Du errätst nicht, wem ich vorhin in Porthleven begegnet bin!« Virginias Vater hatte eine ungewohnt gesunde Gesichtsfarbe.
Manchmal verließ Sir Thomas Schloss und Insel ganz spontan, um in der Gegend nach dem Rechten zu sehen, wie er es nannte. Der Kutscher und der treue Archibald fuhren den Earl durch die Landschaft. Unterwegs erkannten die Leute die Kutsche, erkannten den Lord, der ihnen zuwinkte. Von Zeit zu Zeit wollte er sich selbst in Erinnerung rufen, dass die Menschen hier zufrieden damit waren, dieses Land zu bestellen, sein Land, wenn es nach dem Buchstaben des Gesetzes ging. Er lieh es ihnen mit Freuden.
Der Hafenstadt Porthleven gehörte seine besondere Zuneigung. Sie lag östlich von St. Michael’s, nahe der Halbinsel Lizard. Porthleven galt als der südlichste Hafen des Vereinigten Königreiches. Wer innerhalb Großbritanniens noch südlicher wollte, musste auf die Inseln ausweichen. In Porthleven kannte Sir Thomas praktisch jeden, und jeder kannte ihn. Sie grüßten ihn aus den Pubs, die Fischer winkten ihm aus ihren Booten zu, der Gemeindesekretär kam aus dem Kontor, um Sir Thomas die Ehre zu erweisen. Meistens speiste der Lord im Goldenen Drachen und nahm danach einen Whisky in der Einbeinigen Seemannsbraut. Die Besuche in Porthleven gehörten zu seinen periodischen Höhepunkten, nicht zu vergleichen natürlich mit einer Reise nach London, wenn seine Anwesenheit im House of Lords erforderlich war.
Porthlevens Hafen wies eine Besonderheit auf. Das Becken wurde von Steinwällen eingefasst, an deren schmalster Stelle die Hafenmündung durch massive Baumstämme verschlossen werden konnte. Auf diese Weise hielt man zwar nicht das Wasser, aber die Sturmflut zurück, die in den Wintermonaten über den Ort hereinbrach. So brauchten die Fischer ihre Boote während der Sturmsaison nicht aus dem Meer zu holen, geschützt lagen sie in der Bucht vor Anker. Am Hafeneingang zeugten zwei Kanonen davon, dass Porthleven Jahrhunderte lang angegriffen, belagert und erfolgreich verteidigt worden war. Heute rosteten die Kanonen friedlich vor sich hin.
An der Mole boten Kunstmaler ihre Werke feil. Manche davon zeigten jene berühmte Szene, als Sturm und Brandung im Winter 1864 so unbändig wild gewesen waren, dass die Wellen über der höchsten Spitze des Kirchturms zusammenschlugen. Da die Kirche direkt am Strand stand, konnte selbst Gott sein Haus vor den Gewalten seiner Natur nicht schützen.
»Wem bist du denn begegnet, Papa?« Virginia war zwischen Küche und Kühlkammer unterwegs. Man hatte den Fisch für den Weihnachtstag zu früh geliefert. Um ihn frisch zu halten, brauchte sie Eis.
»Rate, mein Liebling, so rate doch.« Wie ein Wachsoldat stolzierte Sir Thomas auf und ab.
»Ich weiß es wirklich nicht, Papa. Es gibt so viele Leute, die du in Porthleven treffen könntest.«
»Aber jenen einen trifft man gewöhnlich nicht dort an«, gab er ihr einen kleinen Hinweis.
»In Porthleven?« Sie wollte ihm den Spaß nicht verderben und tat, als ob sie nachgrüble. »Alfie, den Junggesellen?«
»Falsch.«
»Tom und Molly, das Leuchtturmwärterpaar?«
»Wieder falsch.«
»Ich weiß es wirklich nicht. Den Barbier, den Gemeindesekretär, den Mann, der die beste heiße Schokolade zubereitet, die Fischhändlerin, die Äbtissin des Waisenhauses – wer war es?«
»Falsch und falsch und abermals falsch«, antwortete jemand anderes als der Earl.
Alfred Malffay, Duke of Hailsham, Herzog von Somerset und Pool, trat durch die Tür. Wie jedes Mal fiel Virginia seine Ähnlichkeit mit einem Italiener auf, schwarzes Haar, blaue Augen, und so vergaß sie im ersten Moment, was dieser Mensch ihr angetan hatte. Für diesen Augenblick war er wieder Freddie, ihr Freund. Doch die Wirklichkeit überfiel sie wie ein Dieb in dunkler Gasse.
»Du?«, flüsterte Virginia.
»Hast du mich vermisst?« Ungeniert schloss er sie in seine Arme und küsste Virginia mitten auf den Mund. »Ich habe dich schrecklich vermisst, mein Schatz.«
»Wie schön, euch so zu sehen«, schwärmte der Earl. »Da vergisst man, dass wir Winter haben und sieht den kommenden Frühling schon vor sich.«
Da Sir Thomas sie beobachtete, löste sich Virginia nicht brüsk, sondern sachte aus den Armen Freddies. Auf keinen Fall war dessen Begegnung mit ihrem Vater zufällig gewesen. Jedermann wusste von den häufigen Visiten Lord Trevelyans in Porthleven. Freddie hatte Sir Thomas sozusagen aufgelauert.
»Was machst du in Porthleven?«, fragte sie harmlos, zugleich provokant.
»Ich habe im dortigen Gestüt ein wunderbares Pferd gefunden.« Freddie strahlte. »Ich werde es wohl kaufen.«
Von welchem Geld?, dachte Virginia. »Wunderbar«, antwortete sie jedoch. »Wie heißt das Pferd?«
In seinen Augen erkannte sie, dass er die Fangfrage durchschaute. »Es ist noch sehr jung. Es steht mir daher frei, ihm einen eigenen Namen zu geben. Was hältst du von Virginia?«
»Demnach ist es also eine Stute?«, mischte sich Sir Thomas ein. »Sagtest du nicht, du hättest dich nach einem Hengst umgesehen?«
»Es war Liebe auf den ersten Blick«, log der Duke munter weiter. »Ich habe mir drei Tage Bedenkzeit erbeten.«
Sir Thomas legte die Hand auf die Schulter des Duke. »Stell dir vor, ich konnte den lieben Freddie überreden, die Weihnachtstage bei uns zu verbringen«, verkündete er.
»Nein! Wirklich?«, rief Virginia übertrieben laut. »Hast du überhaupt genügend für die Feiertage eingepackt?«, schoss sie einen weiteren Pfeil ab. »Ich nehme nicht an, dass du anlässlich eines Pferdekaufes deinen Frack dabei hast?«
»Mein liebes Kind, was ist mit dir?« Sir Thomas runzelte die Stirn. »Wieso neckst du unseren Gast auf diese aufdringliche Weise?«
»Entschuldige, Papa. Das ist die Freude, ihn wiederzusehen.« Mit energischem Griff hakte sie sich beim Duke unter und zog ihn zur Terrasse. »Komm, mein Schatz, ich habe dir so viel zu erzählen.«
»Wenn dein Vater mich so lange entschuldigt.« Wachsam musterte der Duke die Countess.
»Geht nur, geht, ihr Turteltäubchen«, lachte Sir Thomas. Als die beiden die Terrassentür erreichten, rief er ihnen nach: »Heiligabend geben wir eure Verlobung bekannt!«
* * *
Die erste Nacht seit Freddies Ankunft. Virginia hatte das Gespräch mit dem Duke so ruhig geführt, wie es ihr unter den Umständen möglich war. Sie nahm an, dass er bereits mit Moyra gesprochen hatte, die ihm gewiss von ihren Anstrengungen, das Herz von Cormoran aufzuspüren, erzählt hatte. Doch die mögliche Aussicht auf den Stein schien Freddie nicht besonders zu interessieren. Im Vergleich zu seinem letzten Besuch kam Virginia das Verhalten des Duke verändert vor. Während des Abendessens zeigte er eine ungewohnte Hinwendung zu ihr, und sein chevalereskes Betragen zauberte mehrmals ein versonnenes Lächeln auf die Wangen ihres Vaters. Schließlich verabschiedete man sich und ging zu Bett.
Kurz vor Mitternacht klopfte es an Virginias Tür.
»Ja?« Sie schlüpfte in den Morgenmantel.
»Ich bin es.«
»Freddie?« Sie erschrak. »Was willst du?«
»Worüber?«
»Lass mich rein. Ich möchte nicht, dass dein Vater mich hört.«
Virginia öffnete. Nach dem Dinner hatte Freddie offenbar weiter Brandy getrunken. Seine Fliege saß schief, eine Haarlocke fiel ihm in die Stirn. Sie wollte die Tür vor dem Betrunkenen schließen, aber er stellte den Fuß dazwischen.
»Was ist denn?«, knurrte Freddie, drang bei ihr ein und ließ sich auf Virginias Bett fallen. »Ich musste dich einfach noch mal sehen, mein Schatz.«
Sie blieb an der Tür und hielt sie offen. »Was willst du besprechen?«
»Das fragst du noch?« Er lachte. »Sieh dich doch an. Wie du da stehst – Englische Rose«, kicherte er. »So nennt man euch Mädchen doch gewöhnlich. Du bist allerliebst, zum Anbeißen, Darling. Während ich fort war, musste ich ständig an dich denken.«
»Eine schreckliche Vorstellung.«
Er ließ sich durch ihre Kälte nicht abschrecken. »Willst du nicht die Tür zumachen? Es zieht.«
»Ich mache die Tür zu, sobald du wieder draußen bist.«
Er kam hoch und taumelte auf sie zu. »Wie du willst.«
»Du gehst wirklich?«
»Wenn du mich so reizend darum bittest.« Als er dicht bei ihr war, packte der Duke Virginia unvermittelt und zog ihren Kopf an den Haaren nach hinten. Mit dem Fuß stieß er die Tür zu. Sie wollte schreien, er presste seine Lippen hart auf ihren Mund. Sein Kuss war lang und widerlich.
»Du gefällst mir, meine englische Rose«, keuchte er. »Wir werden bestimmt ein glückliches Paar.« Er zerrte sie zum Bett und warf sie auf die Kissen. »Was hältst du davon, deinem Verlobten eine Kostprobe der Genüsse zu geben, auf die er sich freuen darf?«
Sie wehrte sich. Sie stieß ihn weg, sie trat um sich. Sollte sie schreien? Nun, da die Tür geschlossen war, würde sie kaum jemand hören. Trotz ihrer Panik überlegte Virginia fieberhaft: Mit Kraft allein konnte sie den starken Mann nicht abwehren.
»Ich hasse dich«, stieß sie hervor. »Du widerst mich an.«
»Das finde ich bedauerlich, andererseits inspiriert es mich auch.« Lachend öffnete er ihren Morgenmantel und machte sich am Nachthemd zu schaffen.
»Wenn ich Daddy rufe …«Sie versuchte, sich seinen Händen zu entwinden.
»Dann wird er dich umso rascher unter die Haube bringen wollen. Denn von heute Nacht an, mein Darling, bist du beschädigte Ware.« Ohne seinen Griff zu lockern, begann der Duke sich auszuziehen.
Virginias Hand tastete nach hinten, sie spürte die Bettkante, den Nachttisch und das raue Ding aus Brokat, jenen Stoffstreifen, der von der Decke hing. Damit ließ sich der Mechanismus auslösen, der mehrere Stockwerke tiefer ein Glöckchen in Schwingung versetzte. Wenn es erklang, wusste die Dienerschaft, dass die Countess einen Wunsch hatte. Virginia zerrte daran. »Lass mich los«, ächzte sie gleichzeitig.
Er machte sich nicht einmal die Mühe, ihr zu antworten.
»Ich habe nach dem Personal geklingelt. Sie können jede Minute hier sein.«
»Und wenn schon. Ich schicke sie wieder weg. Sie werden es nicht wagen, dem Herzog von Somerset zu widersprechen.« Lachend wälzte sich Freddie auf Virginia.
»Sie haben geklingelt, Countess?«
Kindheart stand in der Tür.
Kindheart stand in der Tür? Selbst wenn er das Glöckchen gehört und sofort losgelaufen wäre, konnte er unmöglich wenige Augenblicke später ihr Zimmer erreicht haben.
»Verschwinden Sie. Was wollen Sie?«, bellte der Duke, hielt es aber doch für richtig, von Virginia abzulassen.
»Ich kam auf das Zeichen der Countess«, antwortete der Butler mit vollendeter Höflichkeit.
»Nur ein Irrtum. Wir brauchen nichts«, gab der Duke zurück. »Gehen Sie.«
»Bitte bleiben Sie, Kindheart.« Virginia überlegte in Windeseile. Stellte sie den Duke bloß, würde es zu jenem Skandal kommen, den sie verhindern musste.
»Ich wollte Sie bitten, mir ein Buch aus der Bibliothek zu bringen«, sagte sie und kam vom Bett hoch. »Aber wissen Sie was? Ich hole es mir lieber selbst. Begleiten Sie mich. Vielleicht gibt es mehrere Bücher zu tragen.« Sie ging auf ihn zu. »Und später bringen Sie mir ein Glas heiße Milch, Kindheart.«
»Selbstverständlich, Countess.«
Virginia drehte sich um. Der Duke schob gerade sein Hemd in die Hose und strich das Haar glatt. »Möglicherweise dauert es in der Bibliothek länger, Freddie«, sagte sie. »Du wirst müde sein. Es ist besser, wenn du zu Bett gehst.«
Wortlos stand er auf, musterte den jungen Butler und verließ das Zimmer, ohne ein weiteres Wort zu sagen.