Niemand getraute sich, Patters zu bewegen. Man bettete ein Kissen unter seinen Kopf und deckte den Bewusstlosen zu. Bis Dr. Murphy eintreffen würde, konnte eine Stunde vergehen. Die Flut hatte eingesetzt, man musste ans Festland rudern, um ihn zu holen.
»Ich kann eure Verlobung unter diesen Umständen nicht bekanntgeben«, sagte Sir Thomas. »Das sehen Sie doch ein, lieber Alfred.«
»Das versteht sich von selbst, Mylord«, antwortete der Duke.
»Ihr beide seid jung. Ich bin sicher, es wird sich bald wieder eine passende Gelegenheit ergeben.« Der Earl nickte betrübt, mit Bedauern schüttelte er dem Duke die Hand. »Es tut mir leid, Euer Gnaden, aber ich muss mich jetzt um meinen alten Freund, meinen lieben Patters, kümmern.«
Niemand außer Virginia bemerkte die Unruhe in Freddies Verhalten. Wegen eines greisen Bediensteten wurden seine Pläne über den Haufen geworfen oder zumindest für einige Zeit aufgeschoben.
Als er sich ihr zuwandte, bemühte sie sich, ihre Erleichterung nicht zu deutlich zu zeigen. »Der arme Patters. So ein Unglück«, sagte sie.
Freddie trat auf sie zu. »Zwischen uns hat sich nichts geändert. Ich hoffe, das weißt du.«
Mit den Augen suchte Virginia ihre Schwester in der Halle. Moyra war nicht mehr da. »Ich kann hier nicht länger als jungfräuliche Braut herumstehen. Ich muss mich umziehen. Du entschuldigst mich.«
Sie lief in den ersten Stock und fand Moyra auf ihrem Zimmer.
»So ein Glück hat man nur einmal und nie wieder«, sagte Virginia beim Eintreten.
Ethelred entledigte sich gerade seines Fracks. »Du bezeichnest es als Glück, dass der gute Patters sich fast das Genick gebrochen hat?«
Mit einem Blick machte Moyra der Schwester klar, dass sie vor Ethelred den Mund zu halten habe. »Mein Lieber«, sagte sie zu ihrem Mann. »Ich sehe gerade, ich habe meine Stola unten vergessen.«
»Wir gehen zu Bett, Darling. Wozu brauchst du da eine Stola?«
»Ach, sei doch so lieb«, säuselte Moyra. »Ich mag nicht, dass sie dort liegenbleibt, während sauber gemacht wird.«
Ethelred entging nicht, dass er zum zweiten Mal aus dem Zimmer geworfen wurde. Er fügte sich auch diesmal, zog den Frack an und gehorchte.
»Durch Patters Unfall hast du Zeit gewonnen«, rief Virginia, in dem Augenblick, als sich die Tür geschlossen hatte. »Jetzt kannst du die Sache mit Freddie in Ordnung bringen.«
»Wie stellst du dir das vor?«
»Er will Geld. Er braucht dringend Geld und wird alles tun, es zu bekommen. Gib ihm, so viel du kannst, dann bekommst du die belastenden Dokumente.«
»Was redest du denn?« Moyra stand auf. »Freddie kriegt mein Geld nicht. Nicht auf diese Weise.«
»Ich sehe keine andere Möglichkeit«, entgegnete Virginia überrascht.
»Natürlich, weil es nicht dein Geld ist.«
»Aber wenn du dich nicht darauf einlässt, dann …« Virginia versuchte, die Tragweite in Worte zu fassen. »Willst du Papa, willst du unsere Familie diesem Skandal aussetzen?«
»Skandal!«, rief Moyra abschätzig. »Es ist nicht erwiesen, dass sich Simon wegen mir von den Klippen gestürzt hat.«
Virginia trat vor ihre Schwester. »Du hast große Schuld auf dich geladen. Du musst jetzt dazu stehen.«
»Du bist ein Baby«, zischte Moyra. »Was weißt du schon von Schuld?«
* * *
»Um welche Schuld geht es?« Timmy hielt die fettigen Finger in die Höhe. Er hatte nicht daran gedacht, genügend Servietten von der Fish-n’-Chips-Bude mitzubringen. Der Verpackungsmüll türmte sich vor ihnen auf dem Tisch. »Was meinst du mit Schuld, Nana?«
Virginia hatte diesen seligen Ausdruck im Gesicht, den sie bekam, wenn eine Mahlzeit ihr den Bauch wärmte. Schellfisch in Backteig und fetttriefende Chips waren nicht gerade die Diät, die einer Hundertjährigen bekam, aber genau deshalb ließ sie sich das Essen so gut schmecken.
Timmy hakte noch einmal nach. »Was hat deine Schwester denn getan?«
Virginia tauchte eine frittierte Kartoffel in Ketchup. »Das kann ich dir nicht erzählen.«
»Komm, Nana, du erinnerst dich an jedes Detail, aber ausgerechnet die Sache mit der Schuld deiner Schwester willst du vergessen haben?«
»Ich habe nichts vergessen. Was Moyra tat, hat sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt. Ich will aber lieber nicht darüber sprechen.«
»Es ist vierundachtzig Jahre her. Deine Schwester ist lange tot. Irgendwann verjährt selbst die ärgste Schuld.«
Aus ihren freundlichen Augen sah Virginia ihn an. »Du hast recht. Vielleicht hilft es mir, wenn ich es mir von der Seele reden kann.«
»So schlimm ist es?«
»Urteile selbst.« Sie schob die Styroporbox beiseite und lehnte sich zurück. Der Esstisch wackelte altersschwach. Das Feuer machte ein helles Geräusch. Allmählich wurde es warm im Living Room.
»Meine Schwester Moyra war eine wunderschöne Frau. Ihre Schönheit galt in der ganzen Grafschaft als einmalig. Das volle rotgoldene Haar, ihre Augen spielten zwischen Blau und Violett, die hohe Figur, die gewinnende Stimme – selbst für mich, ihre kleine Schwester, war Moyra das Schönste, was ich je gesehen hatte. Du kannst dir nicht vorstellen, was die Männer aufführten, wenn sie in ihre Nähe kamen. Sie stolzierten wie die Pfaue, röhrten wie die Hirsche, sie bemühten sich, geistreich und amüsant zu sein. Sie überhäuften meine Schwester mit Geschenken, luden sie zu Kutschenpartien oder Segeltouren ein. Sie fuhren mit ihr sogar ins Theater nach London. Als ich vier war, hatte Moyra bereits sieben Heiratsanträge ausgeschlagen. Unserem Vater gefiel das Geturtel und die ganze Aufregung nicht, die um seine Älteste gemacht wurde. Daddy merkte, wie der dauernde Rummel die schöne Moyra veränderte. Meine Schwester war klug, schlagfertig, einfallsreich. Sie hätte aus ihrem Leben etwas Großartiges machen können. Doch sie verkraftete es nicht, dass alle Welt sich nur auf ihre Schönheit fixierte. Irgendwann während der Jahre muss etwas in Moyras Innerem zerbrochen sein. Ihre Klugheit verwandelte sich in Überheblichkeit, ihre Schlagfertigkeit in Zynismus. Sie sah auf die Männer herab, die sie umschwärmten. Die armen Teufel, nannte sie ihre Verehrer manchmal, wenn wir allein waren.«
»Moyra hat dich, ihre Babyschwester, ins Vertrauen gezogen?«, fragte Timmy verwundert.
»Sie hatte ja sonst niemanden«, erwiderte Virginia. »Sie hatte keinen Menschen, keinen einzigen Freund. Die Männer verliebten sich sofort in sie, und die Frauen hatten regelrecht Angst vor ihr. Sobald Moyra in der Nähe war, vergaßen die Männer ihre eigenen Frauen. Die Ladys der Umgebung hielten die junge Countess daher möglichst von ihrem Bekanntenkreis fern.«
Timmy pickte in den Chips herum. »Bedauernswerte Moyra.«
»War sie das wirklich?« Virginia zog den Schal um ihre Schultern. »Wir schrieben noch das 19. Jahrhundert. Es gab nur wenige Frauen, die sich den Luxus leisten konnten, zu studieren oder ihr Leben mit sinnvollen Dingen zu erfüllen. Wenn ein Mädchen ins Teenageralter kam, lag seine einzige Perspektive darin, einen netten Mann zu finden. Meistens suchten die Eltern die Ehemänner für ihre Töchter aus. Sobald die junge Frau verheiratet war, wechselte sie nur die Art ihrer Unterwerfung. Bis zur Hochzeit bestimmten die Eltern ihr Leben, danach übernahm der Gatte diese Rolle. Aber Moyra hätte diesem Zwang mühelos entfliehen können. Daddy war bereit, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Sie hätte die Welt bereisen, sich mit Wissenschaft oder Kunst beschäftigen können. Ihr wäre möglich gewesen, was vielen anderen verwehrt war: ein erfülltes Leben zu führen.«
»Wieso hat sie das nicht getan?«
»Weil Moyras Macht, ihre tatsächliche Macht, zu verlockend für sie war.«
»Welche Macht meinst du?«
»Die Macht der Schönheit. Wer das Glück oder den Fluch erfährt, solche Schönheit zu besitzen, kann der Versuchung schwer widerstehen, diese Macht zu benützen. Moyra hat es getan. Sie hat die Männer tanzen lassen, sie spielte mit ihnen wie Puppen. Wie viele Affären sie wirklich hatte, weiß ich nicht. Ich glaube, Moyra hat es manchmal nur bei dem Spiel bewenden lassen.«
»Aber sie hatte geheiratet. War es ihr da nicht verwehrt …?« Timmy ließ die Frage offen.
»Die Verbindung zwischen Ethelred und ihr war eine reine Vernunftehe. Die beiden haben sich in diesem Punkt nichts vorgemacht. Ethelred besaß Zinkminen, Moyra die Manufakturen, die das Zink verarbeiteten.«
»Und dein Vater, was sagte er dazu?« Timmy stand auf und warf Holz ins Feuer.
»Daddy war mit dieser zweckdienlichen Heirat einverstanden, aber er hat Moyra nie dazu gedrängt. Er hätte ihr bestimmt eine glücklichere Ehe gewünscht. Fahr mich mal ein bisschen näher ans Feuer heran.«
Timmy schob den Rollstuhl vor den Kamin. »War die Ehe denn unglücklich?«
»Glück – Vertrauen – Liebe«, seufzte Virginia. »Ich finde es immer schwerer, zu verstehen, was das in Wirklichkeit ist. Traurigkeit kann zugleich auch Glück sein, Liebe ist manchmal ein Vogel, der in einer Pfütze badet. Vertrauen ist etwas, das wir in uns tragen, egal, was das Leben uns mit den Jahren beschert. Ich glaube, Moyra kannte diese Gefühle nicht, sie sind irgendwann in ihr abgestorben. Sie brauchte ununterbrochene Bestätigung, von aller Welt, von jedermann. Sie war so sehr daran gewöhnt, dass alle sie umwerfend fanden und die Männer verrückt nach ihr waren, dass sie es als unerträglich empfand, als ihre Wirkung nachließ.« Virginia sah zu Timmy hoch. »Du darfst nicht vergessen, meine Schwester war um einiges älter als ich. Als ich groß genug war, dass man mit mir etwas anfangen konnte, hatte Moyra die zwanzig schon überschritten. Und als es zu den tragischen Ereignissen kam, um die es hier geht, lag ihr dreißigster Geburtstag bereits hinter ihr.«
»Aber dreißig ist doch kein Alter.«
»Kein Jahrhundert hat so viel für die Sache der Frauen getan wie das zwanzigste«, erwiderte Virginia. »Heute ist das alles anders, aber zur Zeit der Jahrhundertwende war eine Dreißigjährige bereits eine alternde Frau. Sie hatte die schönste Blüte hinter sich. Ich habe erst spät begriffen, wie verzweifelt Moyra gewesen sein muss. Ihre Schönheit war nicht mehr unumstritten, die Jüngeren rückten nach. Deshalb musste sie sich beweisen, dass sie immer noch jeden Mann haben konnte. Jeden. Auch einen, der gar nichts von ihr wissen wollte.«
»Das war Sir Simon.« Timmy setzte sich dicht ans Feuer. Der Lichtschein der Flammen spielte in seinem rötlichen Haar. Virginia streichelte seinen Kopf.
»Du hast ihre Haarfarbe, weißt du das?«
»Wirklich?« Er genoss diese sonderbare Stunde. Timmy saß am Kaminfeuer, zu Füßen seiner Großmutter und ließ sich Geschichten erzählen. »Der Mann, der nichts von Moyra wissen wollte, war also der Bruder des Duke?«
»So ist es. Ich habe Sir Simon kennengelernt. Er war ein zarter … Nein, das trifft es nicht. Er war ein ungemein seelenvoller junger Mann, gerade erst zwanzig geworden. Er war genau das richtige Objekt für Moyra, jung, elegant, aus bestem Haus und ein hoffnungsloser Romantiker. Moyra warf ihre Netze aus, und Simon verfing sich rettungslos darin. Einige Zeit ließ sie sich seine keusche Anbetung, all die Gedichte und heimlichen Briefchen gefallen, aber bald schon verführte sie ihn nach allen Regeln der Kunst. Simon hat in meiner Schwester offenbar die Vollendung der Liebe gesehen. Er konnte einfach nicht mehr ohne sie leben. Aber Moyra war verheiratet, und auch wenn Ethelred das Gemüt eines Bären im Winterschlaf hatte, wurde es ihm irgendwann zu bunt. Er machte ihr klar, dass die Affäre nicht nur seiner, sondern auch ihrer Reputation schadete. Das hat Moyra überzeugt. Im Grunde lag ihr ja nichts an Simon, sie missbrauchte ihn nur als Spiegel für ihre Eitelkeit. Die Bedingungslosigkeit seiner Verehrung schmeichelte ihr.«
»Und dann?«
»Bedingungslose Liebe kann genauso langweilig werden wie alles, was man im Übermaß erfährt. Moyra langweilte sich, sie wurde Simons überdrüssig. Sie hat mir nicht alles erzählt, aber es war wohl so, dass sie ihn ein letztes Mal traf, mit ihm geschlafen hat und ihm darauf mitteilte, dass es aus zwischen ihnen sei. Sie liebe ihn nicht mehr, er solle rasch darüber hinwegkommen. In der kommenden Zeit schrieb Simon ihr täglich, wochen-, monatelang. Er tauchte nachts auf unserer Insel auf und schlief unter Moyras Fenster. Sie empfand das als Belästigung und als ihr verzweifelter Geliebter wieder einmal im Freien ausharrte, ging sie hinunter. Während der darauffolgenden Unterredung muss sie ihn tödlich beleidigt haben. Sir Simon verließ die Insel. Zwei Tage später sprang er von der höchsten Klippe Somersets in die Tiefe. Sein Leichnam wurde erst Tage später an Land geschwemmt. Natürlich war der Vorfall ein Schock für Moyra, zugleich wurde ihr dadurch der aufdringliche Liebhaber vom Hals geschafft. Womit sie nicht gerechnet hatte, war die dichterische Begabung Simons. Offenbar hatte er vor seinem Tod alles aufgeschrieben, sein Liebesglück, das Liebesleid, auch die Kälte, die Gemeinheit, die abgrundtiefe Bosheit Moyras. Diese Blätter fand der Duke im Zimmer seines toten Bruders.«
»Aber hätte Simons Liebesbeichte wirklich ausgereicht, um deine Familie einem Skandal auszusetzen? Genügten diese Aufzeichnungen als Druckmittel, um dich zu zwingen, die Frau des Duke zu werden?«
»Ich bin nicht seine Frau geworden.«
»Ich weiß. Aber deine Verzweiflung war doch nicht gespielt. Du glaubtest wirklich, dich für die Ehre deiner Familie opfern zu müssen.«
Virginia schob den Stuhl zurück und rollte zum Fenster. Es war dunkel geworden. Der Wind toste um die Insel. Die Kathedrale zu den vier Winden, so nannte man St. Michael’s Mount von alters her.