Vierzehn

Die Bibliothek bei Nacht. Die hohen Regale verloren sich nach oben in der Dunkelheit. Der Butler entzündete nacheinander die Gasflammen.

»Weshalb sind Sie hier, Mr Kindheart?«, fragte Virginia. »Sie tauchen immer genau im richtigen Moment auf, als ob Sie mein Schutzengel wären.«

Sie strich an den Schränken entlang, nahm einen Band heraus und stellte ihn wieder zurück. Kindheart zog währenddessen an dem zarten Draht, der die nächste Lampe zum Brennen brachte. Das Licht fiel auf sein ruhiges, beherrschtes Gesicht.

Da er nicht antwortete, sprach sie weiter. »Sie behaupten, ein Unglück würde dieses Haus ereilen, gefährliche Dinge würden geschehen. Das klingt mir offen gestanden zu gespenstisch. Es klingt, als ob niemand, auch ich nicht, etwas gegen die verhängnisvollen Vorgänge auf St. Michael’s tun könnte. Es klingt, als sei alles seit Langem festgelegt.« Ihr Hand glitt über die Buchrücken. »Auch ich habe mich mitunter an die Idee verloren, dass ein Fluch auf meiner Familie lastet. Die Schlussfolgerung, alles sei vorherbestimmt, macht das Leben einfacher.« Sie drehte sich zu ihm um. »Aber das sind Hirngespinste, Mr Kindheart, Träumereien. Ich mag nicht länger träumen, ich möchte aufwachen und die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind.«

Als er zur nächsten Lampe wollte, berührte sie seinen Arm. Kindheart blieb stehen. »Mein Vater wird mich mit einem Mann verloben, den ich nicht liebe. Alles sträubt sich in mir dagegen, Freddie zu heiraten. Aber ich bin sechzehn Jahre alt, Mr Kindheart. Ich bin unmündig. Als Countess of Laureal habe ich die Pflicht, den Wunsch meines Vaters zu erfüllen. Seit Jahrhunderten werden die Mädchen der Trevelyans auf diese Weise verheiratet. Die Ehe mit dem Duke ist eine ehrenvolle Verbindung, die den Interessen unserer Familie dient. Sie, Mr Kindheart, dienen meiner Familie, aber ich diene ihr auch. Darin liegt das ganze sogenannte Unglück auf diesem Schloss. Es ist nichts Mysteriöses oder Gefährliches darin, es ist einfach der Lauf der Dinge.«

Kindheart hatte sich nicht vom Fleck bewegt. »Sie wollen Ihrer Familie dienen, indem Sie jemanden heiraten, den Sie verabscheuen?« Es waren seine ersten Worte, seit sie die Bibliothek betreten hatten.

»Ständig maßen Sie sich solch unmögliche Bemerkungen an, Kindheart«, antwortete sie sanft und ein wenig müde. »Der Duke besitzt Rechte, über die Sie Ihr ganzes Leben nicht verfügen werden. Wir leben im Vereinigten Königreich, mein Lieber. Wir handeln nach den Gesetzen, die unser Land groß und mächtig gemacht haben. Manche davon sind ungeschriebene Gesetze, doch wir handeln trotzdem danach.«

In diesem Moment ertrug Virginia ihre vernünftigen und einsichtsvollen Worte nicht länger. Was sie sagte, hätte aus dem Mund ihres Vaters stammen können. Vor ein paar Minuten hatte nur wenig gefehlt, und ihr Ruf wäre für immer befleckt worden. Der Hass, den sie gegen Freddie hegte, beschränkte sich nicht mehr auf seine Habgier und Gerissenheit, sie verabscheute ihn nun mit Leib und Seele. Der attraktive Mann, der stolze Adelige, war in seinem Inneren verkommen, gemein, abartig und grausam.

Virginias Nerven gaben nach. Sie schluchzte so plötzlich auf, dass die Tränen auf den Frack des Butlers schossen. Ihre Finger verkrallten sich in seinem Arm. Als ob er ein Rettungsanker wäre, der sie vor dem Untergang bewahren könnte, zerrte sie an ihm. Virginia weinte lauthals, stehend, mit hängendem Kopf. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, den sonderbaren Fremden, der ihr so vertraut erschien. Langsam, absichtslos sank ihr Kopf an seine Schulter.

»Sagen Sie doch auch irgendetwas«, schluchzte sie. »Stehen Sie nicht nur so da. Tun Sie etwas, Kindheart.«

»Was immer ich jetzt tun könnte, wäre eine weitere Anmaßung.«

»Sie sind ein ziemlich anmaßender Mensch, das stimmt.« Ihr Weinen wurde leiser. »Könnten Sie mich bitte für einen Augenblick in den Arm nehmen, Mr Kindheart?«

Eine Sekunde verging. »Das sollte ich besser nicht tun, Miss.«

»Warum nicht? Niemand nimmt mich in den Arm. Schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Meine Mama hat mich früher in den Arm genommen. Aber sie ist tot. Mein Vater umarmt mich nur an meinem Geburtstag oder zu Weihnachten. Er behandelt mich wie eine junge Dame. Alle behandeln mich wie eine junge Dame. Dabei will auch ich manchmal umarmt werden.«

Mit tiefer, ruhiger Stimme begann er zu sprechen. »Sie sind nicht gerade einfach, Miss Trevelyan, das wissen Sie. Genaugenommen sind Sie eine verwöhnte Prinzessin, die allmählich erkennt, dass ihre Privilegien Sie nicht glücklich machen, sondern wie Bleigewichte an Ihnen hängen und Sie nach unten ziehen. In Wirklichkeit sind Sie ein freier Geist, ein Feuerball aus Kraft, Ideen und Leidenschaft. Sie wissen nicht, wie Sie Ihre Verpflichtungen und Eigenschaften unter einen Hut bringen sollen. Deshalb kämpfen die verschiedenen Virginias gegeneinander. Bisher hat keine von ihnen den Kampf gewonnen.«

»Das klingt schon wieder nach einer Frechheit, Kindheart«, flüsterte sie und drängte sich noch dichter an ihn.

»Ich bin kein Gelehrter, Miss Trevelyan, aber ich weiß, wie die Welt eingerichtet ist. Ich weiß, dass wir in Großbritannien leben und an unseren Traditionen und unserer Rückwärtsgewandtheit fast ersticken. Durch die Spinnweben unseres Daseins gucken wir hinaus und behaupten, dass alles immer schon so war, also muss es auch immer so bleiben. Was bin ich? Ein Student, der sich zurzeit als Butler verdingt. Ich habe zwei Pfund in der Tasche und weiß nicht, wie mein Leben nächste Woche oder im nächsten Jahrhundert aussehen wird. Aber ich bin glücklich damit, ich bin zufrieden mit diesem Leben. Zugleich sehe ich, dass Sie trotz Ihres Standes, Ihrer Herkunft und Ihres Reichtums in einer übleren Lage sind als ich.«

»Das stimmt.« Virginia sah ihn an. »Das stimmt wirklich. Sie sind besser dran als ich, viel besser sogar. Sie können jederzeit kommen und gehen, wie es Ihnen gefällt. Ich dagegen bin gefangen. Eine Gefangene auf dieser Insel bin ich.« Sie betrachtete die feuchte Stelle auf seinem Frack. »Ich habe Ihre Schulter nass gemacht. Das tut mir leid.« Mit der Hand wischte sie darüber.

»Das trocknet wieder. Es geht mich nicht das Geringste an, Miss Trevelyan, aber ich möchte, dass es Ihnen gut geht. Sie sind keine Gefangene auf dieser Insel, aber gefangen sind Sie leider doch. Früher oder später könnte der Feuerball aus Energie, der in Ihnen lodert und den ich so bewundere, erlöschen. Die Jahre gehen hin, und wenn man ein Leben führt, das mit dem eigenen Wesen nicht in Einklang steht, erlischt allmählich alles, woran man geglaubt, wovon man geträumt hat.«

Voll quälender Zweifel sah sie ihn an. »Es ist nicht die Aufgabe meines Butlers, mich zu retten, Mr Kindheart.«

»Da haben Sie recht, das können nur Sie allein tun, Countess. Und falls ich zu weit gegangen bin, entschuldige ich mich.«

»Sie gehen doch schon die ganze Zeit zu weit, schon seit wir uns begegnet sind.« Sie seufzte. »Haben Sie gesagt, dass Ihr Vorname Charles ist?«

»Ja, Miss Trevelyan.«

»Wie nennt man Sie zu Hause? Wie sagt Ihre Mutter zu Ihnen?«

»Charlie.«

»Charlie – oh, das ist hübsch. Das ist sogar besonders reizend. Ich möchte Sie Charlie nennen, Charlie.«

»Das sollten Sie nicht tun, Miss Trevelyan.«

»Ich heiße Virginia. Wollen Sie Virginia zu mir sagen?«

»Lieber nicht.«

Mit der Faust klopfte sie gegen seine Brust. »Ich bin Ihre Herrin und befehle Ihnen, mich Virginia zu nennen.« Sie musste über ihre unmögliche Aufforderung lachen. »Schon gut. Seien Sie auch weiterhin der korrekte, hilfsbereite Butler, der immer dann auftaucht, wenn ich in Schwierigkeiten gerate.«

»Virginia«, sagte er leise. »Virginia.«

»Charlie.«

Sie standen dicht voreinander. Sie sank an seine Brust. Er hob ihr Kinn, sie sahen einander an.

»Charlie.«