Der bemitleidenswerte Patters wurde auf einer Bahre den steilen Weg vom Schloss zum Hafen hinuntergetragen. Man brachte ihn ins West Cornwall Hospital nach Penzance.
Ohne Aufsehen reiste der Duke of Hailsham ab. Virginia nahm an, er selbst hatte wohl keine Lust mehr, die Maskerade des glücklichen Bräutigams zu spielen, solange seine wahre Angelegenheit nicht zufriedenstellend gelöst war. Vom Fenster aus sah sie zu, wie ihr Vater den Duke auf die Schlossterrasse begleitete, von der Freddie den Abstieg zum Hafen nahm. Obwohl alle Weihnachtsvorfreude, alles Glück der bevorstehenden Verlobung binnen eines Tages einer grausamen Enttäuschung gewichen waren, fühlte Virginia vor allem Erleichterung, weil sie nicht mit Freddie verlobt worden war.
Schluss mit Freddie, dachte sie und lief mit großen Sprüngen in die Halle. Den Spuk der letzten Tage wollte sie abschütteln. Ihr Vater brauchte Hilfe. Sir Thomas war ein weltgewandter Adeliger, ein nüchterner Geschäftsmann, eingefleischter Corne, ein gewandter Redner im House of Lords, doch ohne seinen Butler, seinen Vertrauten und Gefährten, fühlte sich der Earl hilflos. Der Unfall des alten Mannes hatte ihm vor Augen geführt, dass Patters eines Tages, vielleicht schon bald, nicht mehr da sein würde. Der Lord selbst fühlte das Alter herannahen. Seine erstgeborene Tochter konnte das Geschlecht der Trevelyans nicht fortsetzen, Moyra bekam keine Kinder. Und Virginia, das Nesthäkchen, war selbst noch ein Kind.
Verloren saß der Earl in St. Anthony’s Hall, wo gestern noch ein Fest gefeiert werden sollte. Kein Diener traute sich in seine Nähe, alle spürten die Trauer und Verwirrung ihres Lords. Allein saß er an der riesigen Tafel, das graue Haar wurde vom Luftzug sachte bewegt. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und murmelte etwas.
Vorsichtig trat Virginia näher. »Mit wem sprichst du, Daddy?« Noch zwei Schritte. »Papa?«
»Alle gehen fort«, hörte sie ihn sagen.
»Wer denn? Wer geht fort?«
»Alle fort. Früher oder später. Alle fort.«
Virginia hatte schon erlebt, dass ihr Vater in Zeiten des Trübsinns, der Sorge, manchmal auch nur, wenn sich das Wetter tagelang nicht aufhellen wollte, in eine Melancholie verfiel. Dann blieb er in seinem Zimmer, aß kaum etwas und überließ das Tagesgeschäft dem treuen Patters. Wenn Virginia dann an seine Tür klopfte, hörte sie ihn auf und ab gehen und mit sich selbst sprechen. »Schwere Wolken über St. Michael’s«, seufzte er dann, ohne zu öffnen. Der schwere Unfall seines Butlers schien diese Gemütslage wieder bei ihm auszulösen.
»Patters ist eine alte cornische Eiche«, sagte Virginia. »So ein Baum ist nicht so schnell zu fällen. Sie tun im Krankenhaus bestimmt alles, damit er rasch wieder gesund wird. Vielleicht ist er zu Weihnachten schon zu Hause.«
Sir Thomas hob den Kopf. »Alles ist seit dem Sturm geschehen.«
»Der Sturm? Was meinst du?«
»Der Fluch ist wieder da. In der Nacht, als der Sturm tobte, ist der Fluch wieder erwacht.«
»Wie kommst du nur auf solche Gedanken, Daddy?« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Du weißt es doch selbst«, erwiderte er mit flackernden Augen. »Der Sturm hat den Schlussstein aus der Verankerung gelöst. Der Stein, der über die Geschicke der Trevelyans wacht, ist ins Meer gestürzt.«
Sie wusste alles, besser sogar noch als ihr Vater, hatte sie doch gerade erst die Niederschrift der Familienlegende gelesen. Es wird keinen Frieden geben auf St. Michael’s. Elend wird herrschen. Kein Stein soll auf dem anderen bleiben.
Als ihr Vater Virginia ansah, zwang sie sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. »Ach, das sind doch nur alte Geschichten, Daddy. Wer wird darauf schon etwas geben?«
Wehmut trat in seine Augen. »Ich kann mich nicht erinnern, dass du mich je belogen hättest, mein Liebling. Gerade hast du es getan.«
»Papa.« Sie stürzte auf die Knie und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Wenn er wüsste, um wie viel schrecklicher seine dunkle Ahnung in Erfüllung zu gehen drohte! Der Mann, den Sir Thomas als Schwiegersohn in seine Familie aufnehmen wollte, war ein eiskalter Betrüger. Moyra würde dem Vater keine Stütze sein, da sie nur an einem einzigen Menschen Interesse zeigte, an sich selbst. Und Patters, der älteste Vertraute des Lords, kämpfte um sein Leben. Dabei stand Weihnachten vor der Tür.
»Weihnachten, Daddy.« Sie richtete sich auf. »Weihnachten ist das Fest der Versöhnung und der Liebe. Der Geist der Weihnacht hilft allen Menschen auf der ganzen Welt. Wir wollen darauf vertrauen, dass dieser Geist keinen Bogen um unsere Insel macht.«
Der Earl straffte die Schultern. »Recht hast du. Was sollen wir also tun?«
»Wir brauchen zuallererst Ersatz.«
»Wofür?«
»Für Patters.«
»Du willst meinen Freund, den engsten Mitarbeiter bereits meines Vaters, einfach ersetzen?«, entgegnete er konsterniert.
»Nur solange, bis Patters wieder gesund ist. Während der Feiertage«, beschwichtigte sie. »Das traditionelle Weihnachtsfest kann unmöglich ohne Chefbutler stattfinden.«
»Die Adventszeit ist bereits fortgeschritten. Glaubst du wirklich, dass wir jetzt noch jemanden finden, der unseres Vertrauens würdig und vor allem frei sein sollte?«
»Ich will es versuchen.«
»Du?«
»Ich fahre heute noch nach Falmouth in die Agentur. Wenn uns jemand helfen kann, dann Mr Guinness.«
»Das stimmt«, antwortete der Lord nach kurzer Überlegung. »Mr Guinness hat uns noch zu allen Anlässen vertrauenerweckendes Personal geschickt.«
Sie sprang auf. »Gut. Ich fahre sofort. Und du, Papa – «
»Ja?«
»Du ruhst dich aus. Warum nimmst du nicht ein Bad?«
Der Earl schnupperte an seinem Gehrock. »Deutest du durch die Blume an, dass ich ein Bad nötig hätte?«
»Ich deute an, dass du dir etwas Gutes tun sollst. Ein heißes Bad im Dezember ist genau das Richtige.«
Innig sah er sie an. »Was täte ich, wenn ich dich nicht hätte, mein Liebling?«
»Aber du hast mich doch, Daddy. Du kannst dich auf mich verlassen.«
Ihre Umarmung war kurz, voll Verzweiflung und voller Hoffnung. Virginia stürmte davon, sie durfte die Ebbe nicht verpassen. Wenn sie es zu Fuß ans Festland schaffte, wo die Kutsche des Earl bereitstand, konnte sie in etwas mehr als einer Stunde in Falmouth eintreffen und Mr Guinness noch vor dem Mittagessen sprechen.
* * *
Mit einem schnellen, ausgeruhten Pferd wäre es ein Leichtes, die Küstenstadt Falmouth binnen einer Stunde zu erreichen. Die Strecke führte über Praa Sands, Breague, Penryn und Flushing zur anderen Seite der Halbinsel. Doch mit Archibald, dem Wallach der Trevelyans, dauerte die Fahrt geschlagene zweieinhalb Stunden. Alles an uns Trevelyans ist überaltert, dachte Virginia. Das Schloss, die Insel, der Chefbutler, sogar das Pferd war zu alt! Man konnte Archibald keinen Vorwurf machen, schließlich ging er in sein fünfzehntes Jahr und hatte die Aufgaben eines Zugpferdes lebenslang treulich erfüllt. Trotzdem verfluchte Virginia den lahmen Trott des Gaules, verfluchte Herman, den Kutscher, und die altersschwache Kutsche mit ihrer historischen Federung. Nach jeder Ausfahrt tat einem der Rücken weh; die Straßen von Cornwall verlangten den Fahrgästen einiges ab.
Zu allem Überfluss stellte Herman auf halbem Weg fest, dass die Bremsen geölt werden mussten.
»Hättest du das nicht vorher tun können?«
»Sie werden heiß, Countess. Vorher sind sie noch nicht heiß gewesen.«
»Wie lange dauert das?«
»Das geht ruckzuck, Countess.« Herman zog die Mütze.
»Lassen Sie die Mütze auf und ölen Sie lieber ruckzuck unsere Bremsen.«
»Das kann ich nicht.«
»Wieso?«
»Dafür müssen wir in Penryn bei der Schmiede halten.«
»Und was passiert, wenn wir nicht in Penryn bei der Schmiede halten?«
»Die überhitzte Bremse würde die Bremsbacken ruinieren. In dem Fall könnten wir gar nicht mehr weiterfahren.«
»Von mir aus!«, erwiderte Virginia übertrieben laut. »Halten Sie in Gottes Namen in Penryn und sagen Sie dem Schmied, dass er unsere Bremsen ruckzuck ölen soll.«
»Wie Sie wünschen, Countess.« Bevor er weiterfuhr, zog Herman noch einmal die Mütze.
* * *
Wie nicht anders zu erwarten, war Mr Guinness bereits zum Lunch gegangen, als sie Falmouth endlich erreichten. Ärgerlich wegen der Verzögerung sah sich Virginia in der Agentur Guinness & Co. um.
»In welches Lokal geht Mr Guinness gewöhnlich zum Mittagessen?«, fragte sie die Sekretärin.
»In kein Lokal. Er geht nach Hause zu seiner Frau, Countess.«
»Da dürfen wir ihn natürlich nicht stören«, zischte Virginia. »Wann kommt er wieder?«
»Er wollte heute noch zu seiner kranken Mutter«, gestand die Sekretärin. »Ich weiß nicht, ob er überhaupt noch einmal hereinkommt.«
Es ist der Fluch, dachte Virginia. Alles hat mit dem Fluch zu tun. Elend wird herrschen. Das Elend setzte sich sogar in Falmouth fort.
»Verzeihen Sie«, sagte jemand, der gar nicht im Zimmer war.
Im Raum nebenan, nur durch eine Glaswand getrennt, stand ein junger Mann auf. Es war das Wartezimmer, in dem Stellungssuchende, in der Hoffnung, von Guinness & Co. vermittelt zu werden, sich registrieren ließen.
Virginia betrachtete den jungen Mann, der nun ins Sekretariat trat und sich mit vollendeter Höflichkeit vor ihr verbeugte.
»Ich habe von dem Unglücksfall gehört, der Ihre Familie ereilt hat«, sagte der Fremde mit angenehmer Stimme. »Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Charles Kindheart. Ich bin der Großneffe von Mr Patters.«
»Sein Großneffe? Ich wusste gar nicht, dass Patters noch lebende Verwandte hat«, entgegnete Virginia argwöhnisch.
»Mein Onkel und ich hatten in letzter Zeit wenig Kontakt zueinander«, gestand Mr Kindheart.
»Können Sie das bestätigen?«, fragte Virginia die Sekretärin.
Die dicke Frau war im Begriff, in einen Apfel zu beißen. »Mr Kindheart ist das erste Mal bei uns. Ich habe ihn vorher noch nie gesehen.«
Virginias Argwohn wuchs. »Guinness vermittelt Personal überall im Süden. Wieso hatten Sie noch nie mit dieser Agentur zu tun?«
»Weil ich bis vor Kurzem in London war«, antwortete der junge Mann.
»Bei welcher Herrschaft?«
»Ich habe nicht gedient, Countess.«
»Was haben Sie sonst gemacht?«
»Ich studiere. Geschichte und Heraldik.«
»Wenn Sie studieren und das in London tun, was wollen Sie dann bei Guinness & Co.? Was wollen Sie in Cornwall?«
»Ich bin hier, weil Sie mich brauchen, Lady Virginia«, antwortete Charles Kindheart mit vollkommener Offenheit.