Timmy öffnete die Tür ins Freie. Ein leichter Wind, der Geruch von Gischt und Algen, hungrige Möwen stolzierten vor dem Cottage umher. Auf der Schwelle fand er einen Korb mit Toastbrot, Orangenmarmelade, Milch und Tee.
»Frühstück, Nana!«, rief er. »Wer hat uns denn das gebracht?«
Virginia hatte wunderbar geschlafen. Sie lag noch im Bett. Was immer es an Bösem auf dieser Insel geben mochte, in dem wunderbaren Cottage war sie davor gefeit. Sie fühlte sich heute Morgen so unbeschwert wie das junge Mädchen, das vor vierundachtzig Jahren in diesem Haus glücklich gewesen war.
»Ein Tee wäre großartig«, antwortete sie.
»Ich sehe hier leider nirgends einen Toaster«, rief Timmy aus der Küche.
»Du kannst die Brotscheiben auf dem Herd rösten, so wie wir das früher gemacht haben.«
Virginia sah alles so deutlich vor sich, als ob es in diesem Augenblick stattfinden würde. Man musste den guten alten Herd anfeuern und die gusseisernen Platten blankscheuern. War der Ofen erst heiß, brauchte man die Brotscheiben nur ein paar Sekunden daraufzulegen, gleich waren sie knusprig und krachten, wenn man hineinbiss. Ach, und die clotted cream, schwärmte Virginia mit geschlossenen Augen. Gab es ein größeres Glück als clotted cream auf Weißbrot, eine Tasse Tee und den Blick aufs Meer?
Vergangenen Abend war Harry Starmuehler nicht mehr aufgetaucht, wahrscheinlich um zu demonstrieren, wie rücksichtsvoll er sein konnte. Aber heute würden sie auf seinen Besuch bestimmt nicht lange warten müssen. Seine Neugier war zu groß.
Da man Starmuehler mit der Renovierung des Schlosses beauftragt hatte, musste er ein tüchtiger Architekt sein. Aber er war mehr als das. Virginia hatte keinen Beweis dafür, doch ein Gefühl sagte ihr, dass dieser Mann auf der Jagd nach dem Herz von Cormoran war. Der unheilvolle Stein hatte schon die Phantasie vieler Menschen beflügelt. Fast ein Jahrhundert hielt sich die Sage nun, dass das Herz damals, um die Jahrhundertwende verschwunden sei, es sich aber immer noch auf St. Michael’s befinden müsse. Das Herz von Cormoran, der Schatz von St. Michael’s – Unglück, Niedergang und Tod gingen damit einher. Der Fluch der Trevelyans war in Erfüllung gegangen, und seine Wirkung hielt immer noch an. Virginia hatte sich vorgenommen, den alten Fluch zu brechen. Sie wollte der bösen Macht, die die Insel beherrschte, Frieden bringen. Das Herz von Cormoran musste endlich Ruhe finden.
»Ich glaube, ich habe es geschafft«, rief Timmy von drüben.
»Was denn?«
»Den Herd anzuzünden.«
»Lass das Brot nicht zu lange auf der Platte, sonst verkohlt es.«
»Ich passe auf.«
Aus der Küche klirrte und rumorte es. Man hörte förmlich, wie viel Spaß Virginias Enkel hatte, in dem Häuschen am Hafen Frühstück zu machen.
Sie schaute nach dem Wetter. Die Wolken würden sich nicht lange halten, Virginia freute sich auf einen prächtigen Frühlingstag. Und dort kam auch schon Mr Starmuehler. Mit federnden Schritten lief er auf das Cottage zu.
* * *
Schwindelnde Höhe, schwankendes Seil; Virginia hatte keine Angst, emporzuschweben. Es war sogar ein Vergnügen. Noch nie hatte sie die verwitterten Mauern aus dieser Perspektive gesehen. Moos und Flechten, festgewachsene Krebsschalen entdeckte sie auf den Steinen, die dem Meeresklima seit hunderten Jahren trotzten. Unausgesetzt zerstörte das Meer, was der Mensch in seiner Nähe errichtete. Das Salz fraß an den Türen und Beschlägen, der unausgesetzte Wind höhlte den Mörtel aus, die Feuchtigkeit besorgte den Rest. Der Mensch wäre klug beraten gewesen, nicht am Meer zu bauen, und doch gab es für ihn nichts Schöneres, als sich an den Ufern der Unendlichkeit niederzulassen.
Virginia baumelte mit den Beinen im Wind. Vier Männer achteten darauf, dass der Lastenaufzug mit seiner ungewöhnlichen Fracht ruhig und gemächlich emporschwebte. Zwei sicherten von oben, zwei bedienten den Motor zu ebener Erde. Aus der Tiefe starrte Timmy ängstlich zu seiner Großmutter hoch. Er konnte kaum fassen, dass die Hundertjährige diesem schwankenden Transportweg zugestimmt hatte. »Könnte man dich stattdessen nicht hinauftragen?«, hatte er vorgeschlagen. Lächelnd war Virginia in den Lastenkorb gestiegen und hatte sich von Starmuehler festschnallen lassen.
»Wir sehen uns dann oben«, hatte der Architekt gesagt.
Das große Fenster von St. Anthony’s Hall kam nun in Sicht, von dem aus Virginia als Kind tagtäglich aufs Meer geschaut hatte. Fast hundert Jahre später näherte sie sich diesem Fenster nun von außen. Als sie fast auf gleicher Höhe war, stockte die Fahrt plötzlich. Ruckend hielt der Lastenkorb an, schwang hin und her. Er schwang sogar beängstigend hin und her. Virginia entging nicht, dass die Männer an den Seilen unruhig wurden.
Sie hörte Satzfetzen. »Aus der Rolle gesprungen!«, »Vorsicht, das Zugseil, nein, nein!« In der Tiefe wurde der Motor ein- und wieder ausgeschaltet. Virginia sah Timmy auf Starmuehler einreden, sah die beruhigenden Gesten des Baumeisters.
Nun, so sitze ich eben ein wenig länger hier oben, dachte sie. Bestimmt werden sie das Problem gleich lösen. Ein weiterer Ruck, ein kurzes Absacken der Kabine zeigten ihr, dass die Lösung des Problems wohl noch auf sich warten ließ. Virginia lachte in sich hinein. Der Fluch hatte nichts von seiner Kraft und Wirkung verloren. Das böse alte Schloss wollte es ihr schwer machen, seine Mauern zu erobern.
Die schwindelnde Höhe fand sie nun doch ein wenig angsteinflößend. Virginias Blick schweifte nicht länger in die Weite. Sie schaute durch das große Fenster in die Halle, das eigentliche Wohnzimmer der Familie, solange sie zurückdenken konnte. Hier hatte sich die kleine Virginia mit ihren hölzernen Spielsachen vergnügt. Als sie das Schaukelpferd zu toll geritten hatte, brach es mittendurch. Sie war auf dem Hintern gelandet. Alle hatten gelacht, am lautesten Moyra. Virginia war so wütend geworden, dass sie das Schaukelpferd jähzornig ins Kaminfeuer warf. Das Pferdchen knisterte und brannte lichterloh.
Die große Feuerstelle hatte Virginia immer Ehrfurcht eingeflößt. In den Sommermonaten, wenn der Kamin kalt blieb, war sie manchmal darin gekauert und hatte die Halle sozusagen mit den Augen des Feuers betrachtet.
Ihr Blick erkundete den dämmerigen Raum hinter der Glasfront weiter. Zwischen den Pilastern, die das Gewölbe trugen, entdeckte sie den Schlussstein. Er besaß eine andere Form als der Stein unter der Dachbekrönung, aber er diente der gleichen Funktion. Im Moment, als sie den Stein entdeckte, wurde es Virginia mit einem Mal eiskalt. Der Hauch des Todes wehte sie an. Dort, zwischen den Säulen hatte sie mit ihrer Schwester gesprochen. Die Erinnerung daran war noch so frisch, als ob seitdem nicht vierundachtzig Jahre vergangen wären.