In einer halben Stunde musste Virginia in der Halle erscheinen. Daddy hatte sie gebeten, heute das weiße Kleid zu tragen, ein rüschenbesetztes Ding, albern und aus der Mode, doch für ihren Vater stellte es den Inbegriff der Unschuld dar. Ihre Unschuld war Virginia an diesem Abend weniger wichtig als die Wahrheit.
Sie durchquerte den nördlichen Korridor und trat ohne anzuklopfen bei ihrer Schwester ein.
Moyra war in Abendgarderobe. Das blassgrüne Kleid kontrastierte mit ihrem rotblonden Haar. »Was willst du, Vi?«
»Wie mir scheint, tust du das bereits.«
»Unter vier Augen.«
Virginias Schwager Ethelred hielt ein Glas Brandy in der Hand und musterte die Schwester seiner Frau mit hochgezogenen Brauen.
»Ich wüsste nicht, warum Ethelred nicht dabei sein kann.« Moyra reichte ihrem Gatten die Haarbürste.
»Lass mich das machen.« Virginia sprang dazwischen. »Als ich klein war, hast du mir oft erlaubt, dein Haar zu bürsten.« Sie stellte sich hinter Moyra. »Ich möchte mich mit dir über Simon unterhalten.«
»Welchen Simon?« Moyra richtete den Nacken auf. »Simon, den Schmied?«
»Du weißt sehr gut, dass ich nicht unseren alten Schmied meine.« Energisch strich Virginia mit der Bürste über Moyras Locken. »Ich meine Sir Simon.«
Ethelred trank aus. »Ich glaube, sie meint den Bruder des Duke. Du weißt doch, meine Liebe, jener bedauernswerte Junge, der sich vor ein paar Monaten das Leben genommen hat.«
Virginia nickte der Schwester im Spiegel zu. »So ist es. Über ihn möchte ich mich unterhalten.«
»Weißt du was, Darling? Warum nimmst du vor dem Essen nicht noch einen Drink mit Daddy?«, wandte Moyra sich da an ihren Mann. »Vi und ich kommen gleich nach.«
Ethelred hatte keine Lust, seiner Frau zu widersprechen und verließ das Zimmer.
Schweigend bürstete Virginia das Haar ihrer Schwester weiter.
»Was willst du mir über Sir Simon erzählen?«, fragte Moyra ungeduldig.
»Ich brauche dir nichts zu erzählen. Du weißt bereits alles. Schließlich hast du ihn auf dem Gewissen.«
Unten in der Halle fing das kleine Orchester zu spielen an, das der Earl für diesen Anlass auf die Insel gebeten hatte.
* * *
»Du wirst von nun an nicht mehr oft mit deinem Daddy tanzen«, sagte Sir Thomas. »Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Du warst zwei Jahre alt, da habe ich dich auf meine Füße gestellt. So haben wir miteinander getanzt.«
Virginia kämpfte mit den Tränen. »Ich weiß es auch noch, Daddy. Ach, wenn es nur wieder so sein könnte.«
»Du wirkst nicht besonders glücklich heute, mein Liebling.« Im Tanz lehnte sich der Lord zurück. »Blass bist du, Vi. Was ist mit dir?«
»Ich habe wieder einmal vergessen, zu essen«, log sie. »Nachher, wenn serviert wird, geht es mir bestimmt besser.«
»Du hast kaum ein Wort mit deinem Bräutigam gewechselt.«
»Noch ist er nicht mein Bräutigam.«
Dem Lord fiel der eisige Ton seiner Tochter nicht auf. »Freddie sieht heute Abend wieder wie gemeißelt aus. Eigentlich dürfte ein Mann nicht so schön sein, finde ich.«
»Wenn er dir so gut gefällt, warum heiratest du ihn nicht?«
Mitten auf dem Parkett blieb Sir Thomas stehen. »Was hast du, Virginia? Irgendetwas muss passiert sein. Habt ihr euch gestritten?«
Sie senkte den Blick. Sie sollte das Lamm sein, das zur Schlachtbank geführt wurde. Entweder sie opferte sich oder ihre Familie. Wenigstens hatte sie den Eröffnungstanz nicht mit dem Mann tanzen müssen, den sie verabscheute. Traditionell gehörte der erste Walzer einem Kavalier, der ältere Rechte hatte, ihrem Vater.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Es ist alles in Ordnung, Papa. Mir ist nur ein bisschen schwindlig, nichts weiter. Wollen wir uns setzen?«
»Mit unserem Tanz haben wir das Fest eröffnet«, nickte Sir Thomas. »Nun sollen unsere Gäste einander auf die Füße treten. Und du ruhst dich aus.«
Sie kehrten zu der Stuhlreihe zurück, die für die Gastgeberfamilie an der Stirnseite der Halle aufgestellt worden war. Der Earl saß in der Mitte, rechts Virginia, zu seiner Linken Moyra und Ethelred.
»Wo ist Freddie denn eigentlich?« Suchend sah der Lord sich um.
»Dort drüben unterhält er sich mit einigen Herren«, sagte Ethelred.
»Sind das nicht die Leute von der Savings & Loan?«, staunte Sir Thomas. »Was hat er mit diesen Kredithaien zu reden?«
Auch Virginia beobachtete Freddie. Eine Zigarette in der Hand gab er sich den Anschein, ein zwangloses Gespräch zu führen. Sie wusste, dass die Dinge anders lagen.
»Nach dem Essen mache ich die Ankündigung«, raunte der Earl seiner Tochter zu. »Einverstanden, Vi?«
»Wie du wünschst, Papa.«
Der Duke verabschiedete sich von den Finanzleuten und näherte sich lächelnd. »Was für ein hübsches Kleid, Darling.«
Sir Thomas nickte seiner Tochter zu. »Siehst du, Freddie gefällt das Kleid auch. Ich habe es nämlich ausgesucht.«
Der Duke breitete die Arme aus. »So und nicht anders stellt man sich eine glückliche Braut vor.«
Am liebsten hätte Virginia einen Bihänder von der Wand gerissen und Freddie damit durchbohrt. Stattdessen nahm sie alle Kraft zusammen und lächelte den Duke mit hasserfüllten Augen an. »Du siehst auch gut aus, Freddie.«
»Wollen wir tanzen?« Auf ein Zeichen des Duke trat ein Diener mit einer Schale näher. Freddie ließ die Zigarette hineinfallen und bot Virginia seinen Arm.
Beim Gedanken, ihn anfassen und sich von allen Gästen anstarren lassen zu müssen, während sie mit ihm tanzte, wurde Virginia übel.
»Was ist denn, mein Kind?«, fragte Sir Thomas. »Ein schöneres Paar als euch wird man in ganz Cornwall nicht finden.«
Sie stand auf. Sie wankte. Vor ihr senkte sich der Boden. Sie drohte in den Abgrund zu stürzen, den Freddie für sie geöffnet hatte. Um nicht zu fallen, ergriff sie seine Hand. Dabei sah sie ihre Schwester an. Die Augen Moyras waren flehentlich und drohend zugleich.
Virginia musste nur diesen schrecklichen Abend überleben, ohne dass es zum Skandal kam; das allein war ihre Pflicht. Zugleich ertrug sie es nicht, der Erpressung dieses skrupellosen Menschen nachzugeben. Alles in ihr lehnte sich dagegen auf. Sie war Virginia Trevelyan, eine freie Frau mit freiem Willen. Sie wollte ihr Leben auf eigene Faust erobern. Lernen wollte sie und reisen, mit einer Fülle von Erfahrungen heimkehren und schließlich einen Mann heiraten, den sie sich selbst aussuchte und den sie innig liebte. In wenigen Tagen begann das 20. Jahrhundert. Es sollte das Jahrhundert der Frauen werden, Virginias Jahrhundert. Es sollte ein großartiges Leben werden! Doch wie konnte sie das erreichen, wenn sie einem Mann mit dem Äußeren eines Edelmannes und dem Herzen eines Betrügers ihr Jawort gab?
An Freddies Arm trat Virginia auf die Tanzfläche. Die übrigen Gäste machten Platz. Sie wollten Zeuge sein, wie der attraktive junge Duke und die erblühte Rose von Cornwall sich im Kreise drehten. Liebevoll zog er Virginia an seine Brust.
Sie wehrte sich. »Treib es nicht zu weit, Freddie.«
»Reiß dich zusammen.« Er lächelte auf eine Art, dass jedermann sehen konnte, wie dem Duke die Liebe aus den Augen sprang. »So manche Frau im Saal wäre gern an deiner Stelle.«
»Weil keine andere Frau im Saal weiß, dass du ein Ungeheuer bist.«
»Ein blendend aussehendes Ungeheuer.«
»Ich hasse dich.«
»Hass ist ein sehr intensives Gefühl. Darin liegt immerhin ein Anfang.« Er vollführte eine schwungvolle Drehung. »Du hast mit Moyra gesprochen?«
»Woher weißt du das?«
»Man sah dich aus ihrem Zimmer kommen.«
»Du spionierst mir nach?«
»Nur wenn es nötig ist.« Im Tanz beugte er seine Braut nach hinten und zog sie mit vollendeter Bewegung wieder hoch. Der Saal applaudierte. »Und was sagt Moyra?«
»Sie behauptet, dass du lügst.«
»Das war zu erwarten«, antwortete er unbeeindruckt. »Hast du ihr von Simons Bekenntnis erzählt? Wenn ich mit seiner Beichte an die Öffentlichkeit gehe, wird Moyra anders darüber denken.«
Plötzlich packte der Duke Virginia mit brutalem Griff und wirbelte sie im Kreis herum. »Sie hat meinen kleinen Bruder in den Tod getrieben, Darling! Sie hat ihm ihre Liebe vorgegaukelt und ihn eiskalt fallenlassen, nachdem sie ihren Spaß mit ihm gehabt hatte. Simon war noch ein halbes Kind, er wusste nichts von der Gemeinheit dieser Frau. Als ich ihn aus ihren Fängen befreien wollte, war es schon zu spät. Bevor Simon sich das Leben nahm, hat er alles gebeichtet, und zwar Schwarz auf Weiß! Und deine Schwester, diese Ehebrecherin, behauptet, dass ich lüge?«
Die beiden drehten sich so rasend schnell im Kreis, dass niemand der Umstehenden von Freddies hasserfüllten Rede etwas mitbekam. Atemlos blieben sie stehen.
Virginia keuchte. »Wozu willst du mich heiraten? Du liebst mich nicht. Ich habe mit dem Tod deines Bruders nichts zu tun.«
»Du bist eine Trevelyan, das genügt.«
Das Orchester stimmte eine heitere Melodie an. Die übrigen Gäste fanden sich wieder zum Tanz ein.
»Du willst Rache nehmen?«, fragte sie leise.
»Nein. Rache ist etwas für Idioten. Ich muss ein Mitglied dieser Familie werden. Erst dann kann Moyra mir den Preis bezahlen, den ich verlange, damit ich Simons Geständnis nicht veröffentliche.«
»Womit soll Moyra dich bezahlen?« Virginia sah zu ihm hoch.
Der Duke musterte sie spöttisch.
»Du willst … Du verlangst, dass sie dir ihr Erbe überschreibt? Das Land, die Minen, den Besitz der Trevelyans? Damit wäre meine Familie mittellos.«
»Und wenn schon.«
»Dann stimmt es also, was man sich erzählt?«
»Was erzählt man sich denn?«
»Dass du seit dem Tod deines Vaters schlecht gewirtschaftet hast. Dass die Hailshams hoch verschuldet sind.«
Er wiegte den Kopf. »Es ist nicht zu leugnen, dass ich gewisse Außenstände habe.«
»Deshalb hast du dich vorhin mit den Leuten von der Savings & Loan unterhalten.«
Virginia blieb stehen. »Aber dann …«
»Ja?«
»Dann brauchst du mich doch nicht zu heiraten. Wenn es dir nur um Moyras Erbschaft geht, muss ich nicht deine Frau werden.«
Freddie lächelte in die Runde. »Nicht so laut.« Mit eisernem Griff führte er sie an die Bar, wo ein Valet Erfrischungen reichte.
»Wir machen es genau so, wie ich geplant habe.« Auf den fragenden Blick des Valet bestellte der Duke Whisky. »Heute noch gibt dein Vater die Verlobung bekannt.«
»Nein!«
Er zog sie beiseite. »Hör mir mal zu: Ich habe die Macht, deine Familie in einen Skandal zu stürzen, von dem sie sich nie wieder erholt.«
»Warum, Freddie, warum nur?«
»Weil mir das Wasser bis zum Hals steht«, fuhr er sie an. »Alles ist bereits mit der Savings & Loan vereinbart. Sie bereiten die Transaktion vor, es wird in aller Stille abgewickelt. Sobald ich dein Mann bin, geht der Besitz auf mich über. Wenn wir es richtig anstellen, dürfte nicht einmal dein Vater etwas davon erfahren.«
Einen solchen Grad an Bosheit hatte sich Virginia bis jetzt nicht vorstellen können. Als sie Freddie in die Augen sah, wusste sie, er würde vor nichts zurückschrecken.
»Meine Damen und Herren, liebe Gäste!«, hörte sie ihren Vater von der anderen Seite des Saales.
Die Musik endete. Sir Thomas stand auf und erhob sein Glas. »Ich hatte mir vorgenommen, Sie erst nach dem Dinner mit meiner Überraschung zu erfreuen. Doch nun sehe ich, die Sache duldet keinen Aufschub. Nicht wahr, Virginia?«
Sie löste sich von Freddie und trat in den Saal. »Welche Sache, Daddy?«
»Wenn ich euch so betrachte, dich und den ehrenwerten Duke, unseren Gast, dann wird mir klar, dass hier ein Feuer brennt, das unser Fest erhellt und unser aller Herzen erwärmt. Virginia, meine Tochter, mein lieber Alfred, soll ich es denn länger für mich behalten?« Der Earl machte eine große Geste.
»Nein, Papa, nein – « Sie taumelte auf ihn zu. »Bitte, Daddy …«
Der Duke ergriff ihren Arm. Seine bösen Augen flackerten.
»Ladies and Gentlemen«, fuhr Sir Thomas fort. »Es ist mir eine Ehre und zugleich das größte Vergnügen …«
Ein Schrei, ein unerhörter Lärm unterbrach die Worte des Hausherren. Alle Köpfe fuhren herum.
Die innere Osttreppe schmiegte sich an der Mauer des Turmes entlang. Da sie ziemlich breit war, hatte man an der ursprünglichen Konstruktion nichts verändert und die Treppe ohne Geländer belassen. Sämtliche Angestellten hielten sich allerdings an die Anweisung von Chefbutler Patters und benützten die Treppe mit der gebotenen Vorsicht.
Ein Tablett in beiden Händen tragend, war Patters im Begriff gewesen, über die Treppe in die Halle hinabzusteigen. Der Achtzigjährige musste fehlgetreten sein. Auf einer der obersten Stufen verlor er das Gleichgewicht, fand keinen Halt und stürzte aus einer Höhe von fünf Yards herab. Sein Körper schlug auf dem Steinboden auf. Das Tablett entglitt ihm und machte einen gewaltigen Lärm. Lionel Patters rührte sich nicht mehr.