die Armee mit dem Aufräumen beginnen. Das Volk würde wieder demütig sein. Auf Jahre hinaus würde es sich mit dem Wiederaufbau beschäftigen müssen. Die Menschen hatten Wichtigeres zu tun, als sich mit neumodischen Gesellschaftstheorien zu befassen. Die Gegenwart war ihnen entrissen worden. Nun durfte die Zukunft nichts Unbekanntes, Abstraktes, Ungewisses sein, sondern musste jener heilen Welt entsprechen, die aus früheren Epochen in Erinnerung war. Unter dem Eindruck der Zerstörung musste sich Japan wieder auf seine alten, etablierten Werte besinnen. Stabilität wurde jetzt gebraucht, kein fragwürdiges Abenteuer, kein neuerliches Umstürzen. Den linken Volksverführern war ab sofort die Möglichkeit genommen, mit den Hoffnungen der Menschen zu spielen. Dem Staat war die Möglichkeit gegeben, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Niemand würde die Muße haben, Ôsugi zuzuhören. An seinen vagen Zukunftsvisionen bestand nicht länger Bedarf, sie hatten mit dem Beben alle Bedeutung verloren. Es würde niemandem auffallen, sollte sich Ôsugi von nun an nicht mehr zu Wort melden. Das Erdbeben ließ die Menschen ihn vergessen. Vielleicht lag er ohnehin tot unter den Trümmern? Seine Zeit war vorüber. Die Probleme, die er und andere dem Staat bereitet hatten, mit dem großen Zusammenbruch und der darauf folgenden Säuberung konnte Japan sie endlich überwinden.

Kurz nach Mittag erhielt ich den Anruf in Kanazawa. Ich sollte auf schnellstem Weg nach Tôkyô kommen, wo mir in einem vom Beben weitgehend verschont gebliebenen Vorort eine Wohnung bereitgestellt wurde. Noch während meiner Anreise wurde eine Polizeitruppe zusammengestellt, die unter meinem Kommando im Bezirk Shibuya für Ordnung sorgen sollte. Ich befand mich damit in direkter Nachbarschaft zu jenem Stadtteil, in dem Ôsugis Wohnung lag. Verhältnismäßig wenige Häuser wären in dieser Gegend zusammengebrochen, wurde mir berichtet, und auch könnten die Feuer dort in Zaum gehalten werden.

Ôsugi würde sich, sofern er noch lebte, zu Hause mit seiner Familie vor den anstehenden Polizeieinsätzen verstecken, mutmaßte ich. Selbst wenn er dort in Sicherheit war, ich würde eine Möglichkeit finden, ihn zu stellen. Als Hauptoffizier der Armeepolizei genoss ich viele Befugnisse. Es lag in meinem persönlichen Ermessen, welche Mittel anzuwenden wären, um das Chaos einzugrenzen. Über die gesamte Region war der Ausnahmezustand verhängt und binnen weniger Stunden die kaiserliche Armee mobilisiert worden. Ohne eine Minute zu verlieren, wurde der Generalstab einberufen. Die Minister des Kabinetts setzten sich zusammen. Sie fassten einstimmige Beschlüsse. Kurze und prägnante Befehle wurden vom Heeresministerium aus an die verschiedenen Kommando-Abteilungen weitergegeben. Die Stabsoffiziere und Truppenoffiziere gingen in ihren Einsatzgebieten ans Werk. Alle Räder liefen ineinander. Alle wussten auf einmal, was zu tun war. Die Welt lag in Schutt und Asche, innerhalb der Heeresführung aber herrschte unmissverständliche Klarheit. Wie kläglich wir das in den vergangenen Jahren vermisst hatten! Weder Widerspruch noch Zweifel gab es, nur Einigkeit und Kraft. Vorbei, die Schwammigkeit der Taishô-Zeit. Jetzt endlich wurde alles geradegerückt!

Ich schlüpfte in meine schwarzen Lederstiefel und strich die Lampassen meiner Offiziershose glatt. Den obersten Messingknopf meiner Uniform knöpfte ich zu. Das Offizierskäppi zog ich fest in die Stirn. Kurz prüfte ich, dass der Stehkragen meiner Jacke keine Falten warf und meine Nickelbrille gerade saß. Dann schritt ich durch die Haustür hinaus in die Kampfzone. Der Polizeiwagen wartete bereits unten vor dem Bürogebäude.

Noch am Abend traf ich mit den mir unterstellten Polizisten und Soldaten zusammen. Der Himmel war nicht von der untergehenden Sonne, sondern von hunderten am Horizont lodernden Feuern rot gefärbt. Ein schwelender Lärm umgab uns, als hätte die Erde noch immer nicht genug gewütet.

»Soldaten!«, rief ich meiner Truppe zu. »Noch nie hat uns das Vaterland dringender gebraucht als jetzt!«

Die Worte entsprachen der Wahrheit. Die Hauptstadt war angegriffen worden, und ich stand mit meinen Männern an vorderster Front. Kein Warten, Nachfragen, Zögern wurde geduldet. Furchtlos rückten die kaiserlichen Armeeverbände ins Stadtgebiet vor. Noch während alles unternommen wurde, um die Brände im Osten unter Kontrolle zu bringen, errichteten Soldaten im Rest der Stadt bereits Straßensperren und trieben die obdachlos gewordenen Einwohner — fast zwei Millionen würden es am Ende sein — in Notunterkünften zusammen. Noch brannte die halbe Stadt, noch wurde die Erde von Nachbeben erschüttert, da wurde bereits mit der Neuordnung begonnen. Japan machte einen Satz in ein neues Zeitalter. Die Spielregeln hatten sich geändert. Die demokratischen Hirngespinste, die das Land geschwächt hatten, waren ausgeträumt. Mit der Zerstörung war die Autorität des Staates wiederauferstanden. Japan hatte zu sich gefunden. Ein Zaudern wie das des Taishô-Kaisers spielte von nun an nicht mehr die geringste Rolle.

Das Erdbeben war so mächtig gewesen, dass sogar Yoshihito, der außer von seinem Innenleben kaum mehr von etwas Notiz nahm, den Einschnitt bemerkt hatte. Der Kaiser hatte, wie üblich, wenn er sich vormittags zum Dichten ins Schreibzimmer des Palastes zurückzog, zur Unglückszeit an seinem Tisch gesessen. Er hatte gespürt, wie das Papier unter seinem Pinsel plötzlich erzitterte und das Tintenfass wackelte. Yoshihito hielt inne und blickte gebannt zum Blumenarrangement. Die kunstfertig, in frühherbstlichen Farben und Spielarten zusammengestellten Zweige hatten der Erschütterung standgehalten. Nur ein paar Blätter waren aus ihrer Ordnung gerutscht. Sie würden später neu komponiert werden müssen. Ansonsten schien im Palast nichts zu Bruch gegangen zu sein. Als sich die Erde nach den beiden direkten Nachbeben fürs Erste beruhigte, wandte sich Yoshihito wieder seinem Schaffen zu.

Auch wenn der Kaiserpalast keine nennenswerten Schäden davongetragen hatte, Yoshihito hatte ein Stimmungswandel ergriffen. Er überpinselte und änderte das Gedicht, an dem er gearbeitet hatte. Statt über die golden rostigen Farben des Herbstlichtes zu reimen, wie er es vorgehabt hatte, wollte sich Yoshihito an nächtlich dunklen Versen versuchen. Denn auch wenn es mitten am Tag war, es fühlte sich an, als wäre die Nacht hereingebrochen. Intuitiv entschied Yoshihito, nicht weiter über die ewigen Farbzyklen des Lebens zu schreiben, sondern sich der bodenlosen Tiefe zu widmen, die zu gleichen Teilen unter allen Erdbewohnern lag, unter den kriechenden wie unter den auf Sänften getragenen.

Doch Yoshihitos Bemühungen trugen keine Früchte. Statt erfüllender Poesie machten sich in seinem Kopf nur die altbekannten rasenden Schmerzen bemerkbar. Bald folterten sie Yoshihito dermaßen, dass er, statt weiterzuschreiben, versuchte, sich mit dem Pinsel ein Loch in die Schläfe zu bohren, um den Druck zu verringern, der ihm den Schädel zu zerreißen drohte. Er verzerrte das Gesicht zu einer Fratze, er riss seinen Mund, so weit es ging, auf. Vielleicht konnte er durch Gähnen einen Druckausgleich erzwingen?

Vollkommen entkräftet ließ sich Yoshihito eine halbe Stunde später, während draußen, in unerreichbarer Ferne für ihn, ganze Viertel aus dem Stadtplan radiert wurden, von zwei Dienern ins Schlafgemach geleiten. Mit glasigen, hervorquellenden Augen, schwer atmend verfolgte er, wie das Personal die papierenen Schiebewände hinter ihm zuschob, um seinen Raum zu beruhigen. Die äußeren Glasfenster, die sein Gemach umgaben, wurden mit Gardinen verdunkelt, um Yoshihito vor der Außenwelt zu schützen.

Es half nichts. Auch am folgenden Tag lag Yoshihito schmerzbetäubt auf seinem Bett. Ein Diener hatte in der Ecke des Zimmers Position bezogen. Draußen in der vernichteten Welt hatte das Militär die Führung des Landes übernommen. Hunderte Feuer wüteten auf der Kantô-Ebene, Yoshihito aber wusste nur um das Bersten seines Schädels. Der reglos stehende, schweigende Diener wirkte wie eine verschwommene Silhouette. Er hatte die ganze Nacht dagestanden, und auch tagsüber wich dieser Mann oder einer, der ihn ersetzte, nicht von der Stelle.

Behutsam wurde die Tür aufgeschoben. Sadako erschien. Yoshihito freute sich, seine Ehefrau zu sehen. Er liebte sie unverändert, aber es war, als liebte er eine Erinnerung, ein Abbild dessen, was vor langer Zeit gewesen war und nicht mehr sein durfte. In den elf Jahren seit seiner Inthronisierung waren Sadako und er auf Abstand voneinander gehalten worden. Sie war seine Frau, aber sie stand nicht auf derselben Ebene, sie war keine direkte Nachfahrin der Sonnengöttin Amaterasu.

Inzwischen wusste Yoshihito nicht länger, ob er sich die Nähe und Fürsorge nur einbildete, die er weiterhin zwischen den wenigen Worten zu erkennen meinte, die Sadako in offizieller Manier mit ihm wechselte.

»Ich liebe dich, Sadako, über alles!«

Wie gerne hätte Yoshihito ihr das gesagt. Doch ein gottgleicher Kaiser konnte das nicht sagen. Es wäre ein Frevel seiner selbst. Sadako lag außer Reichweite — wie alles für Yoshihito, seit er auf dem Thron saß. Auf halbem Weg zwischen Erde und Himmel war er gestrandet, vollkommen allein in seinem Kaisersein.

Nun aber hatte sich Sadako neben sein Bett gesetzt. Ihre Hände achteten darauf, die seinen nicht zu berühren, trotzdem saß sie bei ihm wie eine Mutter an der Seite ihres fiebernden Kindes.

»Ein schreckliches Erdbeben hat sich in der Stadt ereignet«, sagte sie flüsternd, als könnte der zurückgehaltene Ton den Schrecken des Gesagten mindern.

Yoshihito nickte, beinahe unmerklich. Statt etwas zu sagen oder zu verstehen, wovon Sadako tatsächlich sprach, wollte er einfach ihre Nähe spüren, nur das, nicht mehr, um ihr so lange wie möglich nachspüren zu können, wenn Sadako ihn wieder alleinlassen würde.

»Unzählige Häuser brennen. Unzählige Menschen sind gestorben. Japan ist nicht mehr dasselbe.«

Yoshihito wollte nichts darüber hören. Es fügte ihm körperliche Schmerzen zu.

Sadako verstand und redete nicht weiter. Still blieb sie am Bett des Kaisers sitzen.

»Chin ist müde«, gab Yoshihito nach einer Weile von sich. »Chin ist sehr, sehr müde.«

»Heika wird sich bald erholen«, sagte Sadako.

Nachdem sie gegangen und Yoshihito wieder allein mit der Silhouette des Dieners in seinem Zimmer zurückgeblieben war, erhob er sich langsam von seiner Liegestätte und begann, schlurfende Kreise durch das Zimmer zu ziehen. Nachdem er ein drittes Mal an dem starren Diener vorbeigegangen war, ließ er sich mitten im Raum auf dem Boden nieder und überkreuzte die Beine.

Die Tatamimatten unter seinem Gesäß fühlten sich angenehm an. Sie waren biegsam und boten dennoch genügend Festigkeit und Halt. Yoshihito entschied, so lange sitzen zu bleiben, bis er ein neuerliches Beben der Erde vernehmen würde. Am Tag zuvor im Schreibzimmer hatte er die Erschütterung deutlich gespürt. Ein Beben, das stark genug war, so viele Häuser niederzubrennen und Menschen sterben zu lassen, würde noch tagelang von Nachbeben begleitet werden. Unzählige Häuser. Unzählige Menschen. Das hatte Sadako gesagt.

»So viel Leid«, murmelte Yoshihito.

Vielleicht verstand der Diener diese Worte des Kaisers? Er ließ sich nichts anmerken.

Yoshihito gab nichts weiter von sich. Stumm starrte er die zugezogenen Schiebewände an, die ihn umringten. Ob er durch das Holzfaserpapier hindurch Rauchschwaden erkennen könnte, wenn sie den Himmel über dem Kaiserpalast schwärzten?

Eine Stunde später saß Yoshihito nach wie vor in sich zusammengesunken auf dem Boden. Sein mittlerweile 22-jähriger Sohn Hirohito erschien, der bereits die meisten Regierungsgeschäfte übernommen hatte. Er kniete sich in strammer Haltung neben Yoshihito und legte ihm ein Dokument zur Unterzeichnung vor, das einige Beschlüsse des Ministerrats bestätigte. Yoshihito setzte seine Signatur unter die ungelesenen Paragrafen. Mit trüben Augen blickte er zu seinem Sohn hoch.

»Die armen Leute …«, stammelte Yoshihito. »Wir müssen ihnen helfen.«

»Ja, das müssen wir. Das werden wir«, sagte sein Sohn. »Heika muss sich keine Sorgen machen.«

Er nahm das Papier aus den Händen des Kaisers, richtete sich auf, verbeugte sich kurz und verschwand.

»Die armen Leute …«, wiederholte Yoshihito, nachdem sein Sohn gegangen war, wie ein Echo des Gesprochenen flüsterte er es zum regungslosen Diener hinüber.

Der gab keine Antwort, konnte nicht, durfte nicht. Stumm blieben er und die Welt. Nichts war zu hören, weder die Schritte des sich entfernenden Hirohito noch das Schreien und Tosen der niedergehenden Stadt.

»Stumme Luft …« Yoshihito entschied, diesem Sprachbild nachzuspüren, das unversehens durch seinen Kopf wehte. Es könnte sich gut für den Beginn eines Gedichtes eignen …

Plötzlich hörte Yoshihito ganz deutlich das Pochen seines Herzens und nahm zur Kenntnis, wie es sich verlangsamte und beschleunigte, je nachdem, wie schnell er die Luft einsog und aus seinem Körper austreten ließ. Kühl war diese Luft, wenn sie seinen Rachen entlang hinunterfuhr, und ein wenig erwärmt, wenn er sie ausatmete. Beinahe schon ist der Herbst gekommen, kam Yoshihito in den Sinn. Er fasste neuen Mut.

»Ich werde ein Haiku zum Wechsel der Jahreszeiten verfassen, der sich dieses Jahr ja so früh zu vollziehen scheint«, sagte er zu seinem Diener.

Nur, ob er es noch am selben Nachmittag oder eher erst am kommenden Morgen in Angriff nehmen sollte, das konnte der Kaiser lange nicht entscheiden.

24 Stunden nach dem ersten Erdstoß saß der neue Ministerpräsident im Amt. Als am 24. August der alte verstorben war, hatten das Ober- und das Unterhaus des Parlaments eine Woche lang ohne Ergebnis darüber beraten, wer ihn ersetzen sollte. Nun hatte die Erde gebebt, und von einem Tag auf den anderen bestellte die Regierung einen Nachfolger: den nationalkonservativen Admiral Yamamoto. Es gab keine einzige Gegenstimme. Eine Gegenstimme wäre als die Stimme eines Verräters gewertet worden. Alle Abgeordneten waren sich einig. Admiral Yamamoto war das Regierungsoberhaupt, das Japan jetzt benötigte. Er hatte die Kraft, gegen alle Widrigkeiten anzukämpfen. Er war ein Mann des Militärs. Nie wich er von seiner klaren Linie ab, niemals ging er Kompromisse ein. Mit Hilfe der Armee würde Yamamoto das Land durch diese schwere Zeit führen.

Offiziell bedurfte es der Zustimmung des Kaisers, um den neuen Präsidenten im Amt zu bestätigen. Yoshihito wurde die Personalentscheidung mitgeteilt. Er unterschrieb das Blatt, das ihm vorgelegt wurde, und verlor kein Wort darüber. Das war inzwischen immer so. Wurde Yoshihitos Einverständnis verfassungsrechtlich benötigt, nickte er es ab. Bei Sitzungen, bei denen er anwesend sein musste, hörte er nicht hin, was geredet wurde, sondern wartete still darauf, bis die Zeit abgelaufen war. Mit den Gedanken war Yoshihito in seinem Schreibzimmer, seinem Exil. Dort hatte er das Gedicht begonnen, das er sich vorgenommen hatte. Sobald seine Anwesenheit nicht mehr erforderlich sein würde, würde er sich zurückziehen und weiterschreiben.

Der Herbstwind schlägt den Regen ans Fenster, las Yoshihito später im Schreibzimmer die erste Zeile Korrektur. Klang es anders herum nicht harmonischer? Der Herbstwind schlägt ans Fenster den Regen. Oder etwa gar: Ans Fenster schlägt der Herbstwind den Regen?

Yoshihito entschied sich für die erste Variante. Er flüsterte die Worte vor sich hin. Etliche Male formte Yoshihito die entsprechenden Schriftzeichen mit dem Pinsel in der Luft, bevor er sie zu Papier brachte.

Ja. So gefiel es ihm am besten.

Die Einsamkeit sickert in mich hinein, setzte er darunter.

Und als dritte und letzte Verszeile: Der Winter naht.

Ein seltenes Glücksgefühl überkam Yoshihito, eine Zufriedenheit, sogar Stolz, als er das fertige Gedicht vor sich liegen sah. Dieses Waka war gelungen. Yoshihito würde es in den kommenden Tagen mehrfach prüfen und neu und schöner niederschreiben. Vorerst aber konnte er den Pinsel zur Seite legen und die Augen schließen.

Auch nachts, als die Brände in der Stadt noch immer nicht unter Kontrolle gebracht waren und Yoshihito, unendlich weit davon entfernt, auf seinem Bett lag, sinnierte er mit Befriedigung dieser Lyrik nach. Dieses war das beste Waka, das er je geschrieben hatte. Davon war Yoshihito überzeugt. Diesen Versen war wahrlich nichts hinzuzufügen.

Danach dichtete Yoshihito nie wieder. Mit diesem letzten Waka war alles gesagt. Drei Jahre später verfasste der Kaiser nicht einmal ein Todesgedicht, denn mit diesen Verszeilen über den Herbstwind, die Einsamkeit und den Winter hatte er es bereits getan. Die Tatsache, dass zwischen der Fertigstellung seines Todes-Wakas und seinem tatsächlichen Tod drei Jahre vergingen, war sinnbildlich für Yoshihito.

Nur einen letzten Text verfasste er noch. Monatelang dauerte es, bis er fertig war und freigegeben wurde. Erst am 10. November 1923 wurde seine Rede zur Lage der Nation in den Zeitungen abgedruckt.

An mein Volk:

Das Erdbeben hat uns erschüttert und verängstigt. Die Verluste sind groß. Der Wiederaufbau unserer Kultur und unseres Landes hängt nun an der Moral des gesamten Volkes. Unabhängig von gesellschaftlichem Rang oder Stellung müssen wir uns gegenseitig helfen. Ich werde mit eurer Hilfe und zu euren Gunsten über Japan herrschen. Ihr sollt euch aber bitte auch bemühen.

Ich war verwundert über Yoshihitos Zeilen, als sie veröffentlicht wurden. Nicht der Inhalt, aber die Worte, die er wählte, erstaunten mich. Er hatte nun, dachte ich im Stillen, trotz aller Schwierigkeiten seine eigene Sprache gefunden.

In der Folge hörte ich nichts mehr vom Taishô-Kaiser. Mit diesen Sätzen zum großen Kantô-Beben ging seine Zeit zu Ende. Drei Jahre lang harrte er zwar noch aus, versteckt vor den Augen der Bevölkerung, in seiner verdunkelten Welt voller Schmerzen, in göttlicher Einsamkeit gefangen. Doch Japan hatte er und Japan hatte ihn verlassen. Im benachbarten Trakt des kaiserlichen Palasts machte sich sein Sohn Hirohito dazu bereit, mit dem nahenden Tod seines Vaters den Chrysanthementhron zu besteigen.

Ich selbst war in diesem November, als Yoshihitos Erdbebenrede veröffentlicht wurde, bereits ins Abseits gedrängt und wurde ebenfalls vor den Augen der Bevölkerung versteckt gehalten. Die Zeitung mit Yoshihitos letzter Rede las ich hinter Gittern. Ich weiß noch, wie überrascht ich war, dass man ihn noch einmal zu Wort kommen hatte lassen. Doch all das ging mich nichts mehr an.

Am liebsten würde ich die Ereignisse überspringen, die in den Tagen und Wochen auf das große Beben folgten. Dieser September 1923. So schrecklich und verheißungsvoll zugleich er begann. Tôkyô lag am Boden, musste neu erschaffen, durfte neu erschaffen werden. Nicht nur wir sahen eine Chance in dieser Zerstörung. Ôsugi hatte sich womöglich die Zerschlagung des Staates, die, seiner Meinung nach, dem Aufbau eines neuen Systems voranzugehen hatte, so ähnlich vorgestellt. Oft genug hatte er darüber theoretisiert, wie alles niedergebrannt werden müsste, um den Boden für die neue Gesellschaft zu bereiten.

Mit wie viel altem Trödel ist aufzuräumen! Muss nicht alles umgestaltet werden, die Häuser, die Städte, die gewerblichen und landwirtschaftlichen Betriebe, kurz, die ganzen Einrichtungen der Gesellschaft?

Nun hat dieser Zusammenbruch stattgefunden. Die Einrichtungen der Gesellschaft liegen unter Schutt und Asche begraben. Das Tôkyôter Polizeipräsidium liegt in Trümmern, der Asphalt ist aufgerissen, Zugbrücken sind eingebrochen, ganze Stadtviertel ausgelöscht. In weiten Teilen der Kantô-Ebene gibt es keinen elektrischen Strom, keine Telefonleitungen, kein Trinkwasser. Noch immer glimmen die Feuer und hängen Rußwolken tief am Himmel. Der Zeitpunkt einer Neugestaltung ist gewiss gekommen. Doch es ist die Zeit des Militärs, nicht jene der Anarchie, die anbricht. Die kaiserliche Armee hat wieder zu einer straffen Organisation gefunden. Sie kommt den verstreuten Sozialisten zuvor, die voneinander isoliert in verschiedenen Ruinen der Stadt nichts tun können außer auszuharren. Jetzt erobert die Kempeitai die Stadt zurück. Armeepolizisten und Soldaten sichern jeden Straßenzug, selbst wenn er nichts als ein verkohlter Trümmerhaufen ist.

In den Tagen und Wochen nach dem Beben patrouilliert das Militär durch alle Viertel Tôkyôs. Werden amtsbekannte Sozialisten, Anarchisten, Syndikalisten auf offener Straße erwischt, werden sie in Gewahrsam genommen, besonders wenn sie sich nicht in schützender Begleitung Familienangehöriger oder anderer Zeugen befinden. Die Unterwanderung der öffentlichen Ordnung wird ihnen vorgeworfen, das reicht aus, um sie zu inhaftieren. Die Männer werden in Zellen gesperrt, die manche von ihnen nicht lebendig verlassen. Wer unter Anklage der Kempeitai steht, besitzt keine Rechte. Es geht um die Aufrechterhaltung der Ordnung, diesem Ziel ist alles untergeordnet, es rechtfertigt jedes Mittel.

Die von den Naturgewalten eingeschüchterte Stadtbevölkerung erkennt das neu gewonnene Kraftgefüge an. Niemand fühlt sich alleingelassen in seiner Verzweiflung, niemand fragt nach, was mit den Festgenommenen geschieht, niemand wagt es nachzufragen. Die Zeiten, in denen das System in Frage gestellt wurde, sind vorbei. Es wird einen Grund haben, wenn dieser oder jener Mann weggesperrt wird.

Die Sozialisten begreifen ihre Situation und werden jetzt kleinlaut und ängstlich. Kaum trauen sie sich, ihre Wohnungen oder die ihrer Familien oder Freunde zu verlassen, wo sie Unterschlupf gefunden haben. Im Zuge der Aufräumarbeiten verschwinden die Aufrührer von der Bildfläche, einer nach dem anderen. Die Armee übernimmt die vernichtete Stadt und setzt sie nach altbewährten Mustern neu zusammen. Staatsfeinde und unberechenbare Randgruppen können nicht länger toleriert werden, sie gefährden den Zusammenhalt der Gesellschaft. Ein jeder hat sehen können, wohin das umstürzlerische Treiben führte. Unsere Heimat wurde ins Chaos gedrängt, nicht bloß wegen der Naturkatastrophe. Schuld trugen vor allen Dingen die unterminierenden Kräfte, die das Land seit Jahren schwächten. Es war kein Kunststück, dies nach außen zu kommunizieren. Die verängstigte Bevölkerung musste nur darauf hingewiesen werden, wer die Sündenböcke waren.

Es dauerte nicht lang, da ging in der Stadt das Gerücht um, dass Sozialisten und Anarchisten absichtlich die Feuer schürten, um Japan niederzubrennen. Auf Leichenbergen und Trümmerhaufen wollten sie ihre Diktatur errichten. Von vornherein wäre das ihr Plan gewesen. Jeder einzelne Bürger war aufgerufen, dieses Treiben zu unterbinden. Die Kempeitai fand unter den zahllosen aufgebrachten Menschen, die durch das Beben auf einen Schlag alles verloren hatten, jede Menge zivile Mitstreiter. Der eine wollte einen Sozialisten gesehen haben, der ein Feuer anfachte. Der andere hatte beobachtet, wie ein Sozialist Benzin verschüttete, um einen Brand zu einem noch unversehrten Nachbarhaus zu ziehen. Brennende Häuserblocks gingen auf das Konto dieser Terroristen, und ebenso war man überzeugt davon, dass sie mit Sprengstoff noch intakte Brücken zum Einsturz brachten und mutwillig Löschfahrzeuge sabotierten. Bald zogen selbsternannte Wachtrupps nächtens durch die Straßen und griffen jeden auf, der sich verdächtig benahm. Sozialisten, die man seit Jahren aus der Nachbarschaft kannte, wurden angepöbelt und auf offener Straße verprügelt. »Ihr Schweine!«, brüllte man sie an. »Ihr miesen roten Dreckschweine!«

Noch einfacher waren die ethnischen Minderheiten zu beschuldigen, insbesondere die Koreaner und Chinesen, die sich in Japan angesiedelt hatten. Schon lange waren sie mit Misstrauen beobachtet geworden. Es erschien logisch, dass diese nach Knoblauch riechenden Ausländer mit den Sozialisten gemeinsame Sache machten. Auf das Erdbeben waren die Flutwellen, Stürme und Feuer gefolgt. Nun folgten die Pogrome.

Schon in der zweiten Nacht nach dem Beben wurde der erste Koreaner scheinbar dabei ertappt, wie er ein beschädigtes und leer stehendes Haus plünderte. Er hätte aus der Misere einer japanischen Familie Nutzen ziehen wollen. Aus anderen Gegenden wurde Ähnliches berichtet. Immer öfter wurden Koreaner mit möglichem Diebsgut aufgegriffen. Es hieß, die Häuser, die sie plünderten, steckten sie danach in Brand, um ihre Spuren zu verwischen. Auch sagte man, die Sozialisten, die sich mittlerweile nicht mehr frei bewegen konnten, bezahlten die Koreaner und ihre roten Brüder aus China dafür, dass sie Feuer legten und Einrichtungen zerstörten, die vom Beben verschont geblieben waren. Ein wüster Hass griff in dieser ersten Septemberwoche nicht nur in Tôkyô um sich, sondern im ganzen Land.

Gleichzeitig kam auch die Erde nicht zur Ruhe. Jeden Tag verunsicherten dutzende Nachbeben die Bevölkerung. Einige waren so stark, dass sie Häuser, die bislang nur leicht beschädigt gewesen waren, zum Einsturz brachten. Die Schuld wurde wieder den Koreanern zugeschoben, die man inzwischen als »Futei-Senjin«, als Aufsässige, Widerspenstige bezeichnete. Sie hatten die Bausubstanz geschwächt, Bretter angesägt, Ziegelsteine herausgeschlagen. Sie strebten danach, japanische Häuser zum Einsturz zu bringen!

Jeder Mensch, der nur annähernd koreanisch oder chinesisch aussah oder einen derartigen Akzent hatte, musste in der Folge um sein Leben bangen, sobald er sich vor die Haustür wagte. Manche Koreaner wurden sogar aus ihren Wohnungen gezerrt und auf offener Straße wie Hunde totgeschlagen. Zivilkorps formierten sich und veranstalteten Hetzjagden auf Ausländer. Koreanische und chinesische Männer, die als billige Arbeitskräfte in unser Land gekommen waren und von vornherein keine Rechte hatten, wurden nun an den Pranger gestellt. Dass sie meist alleinstehend waren, erleichterte die Sache, denn an Frauen und Kindern hätte man sich nicht vergangen. Diese Schwelle wurde selbst in jenen barbarischen Tagen nicht überschritten.

Ohne Familie waren die aufgegriffenen Männer schutzlos. Man ließ sie die japanische Nationalhymne singen oder forderte sie auf, »fünfzehn Yen und fünfzig Sen« auszusprechen. Kaum ein Koreaner konnte diese Wörter richtig artikulieren, außerdem war es für Ausländer nahezu unmöglich, alle Strophen der Hymne fehlerlos wiederzugeben. »Eure Herrschaft währe tausend Generationen, achttausend Generationen, bis ein Steinchen zum Felsen wird, auf dem das Moos sprießt«, weiter kamen Koreaner meist nicht. Sie waren bloßgestellt. Verheerende Anschuldigungen wurden gegen sie vorgebracht. Ehe sie sich rechtfertigen oder entschuldigen konnten, wurden sie bespuckt und mit Steinen beworfen. Wehrten sie sich oder versuchten sie zu fliehen, ging die Meute mit Schlagstöcken und Hämmern auf sie los. Auch Schusswaffen wurden eingesetzt. Manch ein Koreaner wurde gefesselt und bei lebendigem Leib verbrannt. »Da seht ihr, was eure Feuer anrichten!«, wurde ihm in den Tod hinein zugeschrien.

Als gegen Ende der ersten Septemberwoche das Gerücht in Umlauf kam, dass die Koreaner unsere Brunnen vergifteten, indem sie mutwillig Leichenteile ins Trinkwasser warfen oder giftige Substanzen verwendeten, die ihnen die Anarchisten verschafften, artete das Morden in noch fanatischere Hetze aus. Allerorts wurden Ausländer gejagt, gestellt, umgebracht. Die Lynchjustiz entwickelte eine solche Eigendynamik, dass der Generalstab der Armee begann, sich Sorgen um die Sicherheit zu machen. Innerhalb einer Woche wurden sechstausend ermordete Koreaner und Chinesen gezählt. Der Staat musste eingreifen, bevor die Situation weiter eskalierte.

In der Folge gab die Regierung Anweisung, die blutrünstigen Racheakte zu beenden. Verdächtige Koreaner sollten den Streitkräften der Polizei übergeben werden, nicht niedergemetzelt. Wichtiger, als vermeintlich Schuldige abzuschlachten, wäre es, den Aufbau der Städte so schnell wie möglich voranzutreiben. Japan wäre mächtig und stark, ungebrochen seine Kraft. Selbst eine ungeheuerliche Katastrophe wie dieses Beben könnte unser Land nicht in den Untergang stoßen, erklärte Ministerpräsident Yamamoto. Im Gegenteil, noch stärker würde es uns letztlich machen! Vereinzelte Gruppen mochten zwar danach trachten, die Situation zu ihren Gunsten auszunutzen, aber das würde ihnen nicht gelingen. Dem Staat, nicht der zivilen Bevölkerung, würde es obliegen, gegen derartige Gruppen vorzugehen. Yamamoto versicherte allen aufgebrachten Bürgern, dass jeder einzelne Bandit, der aus dem Leid des japanischen Volkes Profit zu schlagen gedachte, von den Einsatzkräften mit letzter Konsequenz gejagt und mit aller Härte bestraft werden würde. Er persönlich gab hierfür sein Wort.

Eines der über vierhundert Nachbeben schüttelte ein paar Sekunden lang den Radioapparat auf meinem Küchentisch, über den ich die Ansprache des Ministerpräsidenten mitverfolgte. Knapp zwei Wochen waren seit dem Beben vergangen, immer noch hatte sich die Erde nicht beruhigt.

Die Rede des Ministerpräsidenten erfüllte mich mit Stolz. Er sprach von der Stärke, an der Japan durch dieses Beben gewinnen würde, und ich war mir des Beitrags bewusst, den ich leistete. Ich fühlte mich persönlich angesprochen und angespornt. Statt Erschöpfung und Betroffenheit herrschten in mir Tatendrang und große Zuversicht.

Zur Monatsmitte waren fast alle namhaften Staatsfeinde außer Gefecht gesetzt. Sozialisten wie Hitoshi Yamakawa oder Toshihiko Sakai saßen in Gefängniszellen, weil ihnen vorgeworfen wurde, sie hätten Koreaner aufgewiegelt. Einige ihrer Genossen waren zu Tode gekommen, andere hielten sich versteckt und fürchteten, beim kleinsten Anlass zur Rechenschaft gezogen zu werden. Manche hatten es geschafft, sich ins Ausland abzusetzen. Sie würden lange nicht mehr wagen, in ihr Heimatland zurückzukehren. Doch Ôsugi und Itô befanden sich weiterhin auf freiem Fuß. Erst wenn auch sie ausgeschaltet waren, konnte ich mit meiner Beförderung zum Stabsoffizier oder Generalmajor rechnen.

Ôsugi verließ die Wohnung in Shinjuku so gut wie nie. Mit seiner Frau, der Hausgehilfin, den drei Töchtern und dem neugeborenen Nesutoru hatte er sich dort eingebunkert, als wäre es eine weitere Gefängniszelle, in der er Haftzeit abzusitzen hatte. Ôsugis politisches Netzwerk war abgeschnitten, und er wusste, dass er sich in Lebensgefahr brachte, sobald er sich ungeschützt ins Freie bewegte. Also blieb er daheim und vertrieb sich die Zeit mit seinen Übersetzungen des Insektenforschers Fabre.

Erst ab der zweiten Woche nach dem Beben begab sich Ôsugi hin und wieder auf die Straße, jedoch stets im Beisein seiner Töchter, während Itô mit dem Baby daheim wartete. Die Kinder waren Itôs und seine Schutzschilder. Ich konnte Ôsugi nicht verhaften, wenn Mako, Ema oder Luisu ihn an der Hand hielten. Ich konnte den Vater nicht den weinenden Kindern entreißen. So etwas war unvorstellbar.

Am 16. September aber, einem Sonntag, meinte Ôsugi wohl, dass sich die Lage weit genug entspannt hätte. Vielleicht hatte er meinen Willen, meine Ausdauer unterschätzt? Ich musste aber auch davon ausgehen, dass es sich um eine neue Finte Ôsugis handelte, mit der er uns hintergehen wollte, also blieb ich skeptisch, als ich davon hörte, was vor sich ging, und reagierte nicht so schnell, wie ich gekonnt hätte. Während die Hausgehilfin mit allen vier Kindern in der Wohnung blieb, machten sich Itô und Ôsugi vormittags auf den Weg nach Kawasaki, wo seine jüngere Schwester Ayame, die ihn wie einen Vater verehrte, und deren Ehemann Sôsaburô Tachibana wohnten. Dieser hatte lang im Ausland gelebt und war als Restaurantbesitzer in Los Angeles zu Reichtum gekommen. Der inzwischen sechsjährige Sohn des Paares, Munekazu Tachibana, war in den Vereinigten Staaten auf die Welt gekommen und besaß einen amerikanischen Pass.

Es ist bitter, dass uns dieses Detail seiner Staatsbürgerschaft nicht bekannt war. Erst nach Munekazus Ableben wurden wir darauf aufmerksam. Da war es bereits zu spät. Die amerikanische Botschaft hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Nachforschungen eingeleitet, und es ließ sich nicht mehr verhindern, dass herauskam, was mit Ôsugis Neffen geschehen war. Munekazu Tachibana — ein Name, den ich nie zuvor gehört hatte —, er zerstörte letztendlich alles. Alles wurde zunichtegemacht. Alles.

Wir positionierten uns, nach einigem Abwägen, vor Ôsugis Wohnung in Shinjuku und erwarteten die Rückkehr des Paares.

Gegen 17 Uhr erschienen Ôsugi und Itô, jedoch nicht allein. In ihrer Mitte befand sich dieser Junge, ein großgewachsener, schlacksiger Kerl. Vom Aussehen her hätte man ihn für Ôsugis Sohn halten und ihn rein körperlich älter einschätzen können, als er tatsächlich war. Doch er benahm sich wie ein kleines, müdes Kind. Er lümmelte, Ôsugi an der linken und Itô an der rechten Hand, zwischen den beiden Erwachsenen herum. Vielleicht hatte Ôsugi ihm Anweisung gegeben, sich möglichst kindlich zu verhalten, um Unschuld auszustrahlen?

Kurz blickte mich mein Kollege, Unteroffizier Mori, dieser dienstbeflissene Mann, der am Fahrersitz des Polizeiwagens saß, fragend an. Ich überlegte einige Sekunden. Dann sagte ich, ohne die Miene zu verziehen: »Yoshi

Ich drückte damit mehr als nur »Ja« oder »Gut« aus. Ich stellte klar, dass unsere Operation in jedem Fall durchgeführt werden würde, auch wenn dieser mir unbekannte Junge nun anwesend war. Er war fremd, er war alt genug, er sollte uns nicht aufhalten. Ich entschied aus einer Unrast heraus.

Mori nickte. Wir stiegen aus dem Fahrzeug und stellten uns den dreien in den Weg.

»Ich muss Sie bitten, mir ins Präsidium zu folgen«, sagte ich zu Ôsugi.

Er zeigte sich nicht sonderlich überrascht. Ob er diese Gelassenheit nur mimte oder sich durch die Begleitung des Jungen tatsächlich in Sicherheit wähnte, konnte ich nicht einschätzen.

Itô sprach kein Wort.

»Bitte g-gestatten Sie mir, meine Frau und das Kind noch kurz hinauf zu unserer Wohnung zu begleiten. Ich werde unverzüglich allein wieder zu Ihnen herunterkommen und Ihren Anweisungen folgen«, sagte er, fast ohne zu stottern, als hätte er die Sätze eingeübt.

Ich wusste, dass es gelogen war. Selbstverständlich würde sich Ôsugi in der Wohnung im Kreis seiner Familie verschanzen und unseren Plan vereiteln.

»Ich muss Sie bitten, sofort mitzukommen«, sagte ich und hob die Stimme ein wenig. »Bitte steigen Sie unverzüglich in unseren Wagen, Sie, Ihre Frau … ebenso das Kind.«

Damit hatte Ôsugi nicht gerechnet.

Mori versperrte ihm den Weg zum Haus und legte die Hand auf den Schlagstock, der ihm von der Hüfte hing.

»Was h-haben wir d-denn verbrochen? Was wird uns zur Last gelegt, wenn ich f-fragen darf?«, sagte Ôsugi, jetzt merklich aufgeregter.

»Fragen dürfen Sie später. Auf dem Polizeipräsidium wird man all Ihre Fragen beantworten. Ich selbst habe nur Befehl, Sie dorthin zu bringen«, log ich, um mir weitere Erklärungen zu ersparen.

Ich wusste, welch hartnäckige Diskurse Ôsugi trotz seines Stotterns zu führen pflegte. Heimlich blickte ich mich um, ob in den umliegenden Häusern Bewohner auf uns aufmerksam geworden waren oder sich Passanten in Sichtweite befanden. Doch alles war ruhig, die Straße wie ausgestorben.

Nach kurzem Überlegen lenkte Ôsugi ein. Wohl wegen des Kindes schien er keine allzu großen Bedenken zu haben.

»Wir müssen hier noch k-kurz mitfahren«, sagte er zu Munekazu, den Itô und er weiterhin fest an den Händen hielten. »Du warst noch n-nie auf einer Polizeiwache, oder? Du wirst sehen, d-das wird ein Spaß. Vielleicht bekommen wir d-d-dort auch etwas zu essen? Du hast sicher Hunger, stimmt’s?«

Munekazu nickte schüchtern.

Itô sprach weiterhin nicht. Mit misstrauischem, böswilligem Blick musterte sie mich und den stiernackigen Mori. Ihre Augen funkelten.

Ôsugi nickte ihr beschwichtigend zu.

»Wenn es d-d-denn sein muss, d-dann muss es sein«, sagte er. »Yoshi

Ohne Aufsehen zu erregen, nahmen die drei auf der Rückbank unseres Wagens Platz. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und behielt unsere Beute über den Rückspiegel im Blick. Mori versperrte die Türen von außen, setzte sich ans Steuer und fuhr los.

Während der Fahrt wurde kein Wort gewechselt, und auch, als wir die nicht weit entfernte Wachstation der Kempeitai erreichten, blieben alle stumm. Mori und ich konnten die drei Festgenommenen, ohne Gewalt oder Druck ausüben zu müssen, über den Parkplatz zum Eingang des Polizeigebäudes führen.

Der Junge legte allmählich seine Schüchternheit ab.

»Sieh nur, Onkel Sakae, dieses Haus hat beim Beben keinen einzigen Riss abbekommen«, sagte er.

»Das ist auch ein Haus der Armeepolizei«, antwortete Ôsugi. »D-da wird auf allergrößte Sicherheit geachtet.«

Er war darauf bedacht, wohl des Kindes zuliebe, Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen.

»Keinen einzigen Riss!«, wiederholte Munekazu.

Wir betraten das Gebäude. Wortlos grüßten mich ein paar Kollegen im Gang. Wir marschierten zum hinteren Trakt. Ôsugi, Itô und der Junge begleiteten uns anstandslos, wir mussten ihnen keine Handschellen anlegen.

Ich wies die drei in einen schummrigen, aber schönen Raum. Der Boden war mit Tatamimatten ausgelegt. Ein flacher Esstisch war aufgestellt.

»Tatsächlich können wir etwas zu essen anbieten«, sagte ich. »Die Küche hier ist hervorragend. Heute kann ich Tai empfehlen. Gegrillte rote Dorade mit Reis, sie schmeckt vorzüglich, ihr werdet sehen.«

»Oh ja!«, sagte Munekazu, mit einer ehrlich freudigen Erregung in seiner Stimme.

Seine Naivität erschütterte mich. Doch ich ließ mir nichts anmerken.

»Bitte setzt euch. Wir werden das Essen gleich servieren. Ihr habt Gelegenheit, in Ruhe zu essen, ohne unsere Anwesenheit. Danach werden wir wiederkommen, dann können wir uns unterhalten«, sagte ich.

Mori und ich verließen den Raum und ließen die drei allein zurück. Ein Wärter schloss die Tür von außen. Leise schob er den Sperrriegel in die Halterung. Kurz hielt ich inne, bevor ich in die Kantine ging, um dort einen Tee zu trinken. Durch das Guckloch warf ich einen heimlichen Blick auf die drei vor dem Tisch auf dem Boden knienden Häftlinge. Ôsugi wirkte in dieser Haltung fast doppelt so groß wie Itô. Sein Neffe zwischen ihnen, obwohl er für sein Alter großgewachsen war, kam mir wie eine Miniaturausgabe Ôsugis vor. Alles an dem Kind, die Nase, die Finger, der Brustkorb, die Ellbogen, fein und filigran, alles hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Körperbau des Onkels, der schützend danebensaß und darauf achtete, souverän zu wirken.

Plötzlich blickte Ôsugi auf und sah zur Tür hin. Er wusste, dass ich ihn beobachtete. Er hatte in seinem Leben genügend Erfahrung mit Gefängniszellen gesammelt. Ich nahm mein Auge schnell vom Türspion, zog die Verdeckung über den Schlitz und machte mich auf den Weg zur Kantine. Sollten die drei in Ruhe ihr Essen genießen können, wenigstens das.

Als sie in diesen Essraum geführt worden waren, musste Ôsugi klar geworden sein, dass er diesen Wachposten nicht lebendig verlassen würde. Ein letztes, gut zubereitetes Mahl, die rote Dorade mit hervorstehenden Augen, wurde nur denen zugestanden, die den Tod erwarteten. Itô war mit den Gefängnisritualen nicht vertraut, Ôsugi aber hatte — das war mir nicht entgangen — seinen Schritt für einen Moment verlangsamt, als er in dieses Zimmer geführt wurde. Ich meine, dass er ein wenig erbleichte, sobald er den flachen Esstisch erblickte. Er kannte dessen Bedeutung. Spätestens als ich ihnen die rote Dorade anbot, muss er verstanden haben. Nach außen hin gab sich Ôsugi unbeeindruckt, aber innerlich schloss er wohl mit seinem Leben ab. Ôsugi wusste: Sie waren uns ausgeliefert, jetzt gab es keinen Ausweg mehr. Höchstens für Munekazu. Das war die einzige Hoffnung, die Ôsugi blieb. Vielleicht würde sein Neffe diesen Tag überleben?

Wir gewährten ihnen eine halbe Stunde. Sie ließen kein Reiskorn übrig. Ich weiß noch, wie es mich erfreute, dass sie gut gegessen hatten. Ôsugi hatte das Henkersmahl zu schätzen gewusst. Wahrscheinlich hatten sie auch wirklich Hunger gehabt und sich für das, was bevorstand, stärken wollen.

Als ich das Esszimmer betrat, kam es mir vor, als wäre der Raum deutlich kühler geworden. Der schlanke Junge musste frieren, reglos wie er, Ôsugi und Itô am Boden saßen und der Dinge harrten, die auf sie zukamen. Dass er der Sohn von Ôsugis Schwester war, hatte ich mittlerweile erfahren. Diese Frau hatte Ôsugi bei seinen Aktionen, soweit es in ihren Möglichkeiten stand, stets bedingungslos unterstützt. Auch sie konnte durchaus den Putschisten zugeordnet werden.

»Es ist kalt hier drin«, sagte ich.

Unteroffizier Mori stand an meiner Seite. Hauptgefreiter Kamoshida sowie Obergefreiter Honda hatten mich nun ebenso begleitet. Und auch Wachtmeister Hirai hatte hinter uns den Raum betreten. Die Gefangenen sahen uns mit großen Augen an. Sie gaben kein Wort von sich und rührten sich nicht.

»Wir werden euch in Räume bringen, in denen es wärmer ist«, sagte ich.

Ôsugi war sich zweifelsohne darüber im Klaren, dass Festgenommene voneinander getrennt und einzeln verhört wurden. Er fixierte mich, als könnte er in meinen Augen sein Schicksal bestätigt sehen. Instinktiv wich ich dem Blick aus und wandte mich an den Jungen, der nicht wagte, mich direkt anzusehen, und stattdessen die schwarzen Lederstiefel von mir und meinen Kameraden betrachtete.

»Wir wollen uns einzeln mit den beiden Erwachsenen unterhalten, unter vier Augen, ganz in Ruhe«, sagte ich zu Munekazu.

Tatsächlich hatte ich noch keinen konkreten Plan gefasst, wie wir mit dem Kind verfahren sollten. Ich wollte es davon abhängig machen, wie die Verhöre Ôsugis und Itôs verliefen. Vielleicht ergab sich eine Möglichkeit, dass sie trotz allem die Zellen wieder verließen? Vielleicht entschieden sie sich zu kooperieren? Am Ende würden wir den Jungen vielleicht einfach nach Hause zu Ôsugis Schwester bringen können.

»Du, kleiner Mann, du wartest hier, bis unsere Gespräche beendet sind. Wachtmeister Hirai wird sich in der Zwischenzeit um dich kümmern.«

Ich sagte es freundlich, aber der Junge zeigte keine Reaktion. Als hätte er mich nicht gehört. Vielleicht hatte ihn Ôsugi während des Essens angewiesen, nicht mit mir zu sprechen.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?!«

Ich war selbst überrascht, mit welcher Ungeduld mir diese Worte entwichen. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, wie angespannt ich wirklich war.

Der Junge nickte kurz, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung.

»Wie ist dein Name?«, fragte ich, um sicherzugehen, wer er war.

Da er nicht antwortete, musste ich die Frage wiederholen.

»Wie dein Name ist, habe ich gefragt!«

»Munekazu Tachibana«, sagte er, so zaghaft, dass ich ihn kaum verstand.

»Lassen Sie das K-K-Kind aus dem Spiel. Er hat n-nichts damit zu tun«, mischte sich Ôsugi ein.

Ich versuchte, ihn einfach zu ignorieren, und redete weiter auf Munekazu ein.

»Wieso bist du mit den beiden Erwachsenen mitgekommen, hierher nach Shinjuku?«, fragte ich.

Es dauerte erneut eine Weile, bis er mir Antwort gab. Ich rang innerlich mit mir, um die Beherrschung nicht weiter zu verlieren.

»Ich … ich wollte Mako besuchen«, sagte Munekazu. »Mako und ich haben immer viel Spaß zusammen.«

»Aha …«

Nun war mir klar, dass er von Ôsugi auf das Gespräch vorbereitet worden war.

Plötzlich ergriff Itô, die bislang keinen Ton von sich gegeben hatte, ungefragt das Wort.

»Du musst ihm nicht antworten«, sagte sie zu Munekazu. »Du bist ein Kind. Du hast dir nichts zuschulden kommen lassen!«

»Was habt ihr euch denn zuschulden kommen lassen, Tante Noe?«, fragte der Junge zurück, als wäre es ein im Vorhinein auswendig gelernter Dialog.

»Nichts. Wir taten nichts, was gegen das Gesetz verstößt.«

Itô sprach diesen Satz überdeutlich aus. Sie wollte sichergehen, dass alle Anwesenden es verstanden. Obwohl sie den Jungen adressierte, schaute sie mich dabei an. Sie forderte mich vor den Augen der mir unterstellten Kameraden heraus. Sie versuchte, mich bloßzustellen. Ich wollte mich auf keinen Fall provozieren lassen und schluckte meine Wut hinunter.

»Hier ist vorerst genug geredet. Aufstehen!«, befahl ich ihr.

Da sie nicht reagierte, musste ich es wiederholen: »Aufstehen!«

Mein Befehl hallte von den kahlen Wänden des Essraums zurück. Hatte ich wirklich dermaßen geschrien?

»Stehen Sie auf, habe ich gesagt!«

»Es gibt nichts, was ich unter vier Augen mit Ihnen zu besprechen hätte«, sagte Itô, anstatt meiner Aufforderung nachzukommen. »Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen. Nur dass Sie ein Offizier der Kempeitai sind. Das erkenne ich, aber glauben Sie nicht, dass mir so etwas imponieren würde!«

»Itô …«, fuhr Ôsugi dazwischen.

Ich kämpfte damit, die Fassung zu wahren.

»Mein Name tut nichts zur Sache«, sagte ich.

Die Wut über das respektlose Benehmen dieser Bauerstochter wühlte mich auf. Itô hatte mich seit der Festnahme verstohlen studiert. Mein Ringen mit mir selbst musste für sie wie eine offene Wunde gewirkt haben, in die sie nun einstach.

»Sie wollen mir nicht einmal Ihren Namen verraten«, sagte sie. »Und behaupten dennoch, mit mir reden zu wollen.«

Ihre Worte waren messerscharf und voller Hass. Ich merkte, wie meine Hand zu zittern begann.

»Sie lügen uns ins Gesicht, obwohl nichts Sie dazu zwingt«, hörte ich Itô sagen. »Sie können mit uns machen, was Sie wollen. Wir sind Ihnen ausgeliefert. Und trotzdem wagen Sie nicht, ehrlich zu sein!«

»Itô …«

Ôsugi versuchte, sie zu mäßigen.

In diesem Moment schrie etwas aus mir heraus, und ich stampfte unkontrolliert mit dem Fuß auf den Boden.

»Ruhe! Ruhe! Verdam…«

Im selben Atemzug bereute ich, wie unbeherrscht ich war. Ich offenbarte Schwäche, Unentschlossenheit, ja Hilflosigkeit. Ein Hauptoffizier der Kempeitai musste sich stets unter Kontrolle haben. Er durfte nicht zulassen, dass ihm die Situation entglitt. Ich durfte mein Gesicht nicht verlieren, nicht vor Itô, nicht vor Ôsugi, vor allem nicht vor meinen Kameraden, die konsterniert, aber weiterhin schweigend an meiner Seite standen. Sie erkannten meine Unsicherheit. Ich hatte mich lächerlich gemacht. Vor allem Unteroffizier Mori, das spürte ich, war erpicht darauf, die Führung zu übernehmen. Er hätte diese Verhaftung von Anfang an zielstrebiger durchgeführt. Seit August saß mir Mori im Nacken. Von jedem noch so kleinen Moment der Schwäche, den ich erkennen ließ, wenn wir zusammen auf Patrouille waren, nahm er Notiz. Doch nach wie vor stand Mori, der ein ausgezeichneter Jûdô-Kämpfer war und dessen zerdrückte Ohren von unzähligen Zweikämpfen zeugten, die er ausgetragen hatte, einen Dienstgrad unter mir. Er würde nicht wagen, mir ins Wort zu fallen. Noch nicht.

»Sie sind Teil eines feigen und bösen Systems!«, sagte Itô, als hätte ich sie um ihre Meinung gefragt.

Sie hörte nicht auf, mich zu beleidigen.

»Sie selbst sind darin offensichtlich feige und böse geworden!«

Es musste ihr Plan gewesen sein, mich über eine Hemmschwelle zu stoßen. Mich weiter und weiter zu reizen, bis ich die Fassung verlor. Ich durfte ihr diesen Gefallen nicht tun. Noch nie hatte ich eine Frau geschlagen. Ich würde es niemals tun, vor allem nicht in Anwesenheit eines Kindes. Itô würde mich nicht so weit bringen.

»Wenn Sie nicht augenblicklich still sind, werden wir Ihnen Knebel und Fessel anlegen müssen!«, sagte ich.

»Itô! Es genügt«, zischte auch Ôsugi.

Itô aber knurrte nur wie ein Tier.

»Aufstehen!«, wies ich sie an. »Aufstehen, habe ich gesagt!«

Wie oft hatte ich meinen Befehl noch zu wiederholen, bevor ich handgreiflich werden musste? Wie lange würde ich mich noch von ihr provozieren lassen?

»Warum soll ich mir von diesem Mann Befehle erteilen lassen?«, fragte Itô Ôsugi laut und ungeniert, sodass wir alle, auch Mori, es hören mussten.

Meine Hand verkrampfte sich. Bevor ich mich endgültig verlor, wandte ich mich an Mori.

»Nehmen Sie sie in Gewahrsam und bringen Sie sie auf der Stelle ins Verhörzimmer«, befahl ich dem Unteroffizier.

»Hai!«, brüllte er, schlug die Hacken gegeneinander und schritt auf Itô zu, um sie vom Boden hochzuheben.

»Finger weg!«, fauchte Itô ihn an. »Ich kann allein aufstehen. Sie müssen mich nicht anfassen!«

Dann, endlich, erhob sie sich, widerwillig.

»Ich komme mit«, sagte Itô, mehr zu Ôsugi als zu Unteroffizier Mori. »Ich komme mit, mir bleibt ja keine Wahl.«

Danach sagte Itô nichts mehr. Mit nichts als einem stummen Blick verabschiedete sie sich von Ôsugi. Bis hierher hatte ihr gemeinsamer Lebensweg geführt, hierher und nicht weiter.

Mori gewährte ihr keinen Aufschub, anders als ich es vielleicht getan hätte, er geleitete Itô ohne weitere Verzögerung aus dem Raum hinaus. Einen Wachtmeister, der vor der Tür Stellung bezogen hatte, wies er an, ihm zur Seite zu gehen und sie zu begleiten. Die beiden Männer nahmen Itô in ihre Mitte, führten sie den langen Korridor hinunter und an dessen Ende die Treppe ein Stockwerk hinauf. Ihre Schritte hallten in die Sprachlosigkeit hinein, die zwischen uns Übriggebliebenen im Essraum entstand. Ôsugi, Munekazu, Kamoshida, Honda, Hirai und ich. Wir alle sagten eine Weile nichts. Unser Schweigen war eine Mischung aus Betroffenheit, Ohnmacht und gewiss auch Taktgefühl.

Doch dann, endlich, erkannte ich, wie mich dieses Mitgefühl schwächte. Es untergrub meine Moral. Nun, da sich keine Frau mehr unter uns befand, erwachte ich aus meiner laschen, wankelmütigen Dienstauffassung. Ich hielt mir vor Augen, wer ich wirklich war: Militäroffizier Masahiko Amakasu, ein hochrangiges Mitglied der Armeepolizei. Ich gehörte der kaiserlichen Armee Japans an. Es war mein Auftrag, ohne Rücksicht gegen Terroristen vorzugehen. Ich persönlich leitete den laufenden Einsatz, ich trug die Verantwortung. Es lag an mir, Ôsugi zur Rechenschaft zu ziehen. Das soldatische Pflichtbewusstsein, zu dem ich ausgebildet worden war, ergriff Besitz von mir, gerade noch rechtzeitig. Eine plötzliche Klarheit durchströmte mich, eine Schärfe. Den Staat zu schützen, ohne Skrupel, ohne Milde, das war meine Bestimmung. Ich spürte die Offiziersuniform auf meinem Körper. Die Verdienstabzeichen, Medaillen, Stecknadeln. Ich hatte mir diese Auszeichnungen verdient. Ich war ein Kempeitai. Und ich stand mitten im alles entscheidenden Einsatz.

»Aufstehen!«, schrie ich nun mit voller Kraft den noch immer am Boden sitzenden Ôsugi und Munekazu ins Gesicht.

Ich musste es kein zweites Mal wiederholen. Ôsugi verstand. Von jetzt an würde ich schnörkellose Befehle erteilen und keine Widerrede dulden. Ich wies Hauptgefreiten Kamoshida und Obergefreiten Honda an, Ôsugi abzuführen. Wachtmeister Hirai hatte bei Munekazu zu bleiben.

»Hai!«, riefen meine Untergebenen.

Ôsugi wehrte sich nicht. Dennoch hielt ich die Kameraden dazu an, ihn fest im Griff zu halten.

»Ich rate Ihnen, uns keine Probleme zu bereiten«, sagte ich zu Ôsugi.

Zwingender als je zuvor intonierte ich meine Worte.

Früher hatte ich in Ôsugi nicht nur den Dissidenten, sondern auch eine standhafte Persönlichkeit gesehen. Nun löste ich mich von solcher Achtung. Ôsugi hatte sich nicht für die Demütigungen entschuldigt, die ich von seiner respektlosen Frau über mich ergehen lassen musste. Auch hatte er mich die ganze Zeit über bewusst ignoriert. Seine Arroganz, diese Erhabenheit, mit der er aufgetreten war, all dies würde nun ein Ende haben. Ôsugis Schicksal lag in meinen Händen. Ich würde von nun an nicht den geringsten Zweifel an diesem Machtgefüge lassen. Vor Ôsugi stand jetzt ein anderer Hauptoffizier als noch vor wenigen Minuten, nicht länger ein unentschlossener Zauderer. Auch wenn ich fast einen Kopf kleiner als Ôsugi war, jetzt blickte ich auf ihn herab. Ôsugi war mein Gefangener. Ein Verschwörer, der danach trachtete, den Staat zu vernichten. Ein Mann, der aus dem Verkehr gezogen werden musste.

Nur kurz gestattete ich Ôsugi, sich von seinem Neffen zu verabschieden. Eine letzte Geste der Menschlichkeit, dem Kind zuliebe.

»Hab k-keine Angst«, sagte er und beugte sich zu Munekazu. »Wenn das hier überstanden ist, g-gehen wir so schnell wie möglich heim. Mako wird sich freuen, dich zu sehen.«

Das Gespräch der beiden ging mir nicht nahe. Ich tat, als hörte ich es nicht.

»Onkel Sakae!«, flehte der Junge.

»Sei t-t-tapfer jetzt, Munekazu! Tapfer wie ein Samurai.«

»Wie Nanshû Saigô, von dem du mir erzählt hast?«

»Ja, g-genau wie Nanshû Saigô. So tapfer kannst du sein. Ich weiß es. Vielleicht bist du sogar noch t-tapferer als er!«

»Schluss jetzt! Los!«, fuhr ich dazwischen. »Es ist genug!«

Ôsugi schaute Munekazu tief in die Augen und nickte ihm zu. Der Junge baute sich neben Wachtmeister Hirai wie eine Statue auf. Wohl kam er sich wie ein Samurai vor. Er meinte, jeden Schmerz, jede Folter durchstehen zu können, ohne auch nur eine Träne zu vergießen. Ein sechsjähriges Kind. Wie versteinert stand es im Essraum.

Wir ließen den Jungen in Hirais Obhut zurück.

»Bis später!«, warf Ôsugi ihm noch einmal zu.

Auch ich hätte unter diesen Umständen gelogen. Für Ôsugi würde es kein Später geben, das wusste er wie ich. An diesem Sonntag ging sein Leben zu Ende. Schon hallten seine Schritte wie zuvor Itôs im neonbeleuchteten Flur. Kamoshida und Honda, die ihn abführten, hielten sich dicht neben ihm. In kurzem Abstand folgte ich den dreien. Unmerklich zog ich mein leicht hinkendes Bein nach.

Ôsugis Verhörraum lag im dritten Stock des Hintergebäudes, zwei Etagen höher als der Raum, wo Itô festgehalten wurde. Es war eine beträchtliche Wegstrecke, die wir hinter uns zu bringen hatten. Ich hätte die Zeit, die wir schweigend durch die Polizeistation marschierten, dafür nutzen sollen, mich innerlich auf das Verhör vorzubereiten, das mir bevorstand. Stattdessen aber kam mir die Überlegung in den Sinn, welche Worte des Abschieds Ôsugi und Itô wohl unter normalen Umständen füreinander gefunden hätten? Auch ihre Todes-Haikus hätten mich interessiert. Was hätten sie wohl geschrieben, hätte man ihnen Gelegenheit dazu gegeben?

Ich verbot mir weitere Rührseligkeiten.

Ôsugi wiederum schien von einer alles durchdringenden Kälte ergriffen. Er schlüpfte in die Rolle des unbeugsamen Märtyrers. Spätestens als wir im dritten Stock ankamen, hatte Ôsugi sämtliche emotionalen Regungen abgelegt. Er bestand aus nichts mehr als Überzeugungen. Weder leiden noch irgendetwas fürchten oder irgendetwas einsehen würde er. Einen politischen Gefangenen führten wir in den Verhörraum, niemanden sonst, weder einen dem Tod ausgelieferten Familienvater noch einen ebensolchen Ehemann.

Es schien Ôsugi nichts auszumachen, dass er, sobald wir den Raum betraten und die schwere Eisentür hinter uns ins Schloss fiel, von meinen Kameraden brutal auf einen Stuhl gedrückt wurde. Seine Arme und Beine wurden mit Handschellen an Lehne und Stuhlbeine gebunden. Das Metall der Fesseln bohrte sich ins Fleisch. Es muss wehgetan haben, aber Ôsugi kannte nicht länger Schmerzen. Wie eine Maschine, die funktionieren würde, bis sie abschaltet wurde, saß er vor mir.

Sogar sein Stottern legte Ôsugi weitgehend ab. Er antwortete, wenn überhaupt, knapp und in einem überheblichen Ton auf meine Fragen. Er gab sich als Sieger. Nimm mir das Leben, drückte sein verachtungsvoller Blick aus, wenn er mich anstarrte, die Gesinnung kannst du mir nicht nehmen. Wohl dachte er an all die Heldenepen, die er als Jugendlicher in sich aufgesogen hatte.

»Ich habe keine Angst zu sterben«, betonte Ôsugi, dermaßen eng gefesselt, dass er bloß den Kopf bewegen konnte, links und rechts von Kamoshida und Honda bewacht.

Kamoshida drückte den Schlagstock so fest in Ôsugis Seite, dass es diesem Probleme bereiten musste zu atmen. Honda berührte den Gefangenen nicht, anscheinend ekelte er sich davor, er hielt sich jedoch ganz dicht neben ihm. Die beiden präsentierten Ôsugi wie die Trophäe eines Raubzugs. Ich umkreiste ihn mehrere Male, bevor ich zu reden begann.

»Welche Garantien können Sie uns geben, dass Sie die politische Arbeit nie wiederaufnehmen werden?«, fragte ich.

»Keine«, antwortete Ôsugi.

»Das ist schlecht. Schlecht für Sie.«

»Die Revolution lässt sich nicht aufhalten. Wenn Sie mich foltern und t-töten, es macht keinen Unterschied.«

»Spielen Sie hier nicht den Helden, Ôsugi!«

»Die anarchistische Revolution bedarf k-keiner Helden. Sie ist eine rein natürliche Entwicklung. Das System der Gewalt und Unterdrückung aber, dem Sie dienen, braucht solche Lügengeschichten, in denen ein Mann über einen anderen gestellt wird, bloß weil er einen Moment lang g-größere Macht besitzt als der andere.«

»Sie selbst haben doch gerade vorhin den Mut und die Stärke der Samurai erwähnt!«

»Ich habe mit meinem Neffen g-gesprochen, einem Kind.«

»Die Samurai ehrten den Kaiser bis in den Tod. Warum haben Sie ihm das nicht gesagt?«

»Auch der K-Kaiser ist bloß ein Mensch. Er besitzt mehr Privilegien als andere, aber das macht ihn zu nichts Besserem. Er ist ein Symbol, d-dessen Zeit abgelaufen ist, sonst nichts.«

»Sie beleidigen den Kaiser Japans!«

»Ich unterstehe dem Kaiser nicht. Im G-Gegensatz zu Ihnen habe ich nie geschworen, ihm blind zu dienen. Ich bin ein Mensch, k-kein Wachhund.«

Ohne Vorwarnung schlug ich Ôsugi mit der Faust direkt ins Gesicht. Es war nicht meine Absicht gewesen. Es geschah wie von selbst.

Ôsugi kniff die Augen zusammen, er gab jedoch keinen Laut von sich. Er ließ keinen Ausdruck des Protests oder der Verwunderung erkennen. Sein Kopf zitterte ein wenig, das war alles. Nach einer kurzen Pause redete er unumwunden weiter:

»Das Japan, in dem ich leben will, k-kommt ohne einen Kaiser und ohne menschenverachtende Militärs aus.«

Nun schlug ich vorsätzlich ein zweites Mal zu. Ein zweites und ein drittes Mal.

Ich war nicht menschenverachtend! Ich war kein Hund! Ôsugis Worte waren unverschämt. Kamoshida und Honda sahen mir still dabei zu, wie ich Ôsugi schlug. Sie verzogen keine Miene, sie rührten sich nicht von der Stelle.

Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, schmerzten die Knöchel meiner Finger. Ich schüttelte die Hand in der Luft, um sie zu lockern. Ôsugis Nasenbein könnte zu Bruch gegangen sein. Er blutete aus der Nase. Das Blut rann über Lippen und Kinn hinunter und tropfte auf seine Brust. Es hielt ihn aber nicht davon ab weiterzureden.

»Ihr wisst euch b-bloß mit roher Gewalt zu helfen. Ihr seid dumm geworden. Das System der Angst hat euch zu Idioten g-gemacht«, sagte Ôsugi.

Ich verstand kaum, was er von sich gab. Ich wollte ihn gar nicht verstehen, wollte nichts mehr von dem hören, was er sagte. Doch Ôsugi hörte nicht auf, mich zu beleidigen.

»Weil es euch braucht, dieses System«, sagte er. »D-d-denn ohne Idioten k-kann es nicht funktionieren.«

Nun konnte sich Obergefreiter Honda, der bislang reglos danebengestanden hatte, nicht länger beherrschen. Er trat nach vorne, hob das Bein und stieß mit voller Wucht den Absatz seines Stiefels in Ôsugis Schritt. Ôsugi schrie gellend auf und krümmte sich, soweit es seine Fesseln zuließen. Honda grinste gehässig. Dann brachte er sich erneut in Position.

Es war nicht vorsätzlich geplant gewesen, Ôsugi zu foltern. Doch eines kam zum anderen. Ich persönlich legte zwar kein weiteres Mal Hand an. Doch es fiel mir schwer, mich zurückzuhalten, denn Ôsugi antwortete schamlos und herausfordernd auf all meine Fragen. Er hörte nicht auf, den Kaiser, mich oder meine Kameraden zu beschimpfen. Die beiden Gefreiten wiesen Ôsugi mit Ohrfeigen und Tritten zurecht. Honda schlug ihm mit flacher Hand auf den Hinterkopf, Kamoshida benutzte auch seinen Schlagstock. Doch es brachte alles nichts. Ôsugi fuhr fort, seine Meinung von sich zu geben, dreist, respektlos drückte er sich aus, solange er reden konnte.

Ich zügelte die Kameraden nicht in ihren Gewaltausbrüchen. Ich hielt sie nicht zurück. In letzter Konsequenz, das war mir bewusst, ließ Ôsugi uns keine andere Wahl, als ihn zu töten. Wir konnten ihn schließlich nicht uneinsichtig, blutüberströmt und geschunden wieder auf den Straßen Shinjukus absetzen. Doch so eisern und unerschütterlich ich mich zu zeigen versuchte, in meinem Inneren hatte ich Mühe, mich mit der Situation abzufinden. Je mehr Ôsugi die Schläge meiner Kameraden herausforderte und seinen eigenen hässlichen Tod herbeiredete, desto mehr wuchs in mir von Neuem eine Bewunderung für seinen Mut und seine Standhaftigkeit heran. Als politische Figur musste Ôsugi eliminiert werden, das stand außer Frage, aber als Mann wollte ich ihn nicht unbedingt sterben sehen. Deshalb wies ich nach einer Weile, obwohl es mir Kamoshida und Honda gegenüber peinlich war, die Untergebenen an, die Schläge auszusetzen. Ôsugi war bereits kaum mehr in der Lage, einen Ton von sich zu geben.

»Haltet ein!«, befahl ich. »Haltet ein!«

Die Gefreiten gehorchten widerwillig. In korrekter Haltung bauten sie sich erneut neben Ôsugi auf. Schweigend und stramm standen sie da, als wäre nichts geschehen, und erwarteten weitere Anweisungen.

Auch Ôsugi schwieg jetzt. Doch ich konnte nicht davon ausgehen, dass er gebrochen war. Er hasste uns und das System, wofür wir standen, abgrundtief. Im Moment hatte er lediglich keine Kraft mehr, um zu sprechen und uns zu beleidigen. Er war der Bewusstlosigkeit nahe, schien mir. Ich überlegte, ob nicht trotz allem eine Möglichkeit bestand, Ôsugi unschädlich zu machen, ohne ihn zu töten. Es fiel mir schwer, in dieser ausgearteten Situation meine Gedanken zu ordnen. So sehr ich es versuchte, ich erinnerte mich nur daran, dass sogar wochenlange Einzelhaft Ôsugi nie beeindrucken hatte können. Vielleicht musste ich ihm mit Itôs Tod oder mit der Ermordung seines Neffen oder seiner Kinder drohen? Doch würde er mir eine solche Maßnahme überhaupt zutrauen? Sicherlich hatte Ôsugi längst durchschaut, dass ich für so etwas zu schwach gewesen wäre.

In dem engen Verhörraum, in dem seit unerträglichen Minuten nichts mehr als das Röcheln Ôsugis zu vernehmen war, stank es nach Schweiß, Blut und Hass. Ich benötigte dringend eine Pause und entschied, die Befragung zu unterbrechen. Ich wollte kurz vor die Tür an die frische Luft treten, um vielleicht auf einen neuen Gedanken zu kommen. Ich wies meine Untergebenen an, Ôsugi in der Zwischenzeit zu bewachen.

»Hai!«, antworteten die beiden wie aus einer Kehle.

Bevor ich den Raum verließ, beugte ich mich ein letztes Mal zu Ôsugi hinunter. Direkt hinein in seine halbgeschlossenen und leer gewordenen Augen starrte ich. Ôsugi hätte mir jetzt ins Gesicht spucken können, hätte er die Kraft dazu gehabt.

»Sie wissen, dass auf Hochverrat die Todesstrafe steht, Ôsugi.«

Leise und eindringlich sprach ich auf ihn ein.

»Wenn Sie Ihr Verhalten nicht augenblicklich ändern, sind Sie ein toter Mann.«

Ich verharrte in seinem Blickfeld und ließ die Worte sich setzen. Ich spürte, dass Ôsugi zu reagieren versuchte. Es dauerte aber einige Zeit, bis er genügend Energie aufbrachte, um zu antworten.

»Wir alle sch-sterben … früher oder später …«, gab er kaum hörbar von sich. »Auch ihr drei … werdet eines T-t-tages umg-gebracht.«

Ich konnte mir nicht sicher sein, ihn richtig verstanden zu haben. Zu geschwächt war Ôsugi. Er blutete aus Mund und Nase, er röchelte mehr, als er sprach.

»Zu b-beob-bachten … wie ein Mensch wie eine Blüte … fällt, ist f-faszinierend«, brachte er schließlich hervor — wenn ich es richtig deutete.

Dann verstummte Ôsugi. Sein rechtes Auge war angeschwollen, die Lippe aufgeplatzt, sogar aus seinem Ohr tropfte Blut. Ich konnte es nicht länger ertragen, diese entstellte Fratze sehen zu müssen. Kommentarlos richtete ich mich auf und schritt so schnell wie möglich aus dem Raum. Ich stahl mich aus der Verantwortung.