Du hast dich doch hoffentlich nicht wirklich mit ihm verlobt«, rief Timmy am Steuer des Vauxhall. »Nein, Nana, das glaube ich nicht. Ich glaube es einfach nicht.«
Mit gesenktem Kopf saß Virginia neben ihm. Nicht die Erzählung hatte sie so angestrengt, es war der Schmerz, jene Zeit noch einmal zu durchleben.
»Ich war gefangen.« Sie sprach so leise, dass Timmy sich zu ihr beugte. »Ich sah mein ganzes kommendes Leben vor mir, als ob ich es bereits hinter mir hätte. Eine endlose Aneinanderreihung von Demütigungen tauchte vor mir auf, die Unterwerfung unter einen Mann, der seine Maske hatte fallen lassen. Tagein tagaus seine widerliche Gegenwart zu ertragen, immer das Geheimnis für mich zu behalten, mit dem er mich an sich fesselte. Stets die Fassade zu wahren, die oberflächlichen Gespräche zu führen, die er von mir erwartete und die von der Tatsache ablenkten, dass ich diesen Mann aus tiefster Seele hasste. Er ruinierte meine Familie, er trieb mich an den Rand des Abgrunds. Und es gab niemanden, der mich davor zurückhielt, in diesen Abgrund zu springen.« Virginia atmete hastig.
»Nicht, Nana, du sollst dich nicht so aufregen.« Besorgt legte Timmy seine Hand auf ihre Schulter. »Wie wir wissen, bist du damals nicht in den Abgrund gesprungen.« Er lächelte ermunternd. »Willst du nicht der Reihe nach erzählen? Was war dieses schreckliche Geheimnis, weshalb du deinen Vater nicht ins Vertrauen ziehen konntest?«
Virginia schwieg.
»Was ist an dem Abend geschehen, als deine Verlobung bekannt gegeben werden sollte?«
Ein quäkendes Hupen ließ Timmy zusammenfahren. Hinter ihnen hielt ein Fischlaster, der die Inselstraße passieren wollte. Beide hatten nicht bemerkt, dass die Flut zurückgegangen war. Vor ihnen erstreckte sich das Band aus buckligen Steinen bis zur Insel.
Virginia hob den Blick. »Wir können weiterfahren.«
»Aber wann erzählst du es mir?«, drängte Timmy. »Wann erzählst du mir, was damals passiert ist?«
Ein zweites Mal wurde energisch gehupt.
»Fahr los, Timmy.«
Er ließ den Vauxhall vorsichtig anrollen.
Harry Starmuehler war ein deutscher Architekt. Viele fragten sich, wieso der National Trust for Places of Historic Interest or Natural Beauty eine deutsche Firma mit der Restaurierung von Mount St. Michael’s beauftragt hatte. Der National Trust war eine gemeinnützige Organisation, die denkmalgeschützte Objekte in England, Wales und Nordirland betreute. Wegen des heruntergekommenen Zustands des Schlosses und der Einsturzgefahr mancher Gebäudeteile hatten die Touristenführungen eingestellt werden müssen. Das Schloss wurde einer Generalsanierung unterzogen, und Harry Starmuehler war der Mann, dem dieses Projekt unterstand.
»Hallo, hallo«, begrüßte er die Ankömmlinge. Er hatte die Vierzig bereits überschritten, strich seine Jugendlichkeit aber deutlich heraus. Starmuehler trug das Haar lang bis auf die Schultern. Unter dem Kurzarmhemd spannten die Muskeln. Mit seinem Herzmündchen lachte er Virginia an.
»Sie sind im Ozean gestrandet, wie ich gesehen habe«, rief er mit deutschem Akzent.
»Im Ozean kann man nicht stranden, Mr Starmuehler. Die Flut hat uns überrascht«, gab Virginia zurück, während Timmy den Rollstuhl bereit machte.
»Immer herein in die gute Stube.« Starmuehler zeigte zu den Türmen des Schlosses hoch.
Mit gemischten Gefühlen betrachtete Timmy den steilen Pfad, der zum Schloss führte. Auf halber Höhe war es kein Weg mehr, sondern eine verwitterte Treppe. »Wie sollen wir da jemals hinaufkommen?«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich habe Ihre Großmutter im ehemaligen Hafenmeisterhaus untergebracht.«
Starmuehler zeigte auf ein urig anmutendes Cottage direkt vor ihnen. »Später, für Ihren Besuch im Schloss, habe ich den Lastenaufzug vorbereiten lassen.«
Starmuehler ging voraus. »Sie werden in luftige Höhen emporschweben, Countess, bis man Sie sachte in der großen Halle wieder absetzen wird.«
»Wie einen Zementsack«, lachte Virginia. »Ach, sagen Sie doch bitte nicht Countess zu mir.«
»Aber Sie sind die 20. Countess of Laureal, Ma’am.«
»Theoretisch.« Virginia seufzte. »Mir ist es trotzdem lieber, Sie sagen Mrs Barnes zu mir.«
Timmy schob den Rollstuhl. Sie erreichten das Cottage. Der gewinnende äußere Eindruck täuschte. Im Inneren erwies es sich als heruntergekommen, düster und klamm.
»Meine Großmutter soll hier … Hier sollst du, Nana …?«
»Schon gut, Timmy. Ich kenne dieses Haus gut, ich mag es. Mit diesen Räumen verbinde ich die wenigen schönen Erinnerungen, die ich an diese verfluchte Insel habe.«
»Verflucht?«, fragte Starmuehler. »Sie werden mit dem Fluch doch nicht etwa das Herz von Cormoran meinen?«
Sie musterte den Bauunternehmer. »Alles hat mit dem Herz von Cormoran zu tun, einfach alles. Und ich könnte mir vorstellen, dass auch Sie sich in erster Linie wegen des Herzens hier aufhalten, Mr Starmuehler.«
Er lachte harmlos, doch ein neugieriger Funke spielte in seinen Augen. »Das Herz wurde nie gefunden, wie Sie wahrscheinlich wissen, oder? Ich nehme an, das ist Ihnen bekannt, Mrs Barnes.«
Virginia hob den Kopf. »Sind Sie etwa ein Schatzsucher, Mr Starmuehler? Hoffen Sie, das Herz aufzuspüren, indem Sie das ganze Schloss umkrempeln und keinen Stein auf dem anderen lassen?«
»Ich bin Bauingenieur, liebe Mrs Barnes.« Er strich sich das Haar aus der Stirn. »Es ist mein Beruf, keinen Stein auf dem anderen zu lassen.«
»Ich hatte mich schon gewundert, was Ihre sonderbare Einladung zu bedeuten hatte.«
»Welche Einladung?«, fragte Timmy. »Ich dachte, wir sind hergekommen, um deinen hundertsten Geburtstag zu feiern?«
»Stimmt schon. Aber auf die Idee gebracht hat mich Mr Starmuehler.«
»Wollen Sie nicht Harry zu mir sagen?« Er sah sich in dem düsteren Living Room um und fasste an den alten Heizkörper. »Ich fürchte, die Heizung wurde noch nicht angestellt. Ich werde das veranlassen.«
»Bemühen Sie sich nicht«, widersprach Virginia. »Timmy wird uns ein Feuer machen. Nicht wahr, mein Lieber?«
»Feuer? Ich soll …? Bei uns zu Hause drehe ich nur an dem Rädchen, und schon wird es warm.«
»Du wirst feststellen, dass auf St. Michael’s Mount nichts so ist wie zu Hause«, schmunzelte Virginia. »Dort liegt Weichholz und ein scharfes Messer. Zuerst machst du Späne, die feuerst du an und legst größere Scheite darauf. Alles Weitere erledigt der gute alte Kamin von allein.«
Starmuehler trat zu ihnen. »Kommen Sie erst mal an und packen Sie in Ruhe aus«, ermunterte er die beiden. »Was meinen Sie, wann werden Sie so weit sein, das Schloss zu besichtigen?«
»Jederzeit, Mr Starmuehler.«
»Wunderbar. Ich bereite alles vor.« Er räusperte sich. »Und später würde ich mich gerne in Ruhe mit Ihnen unterhalten, Countess … Mrs Barnes, wenn Ihnen das recht ist.«
Sie drehte den Rollstuhl herum und sah ihn mitleidig an. »Wie ich sehe, hat das Herz von Cormoran bereits Besitz von Ihnen ergriffen, Harry«, antwortete sie eindringlich. »Hüten Sie sich. Es hat viele Menschen unglücklich gemacht. Einer davon war ich.«
* * *
Das Feuer knisterte und loderte. Timmy war mächtig stolz auf seine Leistung. Allerdings wärmte es nur, wenn man sich in unmittelbarer Nähe des Kamins aufhielt. Er rieb sich die Hände. »Das Feuer brennt. Wieso wird es nicht warm?«
»Jetzt siehst du mal, wie unsere Vorfahren jahrhundertelang gelebt haben.« Vergnügt kurvte Virginia durch das Cottage. »Etwas anderes als ein Kaminfeuer gab es auch im Schloss nicht.«
»Ist dir nicht kalt?«
»Im Gegenteil, heiß.« Virginia fuhr ins Schlafzimmer. Timmy hörte sie vor Freude seufzen. »Ach, wie schön, wie schön!«
Timmy folgte ihr. »Was ist schön, Nana?«
»Alles, alles, sieh doch nur.«
Er betrachtete das uralte Bett, in dem der Holzwurm sein Unwesen trieb. Eine Kommode mit Waschschüssel stand da, daneben ein Krug. Ein kleiner Spiegel. Sonst nichts. Nicht einmal Vorhänge gab es.
»Wo sind die Gardinen?«, fragte er, ernüchtert von der armseligen Einrichtung.
»Gardinen braucht man hier nicht. Das Haus liegt am Wasser. Wer sollte denn zum Fenster hereinsehen, etwa die Möwen?«
»Müssten wir nicht allmählich aufbrechen?« Timmy beobachtete, wie seine Großmutter alle Schubladen öffnete.
»Wohin?«
»Aufs Schloss. Starmuehler hat gesagt …«
»Starmuehler soll warten. Es ist in seinem eigenen Interesse, wenn er Geduld beweist. Du gehst jetzt erst mal rüber zum Fish-n’-Chips-Stand und holst uns zwei anständige Portionen. Ich sterbe vor Hunger.«
»Du willst hier essen, in dieser Bude? Können wir nicht ins Restaurant gehen?«
Streng sah seine Großmutter ihn an. »Ich habe nicht gewusst, dass du so ein verweichlichtes Bürschchen bist, Tim. Auf St. Michael’s gibt es kein Restaurant.«
»Na, dann eben in den Pub«, schlug er vor.
»So etwas hat es hier nie gegeben.« Virginia hob den Blick zum Fenster. Vor einem bleigrauen Himmel zeichnete sich das Schloss ab. »Es gibt auf der Insel nur dieses böse alte Gebäude und den Fluch, der darauf lastet.« Sie wandte sich zu ihrem Enkel. »Willst du deine Nana etwa verhungern lassen?«
»Ich geh ja schon. Und beim Essen erzählst du mir dann mehr, ja?«
»Fish n’ Chips, mein lieber Junge.«
Timmy verließ das Cottage, während Virginia weiter in der Vergangenheit stöberte.