Drei

Insgeheim betete jeder im Schloss, dass die alten Mauern einer solchen Gewalt standhalten mochten. Keiner schlief, jeden hatte der Sturm geweckt. Die Kammerzofen und Küchengehilfinnen, die Hausdame und die Erste Näherin lagen in ihren Betten in den Obergeschossen, die Augen ängstlich zur Decke erhoben. Wenn das Dach nur hielt! Die Valets, die Butler, auch der Schuhputzer waren aufgestanden. Sie rauchten Zigaretten und redeten über belanglose Dinge, um sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.

Der alte Patters hatte den bodenlangen Morgenmantel übergezogen, einen Kerzenleuchter ergriffen und geisterte durch das Schloss. Während des Sturmes war der Strom ausgefallen. Morgen früh würde jemand aus Marazion herüberrudern und den Schaden beheben. Patters prüfte, ob die Fenster und Läden richtig schlossen. Er stieg sogar in den Ostturm hoch, weil es dort eine Ecke gab, wo er Schimmel entdeckt hatte. Schimmel bedeutete Feuchtigkeit, Feuchtigkeit bedeutete eine undichte Stelle.

Virginia saß aufrecht im Bett und lauschte dem Tosen, das vielstimmig um das Schloss raste. So eine Kraft, so eine Macht hatte der Himmel. Die Burg stand nun seit Jahrhunderten auf den Fundamenten des früheren Klosters, doch eines Tages würde die Macht der Natur St. Michael’s Mount ein Ende bereiten. Als kleines Mädchen war sie in Nächten wie diesen zu ihrem Vater hinübergelaufen. Das Schlafzimmer des Lords lag auf der anderen Seite des Korridors. Seit vielen Jahren schlief Sir Thomas allein. Virginias Mutter war so früh gestorben, dass ihr Antlitz in der Erinnerung der Tochter verblasste.

Sie stand auf, warf den Morgenmantel über und lief zur Tür. Virginia besann sich. Sie war schließlich kein kleines Kind mehr; irgendwann musste sie damit aufhören, zu Papa zu laufen, wenn es stürmte. Aber heute noch nicht. Das war eine Nacht, in der eine Tochter Schutz suchen durfte. Sie öffnete die Tür und prallte zurück.

»Was machst du denn hier? Bist du auch wach geworden?«

Der Duke stand im Abendanzug vor ihr. »Wer könnte bei diesem Lärm schlafen? Solche Stürme kennen wir in Somerset nicht.«

»Wieso bist du angezogen?«

»Da ich nicht schlafen kann, wollte ich lesen und war auf dem Weg in eure Bibliothek.«

»Aber …« Sie schaute den Korridor hinunter. »Aber die Bibliothek liegt auf der anderen Seite des Schlosses.«

Ein Lächeln huschte über Freddies Gesicht. »Du hast mich erwischt.«

»Wobei?«

»Kannst du dir das nicht denken?«

Sie wurde rot bei der Vorstellung, weshalb Freddie vor ihre Tür geschlichen kam.

»Ich dachte, in einer Nacht wie dieser kannst du bestimmt auch nicht schlafen.« Er trat näher. »Ich sagte mir: Wenn du unter ihrer Türschwelle Licht entdeckst, klopfst du an. Wenn es dunkel ist, gehst du weiter und holst dir ein langweiliges Buch.«

»War unter meiner Türschwelle denn Licht?« Virginias Herz begann wie verrückt zu schlagen.

»Ich konnte keines entdecken.«

Sie drehte sich um. Die Kerze brannte so schwach, dass man es von draußen wohl nicht wahrnahm. »Aber du stehst trotzdem hier.«

»Ja, ich stehe trotzdem hier.« Er trat noch einen Schritt näher.

»Ist das denn schicklich?« Ihr Herz machte einen gewaltigen Lärm.

»Das ist natürlich sehr unschicklich. Ich bin der unverheiratete Duke of Hailsham, und du bist unmündig. Obwohl wir befreundet sind, darf ich dich um zwei Uhr früh keinesfalls in deinem Zimmer besuchen.«

»Das bedeutet, du gehst jetzt in die Bibliothek, holst dir ein Buch und kehrst auf dein Zimmer zurück?«

»Das sollte ich tun.«

»Willst du das denn tun?«

»Willst du, dass ich das tue?« Er nahm ihre Hände. »Verzeih, es ist unfair, dich das zu fragen. Ich selbst muss die Entscheidung treffen. Deshalb sage ich dir jetzt besser Gute Nacht und hoffe, dass euer Schloss am Morgen noch steht, damit wir zusammen frühstücken können.«

Sie war enttäuscht. Freddie hielt zwar ihre Hände, aber er wollte nicht auf ihr Zimmer kommen. Im nächsten Moment war sie nicht mehr enttäuscht, denn er gab ihr einen zarten Kuss auf die Wange. Sie war überwältigt, überrascht und glücklich. Aber schon im nächsten Moment war sie nicht mehr überwältigt und glücklich, sondern erschrocken. Denn gegenüber hatte sich die Tür geöffnet, ihr Vater stand im mitternachtsblauen Morgenmantel hinter ihnen. Sir Thomas sah den Herzog von Somerset an der Schlafzimmertür der Countess Trevelyan. Der Duke beugte sich über die Wange der Countess. Eindeutiger konnte eine Situation schwerlich sein.

»Ich wollte nur mal nachsehen, ob sich mein Kind einsam fühlt«, sagte Sir Thomas. »Aber wie ich merke, sind Sie mir zuvorgekommen, lieber Hailsham.«

»In der Tat, Mylord.«

»Wie darf ich mir Ihren nächtlichen Besuch bei meiner Tochter erklären, Alfred?« Der Lord schnürte den Gurt seines Mantels enger.

»Mein Besuch bei Ihrer Tochter ist nur auf eine einzige befriedigende Weise zu erklären, Mylord.« Der Duke ließ Virginias Hände los, trat vor Sir Thomas und machte eine formelle Verbeugung.

»Euer Gnaden, ich höre«, sagte der Lord.

»Verehrter Lord Trevelyan, ich erlaube mir, Sie mit allem gebotenen Respekt und vor den Augen Gottes um die Hand Ihrer Tochter Virginia zu bitten.«

Sir Thomas sah dem Duke ernst in die Augen. »So ist das. So ist das also.«

* * *

Das dürfte ja nun bestimmt das großartigste Weihnachtsfest aller Zeiten werden! Nie zuvor im Leben war Virginia glücklicher gewesen. Der unvergleichliche, der großartige Freddie nahm sie zur Frau! War der Heiratsantrag seine ursprüngliche Absicht gewesen, fragte sie sich in Momenten des Zweifels, oder war er nur Freddies Ritterlichkeit zuzuschreiben, um die peinliche Situation mit Papa zu entschärfen? Aber aus Ritterlichkeit schlich man nicht vor die Tür einer jungen Dame, beruhigte sie sich dann jedes Mal, aus Ritterlichkeit küsste man sie nicht, nein, es gab nur eine Erklärung: Freddie meinte es ernst. Wie außerordentlich außerordentlich!

Beim Frühstück erfuhr sie die Nachricht zusammen mit allen anderen.

»Er muss heruntergebrochen sein«, sagte der alte Patters.

»Wie denn, heruntergebrochen?«, fragte Sir Thomas.

»Er hat sich wohl aus der Dachbekrönung gelöst, Sir, und ist in die Tiefe gestürzt«, präzisierte Patters.

»Was ist heruntergebrochen?«, fragte Virginia.

»Der Schlussstein, Countess.« Patters sah sie eindringlich an.

»Unser Schlussstein, der Stein im Ostturm?«, entgegnete sie bestürzt.

»Nicht nur das«, fügte Patters hinzu. »Er hat auch noch einen Teil der Dachbekrönung mitgerissen. Das Loch ist etwa so groß wie ein Teetablett.«

»Ein Loch im Dach?«, rief der Lord.

»Der Schlussstein?«, rief Virginia. »Wo ist das Herz von Cormoran hingefallen?«

»Ich fürchte, hinab ins Meer, Countess«, antwortete Patters.

»Das Herz des Ungeheuers ruht auf dem Meeresgrund?« Erschüttert hielt sie ihre Hand vor den Mund.

»Mich interessiert unser Dach weit mehr als der vermaledeite Stein.« Sir Thomas stand auf. »Patters, verständigen Sie den Dachdecker aus Mousehole.«

»Ist bereits erledigt, Mylord.«

»Und den Klempner aus …«

»Der Klempner aus Land’s End ist auch unterwegs«, vervollständigte Patters.

»Mein guter Patters, wie immer zehn Schritte voraus«, rief der Lord, während er den Duke eintreten sah. »Es tut mir leid, lieber Alfred, dass Sie Zeuge unserer wetterbedingten Unannehmlichkeiten werden«, begrüßte er ihn. »Und das an einem so außergewöhnlichen Morgen.«

»Was ist an dem Morgen denn außergewöhnlich?«, fragte Moyra, die mit Ethelred bereits beim Frühstück saß.

Virginia lief an die Tafel. »Darf ich es sagen, Papa?«

»Nein, mein Kind, du darfst es nicht sagen. Das ist ein Ereignis, das ich persönlich verkünden werde. Zum richtigen Zeitpunkt, heute Abend beim Dinner. Ich habe zu diesem Zweck einige Gäste eingeladen.«

»Was gibt es denn so Wichtiges?« Auf Moyras Wangen tauchten hektische Flecken auf.

»Du hörst doch, zum richtigen Zeitpunkt!« Lachend lief Virginia ans Buffet, nahm Eier und Tomaten, Bohnen und Bacon und setzte sich. Der Duke begnügte sich mit Toast und einer Tasse Earl Grey. Patters entfernte sich vom Buffet und verließ unbemerkt die Halle.