PRAKTISCHE (KONKRETE) PERSPEKTIVEN

Johannes Taulers Spiritualität ist christlich. In ihrem Zentrum stehen die Trinität Gottes – als die eigentliche Wirklichkeit des Seins – und das Kreuz Jesu Christi – die spirituelle Mitte, aus der sich christliches Leben und damit jede christliche Spiritualität entfaltet. In ihrer Ganzheit wird Taulers Spiritualität deshalb zunächst einmal am ehesten innerhalb eines christlichen Lebensraumes verstehbar sein.

Taulers Spiritualität hat die Gottesgeburt im Menschen zum Ziel. Diese Geburt lässt sich von seinem christlichen Gottesbild nicht trennen. Denn auf dem Weg dorthin wiederholt sich auf geistige Weise das innertrinitarische Leben Gottes: Aus der Einheit mit dem Vater wird der Mensch, sofern er eins mit dem Leben und Sterben Christi geworden ist, als angenommener Sohn, als Kind Gottes, in einer geistigen Auferstehung und Himmelfahrt wiedergeboren. Die Liebe aber, die in dieser Einheit und infolge dieser Geburt entsteht, fließt wiederum in die Welt durch den Heiligen Geist. Im Leben des Christen vollzieht sich somit das, was Paulus in seinen Briefen als ein Leben „in Christus“ bezeichnet282: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Taulers Spiritualität ist ganz auf Christus ausgerichtet. In der Gottesgeburt erhält Jesus Christus ein neues menschliches Angesicht, ganz im Sinne der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“:

„Der ‚das Bild des unsichtbaren Gottes‘ (Kol 1,15) ist, er ist der vollkommene Mensch, der den Söhnen Adams die Gottbildlichkeit wiedergab, die von der ersten Sünde her verunstaltet war. Da in ihm die Menschennatur aufgenommen, nicht aber zerstört wurde, ist sie zugleich auch in uns zur erhabenen Würde erhoben worden. Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt. Mit Menschenhänden hat er gearbeitet, mit menschlichem Geist gedacht, mit einem menschlichen Willen hat er gehandelt, mit einem Menschenherzen geliebt. Geboren aus Maria, der Jungfrau, ist er in Wahrheit einer aus uns geworden, in allem uns ähnlich außer der Sünde ... . Der christliche Mensch empfängt, gleichförmig geworden dem Bilde des Sohnes, der der Erstgeborene unter vielen Brüdern ist, ‚die Erstlingsgaben des Geistes‘ (Röm 8,23), durch die er fähig wird, das neue Gesetz der Liebe zu erfüllen. Durch diesen Geist, der das ‚Pfand der Erbschaft‘ (Eph 1,14) ist, wird der ganze Mensch innerlich erneuert bis zur ‚Auferstehung des Leibes‘ (Röm 8,23).“283

Auch wenn seine Spiritualität christlich ist, so heißt das nicht, dass es einzelne Themen gibt, die man auch außerchristlich vermitteln kann. Dass dies jedoch problematisch wird, wenn man den christlichen Kontext außer Acht lässt, dürfte deutlich geworden sein.

Tauler fordert von den Menschen sehr viel. Wer spirituell leben will, der muss sich zuallererst mit sich selbst auseinandersetzen. Er darf vor seinen Problemen nicht davonlaufen; er muss seinen Ängsten ins Auge schauen. Spirituelles Leben bedeutet nicht die Flucht in ein wohltuendes Erlebnis, um sich abzulenken, sondern die direkte Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben. Tauler fordert die Bekehrung, die Umkehr, eine eindeutige Entscheidung, natürlich zugunsten von Gott. Mit dieser Sichtweise von Spiritualität stellt sich Tauler jedoch diametral gegen ein heutiges Verständnis von Spiritualität. Seine mitunter harten Formulierungen über die Welt und den Menschen können auch abschrecken. Aber wir dürfen hierbei nicht den zeit- und geistesgeschichtlichen Hintergrund vergessen.

Alles in allem möchte Tauler die Menschen ermutigen: Zur Einkehr in den Grund der Seele: Der Mensch soll sich auf eine spannende Reise in seine innere Welt begeben, um sich selbst und Gott zu finden; zu einem Übungsweg im Alltag: Spirituelles Leben beschränkt sich nicht nur auf feste Gebets- oder Meditationszeiten, sondern schließt die tägliche Arbeit mit ein und wird in der Liebe zum Nächsten zum Ausdruck gebracht. Auf dem Weg dorthin helfen die Selbsterkenntnis, die Betrachtung des Lebens Jesu Christi, das Altarsakrament (und die übrigen Sakramente) und die Gemeinschaft mit den Menschen, die auf demselben Weg sind.

Damit ermutigt Tauler die Menschen auch zur Wertschätzung einer kirchlichen Gemeinschaft: In der Gemeinschaft von Gottesfreunden, die ihren Glauben und ihre (mystischen) Erfahrungen miteinander teilen, sieht Tauler das Idealbild der Kirche. Entsprechend gilt, dass das geistliche Leben in den Gemeinden gefördert und verantwortungsbewusst begleitet werden muss.

Tauler ermutigt die Christen zu einem klaren Bekenntnis zu Jesus Christus, der gekreuzigt wurde und von den Toten auferstanden ist – ganz im Sinne des frühchristlichen Glaubensbekenntnisses: „Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten“ (1 Kor 1, 23).

Tauler ermutigt auch die Kranken und Leidenden im Gefühl der Gott-Verlassenheit nicht zu resignieren, sondern im Blick auf die Gott-Verlassenheit Christi am Kreuz zu hoffen, dass in der Nichterfahrung Gott sehr viel näher ist, als in der inneren Freude oder im inneren Frieden, den man während des Meditierens erfährt. Denn Gottes eigentliches Sein ist weder rational noch affektiv zu fassen.

Tauler ermutigt Menschen, die sich in ihrer Lebensmitte befinden nach der eigentlichen Quelle ihres Lebens neu Ausschau zu halten.

Tauler ermutigt auch zu einem lebendigen Dialog zwischen den Christen, zwischen katholischen und evangelischen Christen – Tauler wurde von Katholiken und Protestanten gleichermaßen gelesen; mit den mystischen Erfahrungen anderer Religionen und anderer Spiritualitäten. Tauler selbst bringt diesen Dialog in seiner Wertschätzung von heidnischen Meistern zum Ausdruck, wenn er respektvoll von den nichtchristlichen mystischen Erfahrungen eines Platon oder Proklos spricht. Außerdem stellt der Neuplatonismus eine geistige Brücke vom Abendland nach Asien dar, zu den fernöstlichen Religionen mit ihren mystischen Erfahrungen.