十一、

Shinkyô

Ich hätte gern die Chrysanthemen blühen gesehen, bevor ich gehe.

Dass mir gerade jetzt diese Zeile aus Nakahamas Abschiedsbrief einfällt!

In Shinkyô, fünfzehnhundert Kilometer nordwestlich von Tôkyô, blühen die Chrysanthemen spät und kurz, diesen Sommer besonders spät. Ich habe dieses Jahr noch keine Blüten entdeckt, obwohl bereits August ist. Ich bin 54 Jahre alt, und ich werde keine Chrysanthemen mehr blühen sehen. Ich sitze im Ledersessel in meinem Büro. Es ist nur eine Frage von Stunden, bis nach Hiroshima, Nagasaki oder Tôkyô auch Shinkyô untergehen wird, diese trostlose mandschurische Stadt, in der ich gelandet und von der ich nie wieder losgekommen bin. Vorletzte Woche hat auch die Sowjetunion Japan den Krieg erklärt, die Truppen der Roten Armee sind bereits im Anmarsch. Jetzt wäre der Zeitpunkt gekommen, diesen einen Satz Nakahamas zu Papier zu bringen, ihn als Wahrheit für mich niederzuschreiben. Ich würde wirklich gerne noch einmal die Chrysanthemen blühen sehen. Doch ich weigere mich, mich mit den Worten eines Kriminellen auszudrücken.

Nakahama war kein Dichter. Er war ein Fanatiker, ein Terrorist, ein unbedeutender Mann. Aus einem südlichen Fischerdorf war er in den Taishô-Jahren nach Tôkyô gekommen, um Chaos zu stiften. Er himmelte Ôsugi an, fühlte sich ihm bis in den Tod verbunden. Er eiferte Ôsugi nach, auch wenn dieser nichts von ihm wissen wollte. »Eiserner Verbündeter von der Küste« nannte er sich, immer tiefer stürzte er sich ins sinnlose Verbrechen. Wenige Wochen nach dem großen Erdbeben wurde Nakahama ins Gefängnis gesteckt. Zweieinhalb Jahre lang ließ man ihn dort noch am Leben.

Damit sollte alles gesagt sein, was ich über ihn zu sagen hätte. Ich hätte diesen Mann ebenso schnell wieder vergessen können, wie ich auf ihn aufmerksam geworden war. Er saß in der Todeszelle, ich in meiner Vorstadtwohnung. Dort schlug ich die Zeit nach meiner Suspendierung tot und wartete ab. Ich las von Nakahamas versuchtem Attentat in der Zeitung. Das war alles, wir bekamen uns nie zu Gesicht. Doch Jahre später, nach Nakahamas Hinrichtung, las ich seinen Brief, und er brannte sich in mein Gedächtnis ein. Es ist wie ein Fluch. Manche Sätze dieser Aufrührer blieben für immer mit mir verschmolzen. Ich bekämpfte diese Männer, ich gab mein Leben, um Japan vor ihnen zu schützen, und ohne es zu bemerken, nahm ich sie in mich auf. Sogar heute sucht mich diese Zeile über die blühenden Chrysanthemen wieder heim, die Nakahama Jahre nach Ôsugis Tod, Stunden vor seinem eigenen, geschrieben hat.

Als ich im Oktober 1923 von Nakahamas Verhaftung erfuhr, saß ich selber eingesperrt in dieser seelenlosen Wohnung fest. Unschädlich gemacht, auch ich. Der anarchistische Kampf dieses Fanatikers war nach einer misslungenen Aktion beendet, mein militärischer Dienst war es ebenso.

Der Polizeibeamte, der meinen Hausarrest überwachte, war in diesen Tagen der einzige Mensch, mit dem ich eine Art Beziehung pflegte — auch wenn unser Kontakt nicht über ein kurzes Sich-Vergewissern hinausging, dass der andere noch da war. Ich blickte in regelmäßigen Abständen aus dem Fenster und sah den auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkten Wagen mit dem Polizisten am Steuer, der meine im ersten Stock gelegene Wohnung und die Eingangstür des Hauses im Blick hielt. Selbstverständlich grüßte ich ihn nicht. Auch morgens, wenn er mir das Essen für den Tag zur Tür brachte, zollten wir einander nur mit einer kurzen Verbeugung Respekt. Eine direkte Kontaktaufnahme war uns untersagt. Ich tat den ganzen Tag so, als wäre er nicht da — und freute mich dennoch, dass wenigstens er da war. Auch er war sicherlich zufrieden, mich zu sehen, denn mich am Fenster zu erblicken bedeutete für ihn, dass ich weder verschwunden war, noch mir etwas angetan hatte. Der Geheimdienst benötigte mich weiterhin. Ich hatte nur am Leben zu bleiben, mehr wurde nicht verlangt. Dieses Ausgeschaltet-Sein verband mich mit Nakahama. Nur sollte er gehängt und ich am Leben gehalten werden. Er würde sterben, dumm und unwissend. Ich würde am Leben bleiben, wissend, schweigend. Als Nakahama das Attentat verübte, hätte er am besten mich erschießen sollen. Nakahama wollte Ôsugis Tod rächen. Doch leider kannte er den Verantwortlichen nicht. Nie bekam er Gelegenheit, mir gegenüberzutreten und zu sagen: »Sie werden für sein Leben büßen!« Nie bekam ich Gelegenheit, seine blutrünstigen, nach Rache schreienden Augen vor mir zu sehen und zu sagen: »Ja, es ist meine Schuld.« Nakahama starb am Galgen, ohne jemals meinen Namen gehört zu haben. Ich aber las seinen in der Zeitung. Und lebte weiter.

Shinkyô. Ich spreche den Namen, der dieser Stadt nach der Unterwerfung gegeben worden ist, heute mit Widerwillen aus. Japan hat sich die Mandschurei angeeignet, aber kein Japaner ging jemals freiwillig nach »Mandschukuo«, wie sie nun heißt. Vor der Besatzung hat die Stadt Changchun geheißen. Dann ist es Shinkyô geworden, unsere neue Hauptstadt im Norden, die, wie Tôkyô vom Osten her, über das stetig wachsende Reich strahlen sollte. Doch dieser Traum ist ausgeträumt. Mandschukuo ist gefallen. Wie Shinkyô keine Zukunft hat, habe auch ich keine. In der Hauptstadt eines Marionettenstaates war es mir bestimmt, in Vergessenheit zu geraten.

Vorgestern versuchte ich, schriftlich auszudrücken, wohin sich alles entwickelt hat.

Ich glaubte an die Unsterblichkeit Nippons, schrieb ich. Unsterblich waren unsere gottgleichen Kaiser. Doch nun hat Japan kapituliert. Kaiser Hirohito hat die Streitkräfte angewiesen, sich den Feinden zu unterwerfen. Der Kampf ist aussichtslos geworden. »Wir werden das Unerträgliche ertragen«, erklärte der Kaiser. Es war das erste Mal, dass er über das Radio seine Stimme an das ganze Volk, an hundert Millionen Japaner richtete. »Würden wir den Kampf fortsetzen«, sagte Hirohito, »würde die völlige Vernichtung unserer Nation die Folge sein.« Die Amerikaner haben Atombomben abgeworfen, letzte Woche ist die zweite in Nagasaki explodiert. Die Rote Armee rückt Shinkyô von Tag zu Tag näher. Bald werden nicht nur die Sowjets und Chinesen zurückfordern, was ihnen in früheren Kriegen abgerungen worden ist, auch die Amerikaner werden leichenfleddern. Die Göttlichkeit des japanischen Kaisers ist von ihm selbst in Frage gestellt.

Ich brach ab. Ich zerknüllte das Papier. Noch bevor die Tinte getrocknet war, warf ich das Blatt in den Papierkorb.

Seither habe ich nur noch einen Text geschrieben, gerade vorhin, mein Abschiedsgedicht. Lange habe ich hin und her überlegt. Ich dachte nach, darüber zu schreiben, wie selten in meinem Leben ich weinen konnte. Doch dazu fand ich keine passenden Worte. O-o-ba-ku-chi, kam mir hingegen in den Sinn: »Großes Spiel«. Das passte zu mir und zu Ôsugi und dem vergeblichen Kampf, den wir miteinander ausgetragen und miteinander verloren hatten. In der dritten und letzten Verszeile wollte ich beschreiben, wie ich mich seit dem Scheitern bis zum heutigen Tag fühlte. Es gelang mir, diesen Zustand mit einem Wort auszudrücken: »Nackt«. Su-tte-n-te-n. Dieser Ausdruck trug zwar nicht die klassischen fünf Silben in sich, aber er sollte mir gestattet sein. Das Bild, wie ich am Morgen nach Ôsugis Festnahme nackt und hässlich im Badezimmer meiner Wohnung stand, war zu treffend. Nur eine Zeile fehlte noch, nur noch die sieben letzten Silben dazwischen, um das Haiku zu vollenden. Wie selbstverständlich schrieben sie sich aus mir heraus.

Ôbakuchi,

migurumi nuide,

suttenten, schrieb ich auf das papierene Tuch.

Großes Spiel,

alles verloren

und ganz nackt.

Diese Zeilen passen zu mir. Sie haben nichts Schönes an sich, aber sie sind ehrlich. Ich konnte nie so schreiben wie Ôsugi. Seine Gedankenströme übertrugen sich in Schriftzeichen, die andere Menschen beflügelten. Meine, wann immer ich etwas niederschrieb, teilten sich niemandem mit. Auch dieses Haiku. Wer sollte es noch lesen? Wahrscheinlich wird es ein Soldat der Roten Armee zusammen mit meinen Überresten entsorgen. Es ist eigenartig, einerseits bin ich froh, hier nun ganz allein bei mir zu sein, andererseits würde ich gerne die Möglichkeit haben, so heldenhaft zu sterben wie Ôsugi.

Beinahe klinge ich wie Nakahama, der Ôsugi anhimmelte, bis er den Strick um den Hals trug und der Holzboden unter seinen Füßen aufklappte. Ôsugi erwiderte nie den Respekt, den Nakahama ihm uneingeschränkt entgegenbrachte. Er distanzierte sich von den planlosen Aktionen dieses Nacheiferers. Dennoch vergötterte ihn der »eiserne Verbündete von der Küste«. Nach dem großen Beben versteckte sich Nakahama wie alle Dissidenten in irgendwelchen staubigen Kellern und hoffte, weder von der Kempeitai noch den selbsternannten Wachtrupps aufgestöbert zu werden. Drei Wochen lang hielt er durch. Dann erfuhr er von Ôsugis Ermordung. Diese Nachricht verkraftete er nicht. Nakahama war 26 Jahre alt, Tôkyô lag in Trümmern und die Revolution noch viel mehr. Ohne Ôsugi, ohne diese Lichtgestalt, wurde Nakahamas Dasein sinnlos. Er hatte nur für Ôsugis Ideen gekämpft und keine eigenen gehabt. Nun war alles aus. Tagelang trauerte Nakahama um Ôsugi. Dann ballte er die Fäuste und schwor Rache.

»Museifu-Shugi Banzai!«, brummte Nakahama, ein Grollen in ihm wie jenes der Erde, sein Gesicht von fanatischem Hass gezeichnet. »Museifu-Shugi Banzai!«

Dutzende Male wiederholte er diesen Schlachtruf der Anarchisten.

»Zehntausend Jahre Anarchismus! Zehntausend Jahre Anarchismus!«

Nakahama brach auf und schritt zur Tat.

Er ging davon aus, dass Polizeigeneral Fukuda, der Leiter des Erdbeben-Kommandos, für Ôsugis Tod verantwortlich war. Er sollte mit seinem Leben dafür bezahlen. Nakahama besorgte sich eine Waffe und machte sich auf die Suche. Unermüdlich stellte er dem Polizeigeneral nach. Als er ihn endlich fand, wartete er noch eine Weile auf die passende Gelegenheit, um ihn direkt zu konfrontieren. Er nahm sich vor, dem General, bevor er ihn erschoss, ins Gesicht zu sagen, für welches Vergehen er ihn richtete.

Ende September war es so weit. Nichts ahnend tritt Fukuda aus dem Hintereingang des Polizeipräsidiums. Nakahama stellt sich ihm in den Weg und richtet die Waffe auf seine Stirn.

»Polizeigeneral Fukuda!«

Klar und deutlich spricht Nakahama die lange eingeübten Sätze.

»Ich bin hier, um Sakae Ôsugi zu rächen. Sie werden für seinen Tod büßen!«

Nach diesen Worten betätigt Nakahama den Abzug seiner Waffe. Doch als er abdrückt, versagt die Pistole. Ein jämmerliches Klicken ist alles, was aus der Blutrache wird. Nakahama probiert es noch einmal. Bevor er begreift, was geschieht, stürzen sich mehrere Polizisten auf ihn. Nakahama wird überwältigt, und auch zwei weitere Männer, die ihn begleitet haben, werden festgenommen. Ohne langen Prozess werden alle drei zum Tode verurteilt.

Nakahamas Ende war besiegelt. Doch man tat ihm nicht den Gefallen, ihn sofort sterben zu lassen. Seine Begleiter kamen mit diesem leichteren Los davon. Für sie wurden die Qualen, die ein Häftling im Todestrakt durchzustehen hat, kurz gehalten. Nakahama hingegen musste jahrelang in Ungewissheit weiterleben. Wann immer er sich nach dem Termin für die Exekution erkundigte, wurde ihm die gleiche Antwort gegeben: »Morgen vielleicht, oder nächste Woche, nächsten Monat vielleicht, oder nächstes Jahr, vielleicht auch später.«

Irgendwann hörte Nakahama auf zu fragen. Er gab das Reden mit Menschen gänzlich auf. Jedes Mal, wenn sich die Tür zu seiner Zelle öffnete, musste er davon ausgehen, dass der Moment seiner Hinrichtung gekommen war. Doch er fragte nicht mehr danach, er sah nicht einmal mehr hin, wer seine Zelle betrat. Nakahamas Dasein wurde ein Dahinsiechen, eine sinnlos gedehnte Zeit. Er äußerte sich kein einziges Mal mehr, an keinen Wärter, keinen Haftgenossen richtete er ein Wort. Besuche empfing Nakahama ohnehin nicht. Doch er begann sich wie Ôsugi, sein Idol, für die Botanik zu begeistern. Er ließ sich Fachbücher bringen, eines nach dem anderen. Hastig blätterte er sie durch, Tag für Tag, im Bewusstsein, jedes Kapitel, das er las, könnte das letzte sein, für das ihm Zeit blieb. Er verschlang die dicksten Enzyklopädien.

Unzählig viele Kapitel müssen es gewesen sein, die Nakahama studierte. Zweieinhalb Jahre lang saß er in der Todeszelle. Erst als er schon längst weder gestorben noch lebendig geblieben war, längst schon aufgegeben hatte, mit dem Tod zu rechnen, der ihm unentwegt im Nacken saß, wurde eines Tages seine Todesstrafe vollstreckt.

Im Frühjahr 1926, im selben Jahr, an dessen Ende auch der Taishô-Tennô sterben würde, verfasste Nakahama im Ichigaya-Gefängnis seinen Abschiedsbrief.

Ich überlasse euch die Abwicklung meiner verbliebenen Gegenstände.

Ich hätte gern die Chrysanthemen blühen gesehen, bevor ich gehe. Gerade im Moment habe ich eine große Ruhe in mir. Es ist schönes Wetter heute. Immerhin darf ich an so einem Morgen sterben, das freut mich sehr.

Ich empfinde weder Furcht noch Trauer — ein wenig merkwürdig ist es nur.

Leben, Tod, das ist wohl die Wahrheit.

Ich wünsche mir keine Beerdigung und bloß keine Feier. Alles soll möglichst bescheiden und ruhig vonstattengehen. Nur wünsche ich mir viele Blumen, hübsche kleine Wildblumen, wie sie auf den Feldern blühen. Arnika, Klatschmohn, Weidenröschen, Wiesensalbei, Glockenblumen, Margeriten, Natternköpfe, Akelei, Storchschnabel, Bocksbart, Vergissmeinnicht. Etwas in der Art.

Ich hätte gern noch mehr geschrieben, aber auf mich warten einige.

Nun, ich verabschiede mich, auf Wiedersehen.

Am Tag, nachdem der Abschiedsbrief abgegeben war, gewährte die Gefängnisführung Nakahama noch, ein kurzes Todesgedicht zu schreiben. Diese Ehre wurde jedem erwiesen, egal was für ein Verbrecher er war. Wann werden wir uns anlächeln, ihr Eltern, die ein trauriges Kind bekommen haben, etwas in der Art brachte Nakahama zu Papier. Wie gesagt, er war kein talentierter Dichter. Wenige Stunden nach seinen letzten Zeilen baumelte Tetsu Nakahama vom Galgen.

Im Herbst des Schicksalsjahres 1923 — Nakahama hatte bereits Polizeigeneral Fukuda gestellt, saß im Gefängnis und erwartete seine Exekution —, hatte auch ich auf der Anklagebank Platz zu nehmen. Nun wurde über mich, der ich die Morde an Ôsugi, Itô und Munekazu zu verantworten hatte, geurteilt. Alles kam an die Öffentlichkeit, es ließ sich nicht verhindern.

Ich ließ die mehrtägige Gerichtsverhandlung über mich ergehen und versuchte das, was gesagt wurde, so wenig wie möglich an mich heranzulassen. Ich hörte zu und nickte.

Teils deckten sich die Aussagen damit, wie ich die Vorgänge des »Amakasu-Zwischenfalls« selbst erlebt hatte, teils wurden sie in ein Licht gerückt, das meiner Empfindung widersprach. Doch ich äußerte mich nicht. Ich hatte mir geschworen, alles kommentarlos hinzunehmen. Sollte auch die gesamte Schuld auf mich abgeladen und ich als Einzeltäter und krankhafter Mörder verurteilt werden, ich würde es schweigend zur Kenntnis nehmen. Es diente einem übergeordneten Zweck. Ich diente einem übergeordneten Zweck. Die Polizeiführung war kompetent, sie wusste, was zu tun war. Was immer ich verbrochen hatte — bald wusste ich es selber nicht mehr so genau —, als Verantwortlicher trug ich die Konsequenzen.

Zwei Wochen nach ihrem Tod war unter großem öffentlichen Interesse die Asche von Ôsugi und Itô auf den Friedhöfen von Shizuoka und in Imashuku beigesetzt worden. Das große Erdbeben lag einen Monat zurück, in den Köpfen der Menschen war wieder Platz für ein Ereignis wie diesen Totenzug. Er eignete sich als Ablenkung von den eigentlichen Sorgen und Ängsten der Leute. Die Anteilnahme der Bevölkerung nahm keine bedrohlichen Ausmaße an, immerhin aber begleiteten ein paar Hundert Schaulustige die Zeremonien. Es war uns nicht gelungen, Ôsugis Tod geheim zu halten. Nicht nur politische Gesinnungsgenossen erwiesen ihm die letzte Ehre, auch das gemeine Volk interessierte sich für das Ereignis. Es gab sogar ein Gerangel mit nationalistischen Gruppierungen, denen es zwischenzeitlich gelang, Ôsugis Urne zu entwenden. Die offizielle Trauerfeier musste ohne seine tatsächlichen menschlichen Überreste stattfinden, erst einige Tage später wurden diese nachgeliefert. Die Unordnung, die Ôsugi zeit seines Lebens fasziniert hatte, blieb bis über seinen Tod hinaus an ihm haften. Und auch sein Strahlen in den Medien und in der Öffentlichkeit dauerte an.

Ich war nun offiziell der Gegenpol zu dieser Welle der Sympathie, die Ôsugi entgegenschlug. Er leuchtete unvermindert, sein Schatten legte sich über mich. Ich trug die Schuld an seinem Tod. Hauptoffzier Masahiko Amakasu, hieß es, war über seine Befugnisse hinausgegangen. Er hatte aus schändlichen, persönlichen Motiven gehandelt, aus einer Geltungssucht heraus. Ich nickte. Nicht nur war ich Ôsugis niederträchtiger Mörder, sondern auch der Mörder seiner Ehefrau und der Mörder seines unschuldigen Neffen.

In der Verhandlung wurde alles unternommen, um die Geschichte mit dem Jungen so klein wie möglich zu halten. Die Richter gaben ihr Bestes, die Aufmerksamkeit davon abzulenken. Doch selbstverständlich kam das Thema zur Sprache. Munekazus Familie und auch der amerikanische Konsul forderten Aufklärung. Sie verlangten nach einem Verantwortlichen.

Als die Umstände des Mordes an dem Kind auf die Tagesordnung kamen, konnte ich mich im Verhandlungssaal, sosehr ich es versuchte, kaum beherrschen.

»Ich wollte das nicht!«, platzte es aus mir heraus.

Ich hatte mir vorgenommen, mich auch zu diesem Thema höchstens mit einem Kopfnicken zu äußern, nun aber hatte ich mich weinerlich und mitgenommen von der eigenen Tat gezeigt. Ein weiteres Mal hatte ich bewiesen, wie wenig ich als Militär geeignet war.

Ich riss mich zusammen und entblößte mich nicht weiter. Den verächtlichen, angewiderten Blicken, die von den Zuschauerbänken auf mich gerichtet waren, hielt ich stand. Der Richter wandte sich an mich.

»Masahiko Amakasu, gestehen Sie, den Mord durch Strangulierung an Sakae Ôsugi begangen zu haben?«, fragte er.

»Hai

Ich hätte zu allem ja gesagt.

»Masahiko Amakasu, gestehen Sie, den Mord durch Strangulierung an Noe Itô begangen zu haben?«, fragte der Richter als Nächstes.

»Hai

Und schließlich:

»Masahiko Amakasu, gestehen Sie, den sechsjährigen Munekazu Tachibana, Sohn von Sôsaburô und Ayame Tachibana, erschossen zu haben?«

Ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, um eine Antwort zu geben. Ich konnte nicht sprechen. Erst nach einer Weile schaffte ich es, wenigstens mit dem Kopf zu nicken. Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal.

»Und Sie haben all dies aus freier, persönlicher Überzeugung heraus getan und weder im Auftrag der Regierung noch sonst einer Organisation gehandelt?«

»Hai

Der Gerichtshammer ging nieder. In der Urteilsverkündung wurde festgehalten, dass ich mein Geständnis aus freien Stücken, ohne Einwirkung von außen abgelegt hatte und tiefe Reue zeigte. Aus einer Kränkung heraus, aus Neid und Eifersucht, ohne politischen Hintergrund habe ich getötet.

Zwei Polizisten führten mich ab. Es herrschte entsetztes Schweigen, Fassungslosigkeit. Ekel und Abscheu blieben hinter mir im Saal zurück.

Ich kam mit zehn Jahren Gefängnis davon, die ich in der Chiba-Haftanstalt abzusitzen hatte. Auch Unteroffizier Mori wurde wegen Beihilfe zum Mord zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt. Doch noch bevor er sie antreten musste, wurde er auf Bewährung freigesetzt. Hauptgefreiter Kamoshida, Obergefreiter Honda und Wachtmeister Hirai wurden von jeglicher Mitschuld an den Morden freigesprochen. Sie verblieben im regulären Dienst der Kempeitai.

Die Gefängnistür fiel hinter mir ins Schloss. Zeit meines Lebens hatte ich Verbrechen bekämpfen wollen, jetzt war ich selber ein Verbrecher — wenigstens aber einer, der auf die Unterstützung von hochrangigen Führungskräften der Armee zählen konnte. So wie der Generalstab wusste, dass auf meine Loyalität Verlass war, so konnte ich auf das Wort des Generalleutnants vertrauen. Er hatte versprochen, dass ich nicht die volle Gefängnisstrafe absitzen müsste und in der Folge mit einer neuen Anstellung rechnen könnte. Ich verließ mich darauf. Es war der einzige Halt, den ich hatte.

Letztendlich hielt der Leutnant Wort. Doch meine neue Anstellung würde nicht das werden, was ich mir vorgestellt hatte, und zuerst musste ich in Chiba drei nicht enden wollende Jahre durchhalten.

Ôsugi war dazu in der Lage gewesen, solche Haftzeiten unbeschadet zu überstehen. Ich war es nicht. Er hatte meditiert, studiert, gelernt. Ich schaffte nichts dergleichen. All meine Schuld, Wut, Scham hatte ich ins Gefängnis mitgenommen, und dort erdrückte mich diese Last, die ich schulterte, von Tag zu Tag mehr. Das Personal behandelte mich nicht wie einen ehemaligen Armeeoffizier, sondern gab mir zu verstehen, dass ich nicht besser war als jeder andere Verbrecher, Mörder, Terrorist. Die meiste Zeit verbrachte ich in Einzelhaft, in der Gesellschaft von nichts als Wanzen, Kakerlaken, Spinnen oder Fliegen. Jeden Tag hatte ich das gleiche ungenießbare Essen hinunterzuwürgen, das mir vorgesetzt wurde und mich nicht satt machte. Ich zählte die Stunden, die sich in die Unendlichkeit zogen. Etwas Besseres mit mir anzufangen fiel mir nicht ein. Irgendwann machte ich zumindest von meinem Recht Gebrauch, mir Bücher zu bestellen. Vorwiegend waren es naturwissenschaftliche Werke, die ich zu lesen begann, astronomische, zoologische, anthropologische. Beinahe wollte ich mir schon entomologische Schriften kommen lassen, da wurde mir bewusst, dass ich mich wie Ôsugi verhielt und ihm, wie Nakahama es getan hatte, wie einem Vorbild nacheiferte. Selbstverständlich hielt die Gefängnisleitung protokollarisch fest, was die Insassen taten, sagten, lasen. Unablässig wurde unser Verhalten observiert und analysiert. Sicherlich war es bereits zur Armeeführung durchgedrungen, dass ich dieselben Interessen zeigte wie Ôsugi. Durch ein derartiges Verhalten gefährdete ich meine frühzeitige Entlassung. Schnell gab ich die Bücher zurück, auch wenn sie mich interessiert hätten, und forderte stattdessen Sammlungen traditioneller japanischer Gedichte oder Samurai-Biografien an. Ab sofort studierte ich althergebrachtes Kunsthandwerk oder historische Abhandlungen über das japanische Kaisertum, sogar die ethischen Diskurse des Konfuzius vermerkte ich auf meiner Wunschliste. Auch wenn ich nicht die Muße und Konzentration aufbringen konnte, mich tiefgehend mit solchem Wissen zu beschäftigen, so machte ich wenigstens einen besseren Eindruck auf die Gefängnisleitung und verbaute mir nicht sämtliche Zukunftschancen. Auf unbestimmte Zeit bestand meine Mitarbeit an der Aufrechterhaltung des Staates darin, als lebendiger Toter zu fungieren. Ich versuchte, mich damit abzufinden. Mein Tod hätte Verdacht erregt, und meine Teilnahme am Leben war unerwünscht. Ich musste leben, als wäre ich bereits gestorben. Ich musste verschwinden und trotzdem da sein.

Während ich in meinem Loch verschwand, veränderte sich draußen die Welt. Tôkyô erhob sich aus den Trümmern. Neu und besser als zuvor wurde es aufgerichtet. Nach der schrittweisen Übernahme des Militärs und des zukünftigen Kaisers Hirohito hatten subversive Bewegungen keine Chance mehr. Jeder einzelne Japaner war mit dem Wiederaufbau und der Erstarkung der Nation beschäftigt. Zweifel am System wurden als Schwächung der Moral gedeutet, nicht die leiseste Kritik wurde geduldet. Japan erholte sich von den Katastrophen, die es heimgesucht hatten. Bereits wenige Monate nach dem Kantô-Beben fragte niemand mehr danach, was geschehen war. Koreaner, Chinesen, Sozialisten waren zu Tode gekommen, ja, Ôsugi war gestorben, ja, aber abertausende unschuldige japanische Bürger waren ebenfalls in den verheerenden Feuern umgekommen. Nun durfte nicht nachgerechnet werden. Ein Strich wurde unter die Ereignisse gezogen, sie sollten nicht länger Erwähnung finden. Es gehörte sich nicht, sich weiter mit den Schrecken der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Stattdessen galt es, sich mit allem zur Verfügung Stehenden der Zukunft des Landes zu widmen.

In meiner Isolation bekam ich nicht mit, wie schnell auch der »Amakasu-Zwischenfall« in Vergessenheit geriet. Ich wurde aus der Erinnerung gelöscht. Ich war der Einzeltäter, der seine gerechte Strafe verbüßte. Auch Ôsugi war bald nur mehr eine historische Figur, die in früheren Zeiten den Staat bedroht hatte und gescheitert war. Seine Visionen einer anders gearteten Gesellschaft existierten nicht länger. Nur in mir, nur in der Gefängniszelle, in die ich gesperrt war, lebte er weiter. Ich sah Ôsugi auf der Pritsche sitzen. Ich sah Ôsugi an der Hofmauer lehnen. Sah, wie Ôsugi am Steinboden kniete, die dicken Bücher seiner Studien vor ihm ausgebreitet. Ich sehnte mich danach, mich mit ihm zu unterhalten. Doch kein einziges Mal blickte Ôsugi zu mir herüber.

Während ich hinter Gittern im Begriff war, meine Sinne zu verlieren, wurden außerhalb der Gefängnismauern die Fehler ausgebügelt, für die ich mich verantwortlich zeigte. Gegenüber der amerikanischen Botschaft drückte die Regierung in offiziellen Kondolenzschreiben Entschuldigungen und Beileid aus. Gleichzeitig wurde mit den letzten von Ôsugis verbliebenen Anhängern kurzer Prozess gemacht. Kyûtarô Wada etwa, ein ähnlich fanatischer Nacheiferer Ôsugis wie Nakahama, verschwand ebenfalls für immer hinter den Gefängnismauern. Sein Tod erregte nicht das geringste Aufsehen in der Bevölkerung. Ein weiteres Mitglied des Guillotinen-Bunds versuchte sogar, nachdem ich als Mörder galt und weggesperrt war, meinen jüngsten Bruder Gorô aus Rache zu töten. Gorô war achtzehn Jahre alt, er hatte nichts mit meiner Tat zu tun und sollte für sie büßen. Doch erneut handelte es sich nur um einen dilettantisch ausgeführten Anschlag, der sein Ziel verfehlte. Wenige Tage danach wurde der Attentäter hingerichtet. Eine neue Ära war angebrochen. Wer leben wollte, hatte sich im Sinne der Führung für den Neubeginn einzusetzen. Wer sich dagegen entschied, verlor die Daseinsberechtigung.

So energisch draußen die Welt in neu gewonnener Stärke wieder zusammengebaut wurde, so sehr höhlte mich mein Gefängnisaufenthalt aus. Spätestens ab dem zweiten Haftjahr resignierte ich. Hätte ich es geschafft, ein geeignetes Stück Mauerwerk von den Wänden zu kratzen, hätte ich versucht, mir damit die Adern aufzuschlitzen. Doch alles, was ich dafür verwenden hätte können, wurde von mir ferngehalten. Tag und Nacht befand ich mich unter Beobachtung. Die Wärter nahmen Notiz von allem, was ich tat, aber sie wechselten kein Wort mit mir, das über das Nötigste hinausging. Als ich das Gefühl hatte, dieses Dasein keinen Tag länger ertragen zu können, beschloss ich, ein paar persönliche Zeilen zu Papier zu bringen, von denen ich mir sicher sein konnte, dass sie der Armeeführung vorgelegt werden würden. Ich bin ein Verlierer des Lebens, schrieb ich. Ein schwacher, kranker Gefangener, eine verletzte Seele. Höchstens der Glaube an den japanischen Staat hält mich noch bei Sinnen. Ich erdulde, dass ich täglich Kot und Schleim wegzuputzen habe, selbst den Kot von Dieben. Ich erdulde, dass meine Häftlingsnummer mein Name geworden ist, erdulde, wie eisig die Nacht im Winter und wie unerträglich heiß der Innenhof im Sommer ist. Das Essen ist unter aller Würde. Nur der Umstand, wie ich mit Heißhunger diesen Fraß hinunterschlinge, ist eine noch größere Schande. Ich habe chronische Magenschmerzen. Alles tut mir weh. Bald werde ich nicht mehr dazu in der Lage sein, jemals etwas anderes zu tun, als sinnlos auf den Tod zu warten.

Der Generalstab sichtete meinen Text. Längst waren die Generäle über meine depressiven Verstimmungen informiert. Lange hatten sie nichts unternommen. Nach zweieinhalb Jahren aber konnten sie nicht länger mitansehen, wie ich auseinanderbrach. Endlich entschieden sie einzugreifen.

Im Frühjahr 1926 erhielt ich im Gefängnis einen Brief von Oberleutnant Takeshita, dass eine Verlobung mit Mine, der Tochter eines Armeeoffiziers, für mich arrangiert wäre. Sobald meine Haftstrafe abgesessen wäre — ich könnte darauf vertrauen, dass die Freilassung nicht mehr lange auf sich warten ließe —, könnte der Termin für die Hochzeit festgelegt werden. Mine könne mich gut leiden, schrieb Takeshita, und er könne sich gut daran erinnern, wie fröhlich wir beide vor Jahren bei den Geburtstagsfeierlichkeiten des Kaisers miteinander getanzt hätten. Bald werden Sie wieder ein glückliches Leben führen, Amakasu! Mit diesen Worten schloss er den Brief.

Mine! Mit ihr verheiratet zu werden klang wie eine Drohung. Ich hätte diesen Brief am liebsten zerrissen. Doch selbstverständlich konnte ich Takeshitas Angebot nicht ablehnen.Es lag außerhalb meiner Befugnis, Einspruch gegen eine Hochzeit einzulegen, die ein Vorgesetzter für mich arrangiert hatte. Dieser Vorschlag war als ausdrückliche Ehre zu verstehen, die mir erwiesen wurde.

Ich erinnerte mich an Mine, die ich bislang nur zu diesem einen Anlass, der kaiserlichen Geburtstagsfeier, getroffen hatte. An jenem Abend war sie mir von einem höheren Offizier vorgestellt worden, es hätte als respektlos gegolten, hätte ich mich nicht eine Weile mit ihr abgegeben. Ich hatte mir nicht über die Folgen bewusst sein können, die dieses Geplänkel nach sich ziehen würde.

Mine war Grundschullehrerin, und was sie mir aus ihrem kleinen Leben zu erzählen hatte, langweilte mich innerhalb weniger Minuten. Ich ließ ihre Ausführungen schweigend über mich ergehen, ab und zu nickte oder lächelte ich höflich, mehr nicht. Mine störte sich nicht daran und redete in einem fort. Sie sah aus wie ein Heilbutt, hatte einen breiten, schlaffen Mund, ihre Augen saßen weit auseinanderliegend auf einem großen runden Kopf. Ihr gedrungener Körper wurde von kurzen, krummen Beinen getragen. Als ich meiner Verpflichtung nachkam, einen Tanz mit ihr auf dem Parkett zu absolvieren, musste ich sie davor bewahren umzukippen, so tollpatschig bewegte sie sich.

Nun war diese Frau mit einem Schlag meine Zukunft geworden. In meinem Dankesbrief an Oberleutnant Takeshita stellte ich zwischen den Zeilen das Angebot sogar in Frage. Ich spielte darauf an, ob Mine als ehrenwerte Frau überhaupt gewillt sein würde, mit einem des Mordes angeklagten Mann die Ehe einzugehen? Es wäre ein überaus zuvorkommendes Angebot, schrieb ich, aber hatte ich es mir, nach allem, was vorgefallen war, wirklich verdient? Noch deutlicher zu werden wagte ich nicht. Meine Andeutungen waren bereits respektlos genug.

Wenig später erreichte mich der erste Brief meiner Verlobten. Sie hätte von Takeshita alles über die Geschehnisse mit den Staatsfeinden erfahren, schrieb sie, und ich müsste mir keine Sorgen machen: Sie wüsste, welch aufrichtiger Mann ich wäre. Einer wie ich hätte sich mit Sicherheit nichts Unehrenhaftes zuschulden kommen lassen. Es kümmerte sie nicht, was andere Leute sagen mochten. Als Tochter eines Armeeoffiziers hätte sie gelernt, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Gerne würde sie mich jetzt schon sehen, aber es wäre ihr nicht möglich, mich im Gefängnis zu besuchen. Sie freute sich bereits auf den Tag, an dem ich Chiba verlassen und wir uns endlich wiedertreffen würden, schrieb sie. Noch immer hätte sie den Tanz in bester Erinnerung, zu dem ich sie während der Geburtstagsfeierlichkeiten des Kaisers mit so sicherer Hand geführt hätte. Der Gedanke, dass wir eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft wieder miteinander tanzen könnten, erfüllte sie mit Freude. Nun denn, schloss Mine: Mit all der nötigen Geduld würde sie auf meine Entlassung warten. Wären es Monate oder sogar Jahre, das spielte für sie keine Rolle.

Noch im Sommer dieses Jahres wurden mir in meiner Zelle die Heiratspapiere zur Unterschrift vorgelegt. Der Gefängniswärter, der sie mir überbrachte, wartete an meiner Seite, bis ich sie ihm unterzeichnet wieder zurückreichte.

Ende Oktober 1926 wurde ich auf freien Fuß gesetzt. Ein Wärter holte mich in meiner Zelle ab. Ich trottete ihm durch den langen Flur des Gefängnistrakts hinterher, als hätte ich es nicht eilig. Er brachte mich an das große Tor des Gefangenenhauses. »Auf Wiedersehen!« Dieselben Worte, mit denen Ôsugi verabschiedet worden war, richtete der Wärter an mich. Mit demselben ironischen Unterton. Ich nickte ihm zu und trat zögerlich durch das Eisentor hinaus.

Dann schlich ich, den Blick auf den Boden vor mir gewandt, wie man es hinter Gittern antrainiert bekam, durch die Straßen Tôkyôs, die mir fremd geworden waren. Die Häuser der Stadt waren neu aufgezogen worden. Manche aus Holz, andere aus Stahl und Beton. Sie reichten höher in den Himmel als zuvor. Zwischen ihnen fuhren keine Straßenbahnen und kaum noch Pferdekutschen hindurch, sondern reihte sich eine Vielzahl von Automobilen aneinander. Die Menschen gingen daneben aneinander vorbei, ohne sich anzusehen oder zu grüßen.

Mine, mein Gattin, erwartete mich. Sie hatte zur Begrüßung Tee gekocht und saß mir in der stickigen Wohnung, die uns von der Armee zugeteilt worden war, gegenüber.

»Schmeckt er dir?«, fragte sie in zurückhaltendem Ton.

»Mmm.«

»In Chiba habt ihr wohl kaum guten Sencha bekommen.«

»Nein, das haben wir nicht.«

»Ich habe eingekauft. Tai, eine rote Dorade für das Abendessen. Du magst doch Doraden, ja?«

»Mmm.«

»Auch eingelegten Rettich habe ich besorgt. Und Bier. Jahrelang wirst du kein Bier mehr getrunken haben, stimmt’s?«

»Ja, das stimmt.«

Sie schenkte mir ein Glas ein und reichte es mir.

»Danke«, sagte ich.

Beinahe hätte ich das ganze Glas mit einem Schluck leer getrunken.

»Das ist gut«, sagte ich und wischte mir den Schaum von den Lippen.

Mine lächelte verlegen. Schnell hielt sie eine Hand vor ihren Mund, um ihre schiefen Zähne vor mir zu verbergen.

Während Mine und ich unser Zusammenleben begannen, endete jenes von Kaiser Yoshihito und seiner Gattin Sadako. 26 Jahre dauerte ihre Ehe mittlerweile. Der Tennô hatte lange die Stellung erduldet, die ihm aufgezwungen worden war. Sadako hatte ihm zur Seite gestanden, soweit es ihr gestattet war. In den letzten Monaten hatte sich sein gesundheitlicher Zustand zusehends verschlechtert. Oft konnte er sich tagelang nicht mehr aus dem Bett erheben. Die Kopfschmerzen drückten ihn in den Futon. Seit seiner Kindheit war die schleichende Zerstörung seines Gehirns fortgeschritten. Nun hatte Yoshihitos Leiden ein Stadium erreicht, das ihm zwischen aufeinanderfolgenden Fieberattacken kaum mehr Verschnaufpausen ließ.

Im Herbst 1926 brachte ihn seine Dienerschaft aus dem kaiserlichen Palast zu seiner Lieblingsvilla nach Hayama, zwei Stunden südlich von Tôkyô. Offiziell besetzte Yoshihito weiterhin den Thron. Seit Generationen verbrachten die kaiserlichen Familien mehrere Wochen im Jahr in der geschmeidigen Hügellandschaft Hayamas, besonders um im milden winterlichen Klima Erholung zu finden. Von allen kaiserlichen Anwesen schätzte Yoshihito diese Villa mit den prächtigen umliegenden Parkanlagen am meisten. Dort konnte er auf der Veranda sitzen und Schwanzmeisen oder Feenvögel singen oder Bambushühner schnattern hören. Der Wind blies vom Meer her anmutig durch die Kiefern, und wenn Yoshihito genau lauschte, konnte er sogar das Meer in der Sagami-Bucht dahinter ausmachen. Nun, 47 Jahre alt, war er hierhergekommen, um sein unsäglich mühevolles Dasein endlich zu beenden. Er hatte die fünfzehn Jahre seiner Regentschaft hinter sich gebracht. Jetzt würde ihn sein Sohn, der die Regierungsgeschäfte bereits übernommen hatte, im Krönungsgewand beerben.

Ein wunderbarer Friede lag über Hayama. Vorne am Strand waren zehn Jahre zuvor Ôsugi und Itô, Hand in Hand, stundenlang die Küste entlangflaniert, bis das honigfarbene Herbstlicht in die Abenddämmerung übergegangen war. Davon hatte Yoshihito nie erfahren. Nie war er mit dem Namen Ôsugi vertraut gemacht worden, nie in die gefährliche Nähe seiner Ideen geraten. Da die Zeitungen, die ihm vorgelegt wurden, zensiert waren, wusste Yoshihito weder, dass der Rebell ermordert worden, noch wer der Mörder war. Yoshihito hatte ein Land regiert, das er nicht kannte. Er war nie ein Herrscher geworden, kein Führer, kein Vorbild, aber das bekümmerte ihn jetzt nicht. Nichts bekümmerte Yoshihito mehr. Es war alles so lange her. So weit weg. Selbst sein Todesgedicht hatte er bereits Jahre zuvor vollendet.

Der Herbstwind schlägt den Regen ans Fenster,

die Einsamkeit sickert in mich hinein,

der Winter naht.

Nun ließ man ihn endlich in Ruhe sterben. Sadako saß schweigend an Kaiser Yoshihitos Seite, als er am 25. Dezember 1926 seinen letzten Atemzug machte.

An meiner Seite saß Mine, meine mich in geradezu rührender Weise umsorgende Ehefrau. Wir führten, dem Anschein nach, das Leben eines frisch verheirateten Paars. Es wurde von uns verlangt, uns, zurückgezogen in unseren vier Wänden, aneinander zu gewöhnen. Nichts weiter mussten und durften wir tun. Ich erfüllte meine eheliche Pflicht. Auch Mine tat ihr Bestes. Ich bekam einen monatlichen Sold, eine Art Frühpension, mit der wir ein knappes Auskommen hatten. Arbeit wurde vorerst nicht von mir erwartet. Ich sollte mich erst einmal wieder in der Welt zurechtfinden, wurde mir von der zuständigen Regierungsstelle mitgeteilt. Leuten, die mich erkennen könnten, sollte ich aus dem Weg gehen. Ausdrücklich aber war es mir gestattet, mit gebührender Vorsicht, unsere grunderneuerte Stadt zu erkunden. Es würde mich stolz machen zu sehen, hieß es, wie Japan auferstanden wäre.

Die Geschlossenheit und Zuversicht, die allerorts herrschte, war unübersehbar. Die Katastrophe hatte die Japaner enger zusammenrücken lassen. Kein Individuum, keine Gruppierung wagte, den wiedererstarkten Patriotismus zu gefährden. Japan hatte zurück zu seiner Größe gefunden, und mehr als das: Es war auf dem Weg, eine weltpolitische Großmacht zu werden. Unsere Armee war stärker als je zuvor. Und von Jahr zu Jahr würde sie noch stärker werden. Gerne wäre ich mehr als nur Zuschauer bei dieser Entwicklung gewesen, mehr als einer, der von den hintersten Rängen betrachtete, wie vorne ein neuer Akt gespielt wurde, unwichtiges Publikum, in sicherem Abstand der großen Bühne ferngehalten.

Ich würde lügen, würde ich behaupten, damals vorausgesehen zu haben, wie schnell dieses neue japanische Selbstbewusstsein in Hochmut und Übermut ausarten würde. Ich hatte nicht ahnen können, dass uns die Gier nach größerem Herrschaftsgebiet in die komplette Vernichtung führen würde. Dennoch kommt mir heute vor, als hätte ich das bevorstehende Unheil gespürt. Tief in mir verborgen setzte eine Skepsis ein, ein Zweifeln. Ich bilde mir das wahrscheinlich ein, im Nachhinein biegt sich der Mensch ja einiges zurecht. Vielmehr lag es wohl an meiner düsteren Stimmung, dass ich die Aufbruchsstimmung kritisch zur Kenntnis nahm.

Wenige Monate, nachdem ich mein Eheleben mit Mine aufgenommen hatte, wurde ich ins Generalpräsidium beordert.

»Es würde Ihnen sicherlich guttun, Amakasu, wenn Sie eine Weile im Ausland leben«, meinte der Generalmajor, der damit beauftragt worden war, mit mir zu sprechen.

Ich hatte nie zuvor von ihm gehört. Er war jünger als ich und musste eine steile Karriere gemacht haben, um in so kurzer Zeit einen solch hohen Dienstgrad erlangt zu haben.

»Sie würden auf neue Gedanken kommen, Amakasu«, sagte er.

Er drückte sich im Konjunktiv aus, unverkennbar aber war die Befehlsform herauszuhören.

»Verstehen Sie es wie eine ausgedehnte Hochzeitsreise mit Ihrer lieben Frau, Amakasu. Die Kosten dafür werden von der Armee getragen.«

»Das … Das ist ein großzügiges Angebot, Herr Generalmajor«, stammelte ich. »Ehrlich gesagt hatte ich nicht damit gerechnet, Japan zu verlassen …«

»Wohin würden Sie am liebsten fahren, Amakasu?«

Ich konnte dem Major nicht noch deutlicher zu verstehen geben, dass ich nicht ins Ausland abgeschoben werden wollte.

»Welches Land, Amakasu, würde Sie am meisten interessieren?«

»Ich … Entschuldigen Sie bitte, Herr Generalmajor, das kommt ein wenig überraschend …«

»Besprechen Sie sich mit Ihrer Frau, Amakasu. Sie müssen nicht unbedingt an Ort und Stelle entscheiden.«

»Ich …«

»Schlafen Sie eine Nacht darüber, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Nein … Es ist …«

»Sie können uns morgen Bescheid geben, Amakasu. Wir werden sehen, was wir dann noch für Sie richten können.«

Das Schreckgespenst der Ausbürgerung baute sich vor meinem inneren Auge auf. Meine Hände ballten sich unter dem Tisch zu Fäusten, ich bohrte meine Fingernägel ins Fleisch. Wurde ich jetzt der Heimat verwiesen? Ich rang um eine Antwort auf die Frage des Generalmajors. Was wollte er von mir hören? Ich musste irgendeinen Vorschlag bringen.

»Frankreich«, stieß ich plötzlich hervor und wusste gar nicht, wie ich darauf gekommen war.

»Wie bitte?«

»Frankreich.«

»Frankreich?«

»Ja, Frankreich … falls es mir bestimmt ist, ins Ausland zu gehen … Ich bevorzuge, in der Heimat zu bleiben, Herr Generalmajor, aber, für den Fall, dass … dann Frankreich. Vielleicht Paris? Gesetzt den Fall, das läge im Bereich des Möglichen?«

»Paris?«

»Ja …«

»Gut, Amakasu. Das ist ein durchaus überraschender Wunsch, aber warum nicht … Ich werde es weiterleiten. Geben Sie uns ein paar Tage Zeit, um alles zu regeln. Und bereiten Sie sich schon mal auf Ihre Abreise vor. Verstanden?«

»Ja. Ich danke Ihnen, Herr Generalmajor.«

Ich blieb ein bisschen zu lange regungslos sitzen, so als wäre ich verwirrt und in Gedanken verloren.

»Sie werden von uns hören, Amakasu!«, hob der Generalmajor seine Stimme und erinnerte mich daran, dass ich nun, da alles erledigt war, nur mehr seine Zeit verschwendete.

»Hai!«

Ich hatte verstanden. Ich wurde verbannt, fortgeschickt, übers Meer in ein fernes Land, wo ich keinen Schaden anrichten konnte. Ich stand auf und verbeugte mich so tief und unterwürfig, wie ich es Vorgesetzten gegenüber gewohnt zu tun war.

Wenigstens Frankreich, dachte ich auf dem Heimweg. Nicht China, nicht Russland …

Mine erfasste eine große Aufregung, und sie begann noch am selben Tag zu packen.

»Gleich auf dem Schiff werden wir beginnen müssen, Französisch zu lernen«, sagte sie. »Damit zumindest du dich in der Öffentlichkeit verständlich machen kannst!«

»Französisch ist nicht allzu schwer«, entgegnete ich und zitierte aus der Rede, die Ôsugi in Saint-Denis gehalten hatte. »Le temps est arrivé de ne pas seulement changer les conditions des ouvriers, mais de changer toutes nos vies.«

Mine war beeindruckt, auch wenn sie kein Wort verstand.

Wenige Tage später erhielt ich einen Brief mit den Anweisungen, auf welchem Schiff wir uns im Hafen von Yokohama einzufinden hatten, um diese »Bildungsreise« anzutreten. In dem Schreiben wurde ich auch darüber informiert, dass direkt in Paris kein Quartier für uns gefunden worden war, die Armee uns aber eine Wohnung in Rouen, hundert Kilometer nördlich der Hauptstadt, zur Verfügung stellte.

So landeten wir im Sommer 1927 in dieser nordfranzösischen Arbeiterstadt, die zwar eine jahrhundertealte Kathedrale mit vier Querschiffarmen, sieben Türmen und zahllosen Statuen zu bieten hatte, aber sobald man dieses Bauwerk samt seiner Schirmfassade und dem Romanusturm mit dem nötigen Respekt besichtigt hatte, blieb nichts Sehenswertes übrig. Was sollte ich in Rouen? Neben den gotischen Kirchenbauten war der Industriehafen an der Seine die einzige Attraktion — auch wenn weite Teile der Docks leer standen und etliche Hafenarbeiter erwerbslos in den Straßen herumlungerten. Mine und mir war ein ähnliches Los wie diesen Männern beschieden. Wir mussten in einer kleinen, schäbigen Wohnung die Wochen und Monate absitzen, die wir dazu verdammt waren, dortzubleiben. Der neue Sinn meiner Existenz bestand darin, nicht in Japan zu sein. Ich musste mich der Heimat fernhalten. Über zwei Jahre im französischen Exil sollten schließlich daraus werden.

Mine setzte in Rouen, außer zum Einkaufen auf dem Markt, bei dem sie angestarrt und belächelt wurde, praktisch keinen Schritt vor die Tür. Die einzigen Momente des Tages, die ihr ein, in gewisser Weise perverses, Vergnügen bereiteten, erlebte sie, wenn sie zu Hause die verschiedenen Käsestücke probierte, die ihr ein Marktverkäufer hin und wieder aufschwatzte. Ein grässlicher Geruch machte sich breit, sobald Mine diese Brocken verdorbener Kuh- oder Ziegenmilch aus dem Papier wickelte. Ich lehnte jeden Bissen ab. Mine aber wagte es, kleine Scheiben Käse abzuschneiden, um sie zu verzehren. Hart wie Kernseife waren sie teilweise, zäh wie Kautschuk, andere zerflossen auf dem Teller, sobald man sie aus ihrer Holzschachtel befreit hatte. Mine überkam eine freudige Erregung. Sie starrte eine Weile das stinkende gelbliche Etwas wie einen Fremdkörper an, ihr Herzschlag schien sich zu beschleunigen, und ihr Gesicht errötete, als wäre sie im Begriff, etwas Unanständiges zu tun. Sie führte ein Stück zum Mund. Es kostete Mine große Überwindung, den Käse auf die Zunge zu legen, aber es erfüllte sie mit Stolz, wenn sie ihn hinunterbrachte. Nachdem Mine gegessen hatte, schüttelte sie sich. Sie blickte mich mit ihrem gutmütigen Fischgesicht an und sagte, ein wenig entrückt: »Probier doch auch einmal.«

»Nein, Mine, nein. Wirklich nicht.«

»Ein wenig wie Nattô«, sagte Mine. »Nur weniger süß.«

»Ich weiß nicht, wer so etwas essen kann«, sagte ich und schüttelte den Kopf.

Wenn mir die Decke auf den Kopf fiel, ließ ich Mine allein zurück und vertrieb mir die Zeit mit Spaziergängen am meist regnerischen und trüben Flussufer. Hin und wieder kehrte ich in Hafenspelunken ein, in denen der Rauch ähnlich dicht wie draußen der Nebel in der Luft hing, und gab das knappe Geld, das mir die Armee monatlich zukommen ließ, für billigen Rotwein aus.

Mein liebster Zeitvertreib wurden die Pferdewetten, zu denen ich mich jedes Wochenende an der Trabrennbahn verleiten ließ. Manchmal hatte ich Glück und gewann etwas Geld, sodass ich mir die Zugfahrt nach Paris leisten konnte. Dort blieb ich, solange das Geld reichte. Auch wenn die Gästezimmer, in denen ich mich einmietete, alles andere als ansprechend waren, bekam ich dennoch eine Ahnung von der mondänen Welt, durch die Ôsugi einst gewandelt sein musste. Konnte ich mir den Eintritt leisten, besuchte ich sogar das Bal-Tabarin-Cabaret an der Rue Pigalle, und tatsächlich gelang es auch mir einmal, eine Nacht mit einer der Tänzerinnen zu verbringen — wenn auch nur mit einer der unbedeutenden Künstlerinnen aus dem Vorprogramm.

Im Juli 1928 fanden die Olympischen Sommerspiele in Amsterdam statt. Zum ersten Mal in der Geschichte konnten japanische Sportler Medaillen gewinnen. Zweimal Gold, zweimal Silber, einmal Bronze, in Schwimmen und Leichtathletik. Meine Landsmänner schrieben Geschichte in Europa, wo auch ich mich zu diesem Zeitpunkt befand. Ich versuchte, mich an diesem Erfolg, so gut es ging, zu erfreuen. Auch Mine sagte, dass sie die Medaillen unserer Landsleute stolz machten.

Im zweiten Jahr in Rouen wurde sie schwanger. Durch Masako, unserer Tochter, verschlimmerte sich unsere finanzielle Lage, aber gleichzeitig bot mir das Kind die Möglichkeit, wieder in die Heimat zurückzukehren. Ich schrieb einen eindringlichen Brief an Oberleutnant Takeshita, der sich nach wie vor im Ministerium für mich einsetzte. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, ließ ich ihn wissen, als dass unsere Tochter inmitten der japanischen Kultur und ohne Vermischung mit anderen Einflüssen aufwachsen kann.

Diesen patriotischen Wunsch konnte mir die Armee nicht abschlagen. Die Möglichkeit, mein Kind in der Heimat aufzuziehen, musste mir gegeben werden, sogar wenn ich dort weiterhin ein gewisses Sicherheitsrisiko darstellte. Für manche war ich wohl nach wie vor das Symbol für einen gewissenlosen Polizeistaat. Diese Leute hätten sich durch meine Anwesenheit provoziert fühlen können. Das moderne Japan hatte gewaltige strategische Ziele. Das Reich weitete sich aus, unterschiedlichste Kolonien waren in Griffweite. Der Generalstab hatte aus dem Chaos der Taishô-Zeit gelernt und sorgte nun präventiv jeder neuerlichen innenpolitischen Schwächung vor. Kaiser Hirohito regierte das Land rigide und Hand in Hand mit einem eisernen Militärapparat. Meine Rückkehr aber wurde von der Armeeführung offensichtlich nicht als ernstzunehmende Gefahr gedeutet. Nach weiteren langen Monaten im grauen, regennassen Rouen wurde Mine und mir mit unserem Säugling 1929 die Rückreise nach Japan gestattet.

Wir bezogen eine Wohnung am Stadtrand von Tôkyô. Ich war erleichtert, wieder hier zu sein. Doch die Situation unserer kleinen Familie gestaltete sich schwierig. Die kleine Masako schien sich unentwegt unwohl zu fühlen. Von kurzen Schlafpausen abgesehen, schrie und jammerte sie in einem durch. Da ich weiterhin keiner Arbeit nachgehen durfte, war ich zu Hause ständig diesem Wehklagen ausgesetzt. Mine tat ihr Bestes, um die Kleine zu beruhigen, meist aber scheiterte sie daran. Keine Nacht lang konnten wir Ruhe finden. Die Anspannung zwischen Mine und mir steigerte sich zusehends. Manchmal musste ich mich beherrschen, sie über das Schreikind hinweg nicht anzubrüllen. Mine ihrerseits wagte es kaum noch, mir in die Augen zu schauen.

Manchmal, wenn Masako schlief und in ihrer Erschöpfung eine Schreipause einlegte, reichte mir Mine unser Kind.

»Willst du sie einmal in den Arm nehmen?«

Ich wusste weder, ob noch wie ich ein Baby halten sollte. Hin und wieder aber ließ ich mich dazu bewegen. Steif, unsicher, wie etwas Fremdartiges, hielt ich Masako in den Händen. Sie kam mir überraschend schwer vor. Ich hatte Angst, sie könnte mir aus den Händen fallen oder jeden Moment wieder ihre Augen und den Mund öffnen und zu schreien beginnen.

»Riech doch. Sie duftet!«, sagte Mine.

Spätestens, wenn Masako wach und unruhig wurde, reichte ich sie Mine zurück.

Zwei Jahre später erlag Masako der Tuberkulose, mit der sie sich als Kleinkind infiziert hatte. Für Mine war es ein Schicksalsschlag, von dem sie sich nie wieder erholte. Mit jenem Morgen, an dem sie die leblose Tochter in ihrem Bettchen vorfand und kurz und gellend aufschrie, gingen die Lebensfreude und Neugier, mit der sie bislang selbst den trostlosesten Momenten begegnet war, für immer verloren. Sie kniete sich vor dem Bettchen auf den Boden und nahm das Mädchen zu sich, drückte es fest an ihre Brust. Gebeugt über Masako, bewegte sie sich nicht weiter. Keinen Laut gab Mine von sich, sie weinte auch nicht, soweit ich es beurteilen konnte, sie verschmolz nur mit dem toten Kind. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich überlegte, ob ich an Mines Seite treten sollte, den Arm um sie legen, sie halten, stützen, vielleicht sie streicheln. Doch ich rührte mich nicht von der Stelle.

»Das Kind ist im Schlaf gestorben«, sagte ich nach einer Weile. Vielleicht meinte ich, Mine damit trösten zu können? »Sie war zu schwach, um wieder zu erwachen«, sagte ich. »Vielleicht ist es ja besser so?«

Es waren unbeholfene und die falschen Worte, die ich wählte. Doch auch wenn mir etwas Besseres eingefallen wäre, es gab nichts, was ich sagen oder tun hätte können, das wurde mir in der Totenstille bewusst, die zwischen uns nun entstand. Schließlich hatte ich den Tod eines sechsjährigen Buben auf mich genommen. Anstatt zu antworten, drehte sich Mine wortlos zu mir. Sie erinnerte sich daran, dass ich ein Kindsmörder war, das erkannte ich in der Art, wie sie mich in diesem Moment ansah. Ich war verantwortlich gewesen für den Mord an einem Sechsjährigen, erinnerte sie sich, und nun hatte ich den Tod auch in unsere kleine Familie gebracht. Mine blickte mich mit einer Verachtung an, die mich erschreckte. Ich wollte ihr sagen, dass ich nicht die Schuld am Tod Munekazus und auch nicht die Schuld an Masakos Tod trug. Doch ich sagte nichts. Mine wandte sich wieder von mir ab und dem toten Kind in ihrem Arm zu. An Ort und Stelle blieb sie über Masako gebeugt, bis etwa eine Stunde später die Ärzte eintrafen, die ich gerufen hatte. Sie nahmen ihr den Leichnam aus den Armen. Seit diesem Tag hat Mine nur mehr das Nötigste mit mir gesprochen.

Einige Wochen nach Masakos Tod wurde ich ins Militärpräsidium beordert. Es war mir klar, dass Mine und ich mit dem Ableben unseres Kindes die Berechtigung verloren hatten, uns weiterhin inmitten der japanischen Gesellschaft aufzuhalten. Als ich an die Bürotür klopfte, wusste ich, dass ich neuerlich abgeschoben werden würde. Zu meiner Überraschung aber machte mir die Regierung ein Angebot, das, auf den ersten Blick, besser wirkte als alles, was ich mir ausgemalt hatte.

Ich wurde in die Mandschurei, diese nordchinesische, inzwischen von Japan kontrollierte Provinz, versetzt. Eine Ehre wäre das, hieß es in dem »Umschulungsangebot«, das an mich herangetragen wurde, eine Ehre, unserem expandierenden Reich in den äußeren Territorien zu dienen.

Ich wagte nachzufragen, in welche Richtung ich umgeschult werden sollte?

»Es gibt viele, auch zivile Bereiche, wo Männer mit Ihrer Disziplin und Loyalität gebraucht werden, Amakasu«, antwortete der zuständige Regierungsbeamte. »Jemand, der wie Sie korrekt und gewissenhaft seine Aufgaben erfüllt und bereit ist, wenn nötig, Opfer auf sich zu nehmen, ist vielseitig einsetzbar.«

So setzten Mine und ich also in die Mandschurei über.

Als wir die Fahrt antraten, überkam mich die Gewissheit, dass ich das Festland, meine Heimat, dass ich Tôkyô nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Ein Dampfer brachte uns von der Hauptinsel ins inzwischen eingegliederte Korea. Von dort fuhren wir mit der Südmandschurischen Eisenbahn, die unsere koreanischen Gebiete mit der bald als Mandschukuo bezeichneten Kolonie verband, Richtung Norden. Es war eine tagelange, beschwerliche Fahrt. Die Endgültigkeit, die in dieser Reise lag, schnürte mir die Kehle zu. Ich starrte aus dem Zugfenster hinaus auf weites, kaltes Land, dem nur die unter seiner Erde verborgenen Rohstoffe einen Wert gaben. Zwei Großmächte waren wegen dieser Einöde bereit, gegeneinander in den Krieg zu ziehen. Mine saß mir schweigend auf dem Holzsitz gegenüber. Der Waggon wackelte und ratterte. Die Gleise unter uns sirrten. Selbst hätten wir uns unterhalten wollen, es wäre mühevoll gewesen bei diesem Lärm.

Wir erreichten die mandschurische Ebene und passierten die Kreisstadt Mukden. Hier würde sich kurz darauf der Sprengstoff-Anschlag auf diese Bahnlinie ereignen, der Japan als Anlass diente, die Mandschurei zur Gänze einzunehmen. Die noch weiter nördlich gelegene Provinzstadt Shinkyô wurde dann als zweite Hauptstadt Japans ausgerufen. Sie wurde meine neue Heimat.

»Sicherlich wird es eine Weile dauern, bis Sie sich an ein Leben als Zivilperson gewöhnen, Amakasu, abseits der Reihen des Militärs, abseits des militärischen Drills«, teilte mir der spitznasige Umschulungsleiter mit, zu dem ich geschickt wurde.

Es war festgelegt worden, dass ich geschäftsführender Produzent in der neu gegründeten »Mandschurischen Filmgesellschaft« werden sollte. »Eine ehrenwerte Aufgabe«, wie es hieß.

»Filmproduzent?«

Die Filmindustrie habe einen wichtigen vaterländischen Wert, wurde ich belehrt. Und es sei ein florierender Zweig.

In Shinkyô war ein Ableger der staatlichen Filmgesellschaft installiert worden. Hier herrschten ideale Produktionsbedingungen vor. Es gab Platz, so viel man wollte. In der mandschurischen Ebene sollten nicht bloß Erze und Kohle gefördert und Landwirtschaft betrieben, sondern auch junge Industrien angesiedelt werden. Erste Filmstudios waren hochgezogen worden, ein paar Filmproduktionen liefen bereits an. Wir stünden erst am Anfang, sagte der Umschulungsleiter. Ob ich mich nicht freue, von Beginn an diese neue Ausdrucksform japanischer Kultur mitgestalten zu dürfen, fragte er.

»Ich habe noch nie in meinem Leben einen Film produziert«, sagte ich.

»Sie werden bald wissen, was zu tun ist, Amakasu. Sie werden zwischen richtigen und falschen Projekten unterscheiden können. Filme zu produzieren ist ein aufwändiges Unterfangen. Die Regierung will sichergehen, dass die Produktionsmittel im Interesse Japans eingesetzt werden. Über Filme mit den richtigen Inhalten erreichen wir weite Teile der Bevölkerung. Sie verstehen doch, Amakasu? Es wird nicht nur mit Waffengewalt Weltpolitik betrieben.«

Ich trat also meine neue Stelle an. In den ersten Jahren wurden hauptsächlich Geduld und Genügsamkeit von mir verlangt, denn die Filmproduktion lief, entgegen der Ankündigungen, nur zögerlich an. Ich saß in einem Nebenraum herum, der für mich bereitgestellt wurde, und hatte höchstens buchhalterischen Tätigkeiten nachzugehen und den einen oder anderen Vermerk an einem Manuskript einzufügen, der wahrscheinlich von niemandem gelesen wurde. Ich überlegte, ob es besser sein würde, der Kwantung-Armee beizutreten, der schnell gewachsenen Einheit der kaiserlichen Armee, die von Shinkyô aus operierte und die neu besetzten nördlichen Gebiete kontrollierte? Doch mit meinen Referenzen, meinem fortgeschrittenen Alter — immerhin war ich bald 45 Jahre alt — sowie dem seit meiner Jugend hinkenden Bein musste ich mir darüber keine weiteren Gedanken machen.

Nach einer Weile bezog ich auf dem Gelände der Filmstudios mein eigenes kleines Büro. Ein Schreibtisch, Stuhl, Telefon, ein Wandschrank mit halbleeren Aktenordnern. Im Lauf der Jahre füllten sie sich langsam. Auch heute bin ich von ihnen umgeben. In gewisser Weise fühle ich mich inzwischen wohl in diesem schmucklosen Büro. Als einziger Luxus wurde vor einigen Jahren ein bequemer Ledersessel neben meinen Schreibtisch gerückt. Es ist der Sessel, auf dem ich heute sitze. Der Sessel, von dem aus ich ein paar Minuten noch den draußen anbrechenden Tag betrachten will.

1939, als der Krieg in Europa ausbrach, wurde ich mit dem Vorsitz der Gesellschaft bedacht. Das bedeutete nicht viel. Doch zumindest besetzte ich nun wieder eine ranghohe Position an einer staatlichen Dienststelle. Die Filmproduktionen, die wir in Umlauf brachten, wirkten den Propagandawerken der immer mächtiger werdenden chinesischen Filmindustrie entgegen. Anstatt mit der Waffe kämpfte ich nun mit einer Vielzahl mittelklassiger Filmproduktionen für mein Land. Ich bekam ein jährlich aufgestocktes Gehalt, und im Zuge meines Aufstiegs in der Filmbranche bezogen Mine und ich ein modernes, großzügiges Heim im Herzen der Retortenstadt. Die Wohnung war, da wir keine Kinder hatten, viel zu groß für uns. Doch so fiel es uns umso leichter, uns aus dem Weg zu gehen. Meistens wusste ich gar nicht, wo Mine ihre Tage verbrachte, und auch ihr schien es egal zu sein, womit ich mich abgab.

Ich hatte nun des Öfteren mit jungen Schauspielerinnen oder Assistentinnen zu tun. Ich konnte ihnen bei ihrer Karriere in der Filmbranche behilflich sein, ich hatte Einfluss darauf, in welchen Produktionen, welchen Rollen sie zum Einsatz kamen. Doch im Gegensatz zu manch anderen, sogar niederer gestellten Kollegen, die eine Gegenleistung nach der anderen einforderten, nutzte ich meine Stellung nie aus.

Bevor der Krieg, der in Europa und im Pazifik immer brutaler tobte, sich allmählich über die ganze Welt erstreckte und seinen Weg auch nach Mandschukuo fand, brachte er ein paar Jahre lang unsere mandschurische Filmindustrie in Schwung. Vielleicht lag es an diesem Aufschwung, vielleicht auch an den verschiedenen Gräueltaten, von denen ich hörte, dass sie sich draußen im Kriegsgeschehen abspielten, jedenfalls stellte ich einen schleichenden Wandel in mir fest. Nie sprach ich mit jemandem darüber, aber allmählich fühlte ich mich in einem zivilen Unternehmen besser aufgehoben als in einer militärischen Einrichtung. Vielleicht hatte ich resigniert, vielleicht war ich alt und ängstlich geworden? Etwas in mir begann, den Krieg zu fürchten. Ich hatte aufgehört, mich nach den Schlachtfeldern zu sehnen.

Wäre ich zum Frontdienst einberufen worden, ich wüsste nicht, wie ich reagiert hätte. Auch mit unseren Filmstudios unterstützten wir Japan bei seinen Eroberungen, das wusste ich. Und es reichte mir, meinem Land auf diese Weise zu dienen.

Tatsächlich wurde, da nun die Kriegsmaschinerie immer hemmungsloser angekurbelt wurde, auch die mandschurische Filmindustrie aktiver. Unsere Auftragsbücher füllten sich. Wöchentlich wurden neue Schauspieler, Filmregisseure oder Drehbuchautoren, auch unqualifizierte Quereinsteiger, bei mir vorstellig, und die Budgets unserer Eigenproduktionen stiegen. Ich handelte auch mit ausländischen Firmen und brachte deren Filme, sofern sie uns nützlich vorkamen, in Umlauf. Auf Anordnung vermittelte ich Filme der deutschen, von den Nationalsozialisten geschätzten Filmemacherin Leni Riefenstahl an Lichtspielhäuser und Fernsehstationen. In Summe war ich in diesen Kriegsjahren ein gut beschäftigter Mann. Die Arbeit lenkte mich von der moralischen Verwirrung ab, die sich in mir breitmachte. Ich war froh, je weniger ich von den Schlachtfeldern und Trümmerhäufen mitbekam, die sich in Japan und seinen Überseegebieten von Monat zu Monat ausweiteten. Ich denke, ich war so etwas wie ein Feigling geworden. Doch erst heute und niemandem außer mir selbst gegenüber bin ich bereit, das zuzugeben.

Bis zum Schluss ließ ich meine Fassade nicht fallen. Meinem gesellschaftlichen Stand in Shinkyô entsprechend, empfing ich hin und wieder als Gast sogar den letzten chinesischen Kaiser Pu Yi, der, aus der Verbotenen Stadt vertrieben, ebenfalls im mandschurischen Abseits Exil gefunden hatte. Er residierte in Mandschukuo als Kaiser von Japans Gnaden. Er war ein Spielball der politischen Mächte. Sein Wohnsitz war ein als kaiserlicher Hof getarnter Aufbewahrungsort, in dem er eingesperrt war. Er war einflusslos und desillusioniert, eine handlungsunfähige Marionette. Es fiel mir schwer, diesem »Kaiser von Mandschukuo« Respekt entgegenzubringen. Zugleich erkannte ich in seiner gestrandeten Existenz Parallelen zu mir selbst und dem Hadern, das mich ergriffen hatte. Pu Yi strahlte in keiner Weise die Herrlichkeit eines wahren Kaisers aus, was er früher vielleicht einmal gewesen war. Ihm blieb einfach nichts anderes übrig, als den Anschein zu wahren, nach wie vor etwas darzustellen. Mine servierte uns Grüntee und Reiskuchen mit roter Bohnenpaste, die Pu Yi ausdrücklich lobte.

Mittlerweile war der halbe Globus Kriegsschauplatz geworden. In Shinkyô, so weit draußen am Rande des Geschehens, wirkte es, als versteckten wir uns vor der unausweichlichen Eskalation. Der Konflikt mit China forderte immer mehr Opfer, und auch zwischen Japan und Amerika wurden die Kriegshandlungen von Woche zu Woche kompromissloser. Die Gemetzel des Pazifikkriegs spannten sich von Niederländisch-Indien bis Indochina. Von der Großen Mauer bis hinab zur Nordspitze Australiens zogen sich die Schlachtfelder, auf denen sich japanische Soldaten in die Schützengräben, Laufgräben, Bunker warfen. Als Resultat der immer grausameren Auseinandersetzungen vergrößerte sich aber nicht Japans Macht, sondern wurden ab Ende 1944 immer verheerendere Luftangriffe auf unser Land und unsere Hauptstadt geflogen.

Vor einigen Monaten, am 10. März, einem Tag, den Japan nie vergessen wird, tauchten in den frühen Morgenstunden hunderte amerikanische B-29 am Himmel über Tôkyô auf und warfen ihre Brand-, Streu- und Napalmbomben ab. Allein an jenem Morgen starben hunderttausende Japaner im Bombenhagel und in den sich daraufhin ausbreitenden Feuerstürmen. Erneut versank Tôkyô unter Schutt und Asche. War beim Kantô-Beben die Vernichtung aus dem Inneren der Erde emporgestiegen, so prasselte sie nun vom Himmel. Die feindlichen Luftgeschwader machten Japan dem Erdboden gleich. Millionen meiner Landsleute wurden obdachlos, verwundet oder fanden den Tod, und ich beobachtete diese Vernichtung wie ein Zaungast aus der Ferne. Ich war froh, nicht mehr im Zentrum der Macht zu sein, froh über das Exil, in das ich abgeschoben worden war. Bis die Vernichtungswellen Shinkyô erreichten, würde es noch eine Weile dauern. Die Städte unserer Hauptinseln wurden aber jetzt bereits schonungslos aus der Landkarte gelöscht. Waisenkinder irrten ziel- und hoffnungslos zwischen den Ruinen hin und her. Sie trugen weiße Kästchen mit der Asche ihrer verstorbenen Verwandten um den Hals. Sie konnten nicht verstehen, wie all dies geschehen hatte können, all dieses Töten. Wie hatte es so weit kommen können? Niemand verstand es. Niemand fand Worte dafür. Auch ich nicht. Der Krieg zeigte sich als das, was er offensichtlich immer schon war, was ich mein Leben lang jedoch ausgeblendet hatte: als sinnlose Zerstörung, sinnloses Morden, als Ende allen Lebens und aller Kultur.

Anfang des Monats gingen nun als letzter Todesstoß die amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki nieder. Spätestens jetzt wurden die mandschurischen Filmstudios völlig sich selbst überlassen. Seit Monaten waren bereits keine Filme mehr realisiert worden, und die noch verbliebenen Mitarbeiter wie ich saßen nur mehr tatenlos in ihren Büros und Werkstätten herum. Dumpf warteten wir darauf, bis das Gemetzel unweigerlich auch hier losgehen würde. In den letzten Wochen waren einige Diensthabende abgezogen worden. Ich hatte beobachtet, wie sie, teils in Uniform, teils in Zivil, in Eile das Gelände verließen. Ich beneidete sie nicht um die möglichen Aufträge, die sie bekommen hatten. Ich hatte innerlich bereits abgeschlossen und verspürte kein Verlangen mehr, mich in irgendeiner Weise am Kriegsgeschehen zu beteiligen. Es war mir recht, dass die Armeeführung mich vergessen hatte. Kein Brief, kein Telegramm, kein Telefonat hatte mich je erreicht. Inzwischen wäre ich auch einer Einberufung nicht mehr nachgekommen. Ich hatte erkannt, wie aussichtslos alles geworden war.

Vor fünf Tagen hat Kaiser Hirohito höchstpersönlich die bedingungslose und absolute Kapitulationserklärung Japans im Radio verlesen. »Wir werden das Unerträgliche ertragen und das nicht Duldbare erdulden«, sagte er in seiner Ansprache.

Es wurde angenommen, dass es etwa eine Woche lang dauern würde, bis sich der Befehl zur Kapitulation an allen Fronten herumgesprochen hätte. In Shinkyô ist die Nachricht inzwischen eingetroffen. Ich habe heute, am 20. August 1945, mein Todes-Haiku auf die Serviette geschrieben.

Gestern hielt ich eine kurze Sonntagsansprache vor dem kleinen Kreis meiner letzten Angestellten. »Japan ist zerstört«, sagte ich zu den paar Männern, die mit mir auf dem Gelände verblieben waren. »Wir haben die Radioansprache des Kaisers gehört. Wie ein Samurai sollte ich mir den Bauch aufschlitzen. Doch ich bin des Ehrentods nicht würdig. Ich verdiene das japanische Schwert nicht.« Weder wagten die Anwesenden zu widersprechen, noch zuzustimmen. Es herrschte betretenes Schweigen.

Dann händigte ich Samtsäckchen mit Edelsteinen aus und wies die Leute an, diese Beutel erst am übernächsten Samstag zu öffnen, dem Gedenktag des großen Kantô-Bebens. Niemand stellte eine Frage. Ich weiß nicht, was in den Köpfen der Männer vorging. Vielleicht hörten sie mir gar nicht richtig zu oder gingen davon aus, dass ich, angesichts unserer hoffnungslosen Lage, den Verstand verloren hatte. Alle aber wussten, dass ich Edelsteine gesammelt hatte. Alle wussten, wie sehr ich sie liebte. Von klein auf hatte mich ihr Glanz fasziniert. Ihr klarer Schliff, die Pracht, die mich an das sublime Strahlen Japans und an das Glänzen der Augen seiner Kinder erinnert hatte. Wie die Kirschblüte die zarte Schönheit unseres Landes verkörpert hatte und der Berg Fuji die Größe und Macht, so hatten sich Edelsteine dazu geeignet, die Stärke und klare Linie zu beschreiben, für die Japan einst gestanden hatte. Alle wussten die Samtsäckchen zu schätzen, die ich aushändigte.

Heute nun, genau jetzt, da dieser Tag anbricht, werde ich ein solches Säckchen öffnen. Auch Mine habe ich eines in unserer Wohnung hinterlegt. Ich hole die Zyankali-Kapsel heraus. In jedes Samtsäckchen habe ich statt eines Edelsteins eine Kapsel gelegt. Mine wird das Zyankali schon geschluckt haben, wie ich sie kenne. Sie versteht schnell, und feig ist sie nie gewesen.

Auch einige meiner Angestellten haben ihre Samtsäckchen wohl bereits geöffnet. Andere werden vielleicht, pflichtbewusst wie sie sind, bis übernächsten Samstag warten, den Gedenktag des großen Bebens. Ich hoffe, das Zyankali kommt nicht zu spät. Die Truppen der Roten Armee könnten jederzeit eintreffen. Allzu großer Pflichtgehorsam wäre jetzt nicht angebracht. Doch darum muss ich mich nicht kümmern. Der Tod ist eines jeden eigene Sache.

Ich habe mich im Ledersessel niedergelassen. Weder Revolver noch Samurai-Schwert trage ich an mir. Doch meine alte Uniform mit all den Orden, Abzeichen und Medaillen, die ich mir im Lauf meiner früheren Karriere verdient hatte, habe ich im Morgengrauen aus dem Wandschrank genommen und angezogen.

Es ist mir seit Jahrzehnten nicht gestattet, die Uniform in der Öffentlichkeit zu tragen. Doch ich will weder nackt noch als Zivilperson aus meinem Leben gehen. Die Uniform passt mir nach wie vor. Die Schnallen, Spangen, Broschen glänzen im Dämmerlicht. Der oberste Messingknopf ist zugeknöpft, das Offizierskäppi in die Stirn gezogen. Ein letztes Mal prüfe ich, dass der Stehkragen meiner Jacke keine Falten wirft und meine Nickelbrille gerade sitzt.

Dann öffne ich den Mund. Ich bin allein, ganz bei mir. Ich weite meinen Rachen. Ich schlucke die Kapsel so schnell wie möglich hinunter. Dann höre ich auf zu denken.

Ich werde mich verkrampfen. Das Gift ist stärker als der Mensch. Kurze Todesqualen. Ein wenig Schaum auf den Lippen. Ich werde ihn mir nicht abwischen können. Ich werde im Sterben nicht alles kontrollieren können. Auch im Leben konnte ich es nicht. Ich konnte mich den Dingen nicht in den Weg stellen, die passierten.

Das Bild Munekazus, wie er auf der Rückbank des Polizeiwagens Platz nimmt. Jetzt sehe ich es ganz deutlich vor mir. Ôsugi zu seiner linken, Itô zu seiner rechten Seite.

Viel lieber würde ich Blumen sehen. Hübsche kleine Wildblumen, wie sie auf den Feldern blühen. Ja, ich hätte gern die Chrysanthemen blühen gesehen, bevor ich gehe.