Sechzehn

Der Duke spielte Schach mit dem Earl, doch schon nach zwei Partien gab er dem Wunsch Ausdruck, dass er ein wenig Bewegung machen wolle.

»Sport?« Sir Thomas nickte. »Habe ich in meinen jungen Jahren auch getrieben. Rudern, Wandern. Aber mit dem Alter kommen die Krankheiten und Zipperleins. Heute schaffe ich es gerade noch, mich auf dem Pferd zu halten.«

Der Duke erwiderte höflich, dass es dem Earl bestimmt bald besser gehen werde und machte sich bereit zum Aufbruch.

»Wir haben Flut«, bemerkte Sir Thomas. »Zu Fuß kommen Sie nicht mehr aufs Festland, Alfred. Soll ich Ihnen das Boot bestellen?«

»Ich habe nicht vor, die Insel zu verlassen, Sir.«

»Soll Ihre Braut Sie vielleicht begleiten?«, schlug Trevelyan vor. »Ich habe sie seit einiger Zeit nicht gesehen. Ich kann sie rufen.«

»Sie hat den Kopf voll mit Weihnachtsvorbereitungen«, beschwichtigte der Duke. »Wir wollen sie nicht stören.«

»Virginia ist noch ein rechtes Kind«, erwiderte Sir Thomas. »Weihnachten ist das Höchste für sie. Aber ich bin sicher, durch Ihre Führung, lieber Freddie, wird sie zur Frau erblühen.«

»Eine wunderbare Vorstellung, Mylord.« Der Duke warf den Mantel über und eilte ohne Hut ins Freie.

Freddie war kein Idiot und gewiss kein naiver Jüngling. Was Frauen und Mädchen betraf, hatte er manches schon erlebt. Er hatte sich mit Jungfrauen vergnügt und die Leidenschaft erfahrener Damen genossen. Er hatte das erwartungsvolle Hilfsbedürfnis in den Augen der sechzehnjährigen Virginia wohl bemerkt, die in einem anmaßenden Butler ihren Retter wähnte. Er hatte auch den Blick des jungen Mannes gesehen, der einer schutzlosen Adeligen zu Hilfe eilte.

Freddie ahnte, was an jenem Abend noch geschehen war, an dem er sein Ius primae noctis hatte ausüben wollen. Er war betrunken gewesen und möglicherweise zu weit gegangen. Virginia war keine von denen, die sich bei fachgerechter Berührung sofort hingaben. Eine wie sie wollte romantisch umgarnt werden, sie ersehnte das Gefühl des Besonderen bei einem Vorgang, der an Primitivität kaum zu übertreffen war.

In jener Nacht hatte der Duke ihre Bewunderung für den jungen Mann genau bemerkt, der sie vor einer Sünde, schlimmer als der Tod bewahrt hatte. Freddie war auch nicht verborgen geblieben, dass sich die beiden danach ungewöhnlich lange in der nächtlichen Bibliothek aufgehalten hatten. Dem Duke, ihrem Bräutigam hatte sie sich verwehrt. Dem Butler gegenüber schien Virginia aufgeschlossener gewesen zu sein.

Am Morgen danach war sie nicht zum Frühstück erschienen und hatte Freddie auch im Tagesverlauf gemieden. Beim Dinner beschränkte sich ihre Konversation auf das Nötigste, Virginia war früh zu Bett gegangen. Heute war Freddie beim Lunch ein intensiver Blickwechsel zwischen ihr und dem Butler aufgefallen, ein Lächeln, die geheimnisvoll geröteten Wangen der Countess. »Weihnachtsaufregung« hatte Sir Thomas den Zustand seiner Tochter liebevoll genannt.

Mit Weihnachten hatten die roten Wangen nicht das Geringste zu tun, Freddie wusste das. Als der Schlossherr den Duke vorhin zum Schach gebeten hatte, absolvierte Freddie geduldig eine Partie und schlug Sir Thomas bei der zweiten in acht Zügen. Weder den Butler noch Virginia hatte er seit Stunden gesehen.

Freddie schlug den Mantelkragen hoch. Der Wind schnitt wie mit Messern. Auf der Insel gab es nur das Schloss, den Hafen, die Klippen und den schmalen Strand. Rund um den Hafen standen Fischerhäuser. Eines von ihnen war unbewohnt, doch weshalb stieg dann aus diesem Häuschen Rauch auf? Wer heizte dort, und warum? Freddie wusste genau, wohin sein Spaziergang ihn führen sollte.

Er sprang die Stufen hinab und achtete auf dem steilen Pfad darauf, dass er keinen Stein lostrat. An der Vorderseite des Cottage waren die Vorhänge zugezogen, zum Meer hin war es vor neugierigen Blicken geschützt. Freddie überwand eine Düne und trat von der Wasserseite an das Haus heran. Während er sich vorsichtig näher schlich, entdeckte er auf dem Fensterbrett einen Vogel, keine Möwe, keine Dohle, die am Strand nach Abfällen pickten. Dieser Vogel hatte einen ungewöhnlich großen Kopf. Geduckt saß er da und tat, was auch Freddie zu tun beabsichtigte, er spähte ins Fenster. Der Duke stieg auf die Zehenspitzen und ließ sein Auge langsam um die Fensteröffnung wandern.

Mit so manchem hatte er gerechnet, doch für diesen Anblick reichte selbst seine kühnste Vorstellung nicht aus. Das Flittchen betrog ihn schon vor der Verlobung! Und der Butler war schäbig genug, die unerfahrene Lüsternheit einer Jungfrau auszunützen. Freddies Entrüstung wurde überlagert von seiner Begeisterung, was für ein leidenschaftliches Weib er bald im eigenen Bett erwarten durfte. Er beobachtete das muntere Treiben und zog sich schließlich ungesehen zurück.

Welch unerwartete Entwicklung! Die ältere der Trevelyan-Schwestern hatte Freddie durch den Tod seines Bruders in der Hand: Sie sollte die Rechnung dafür mit ihrer Erbschaft bezahlen. Bei der Jüngeren gab es Schwierigkeiten. Sie leistete ihrem Vater zwar Gehorsam, beugte sich aber Freddies Willen bisher nicht. Doch nun hatte Virginia Schuld auf sich geladen, größte Schuld! Sie war tatsächlich zur beschädigten Ware geworden. Und das ganz ohne sein Zutun. In übermütiger Laune stemmte sich der Duke gegen den Wind und kehrte ins Schloss zurück.

* * *

Sir Thomas ließ den Aushilfsbutler noch in derselben Nacht verhaften, nicht durch die Polizei, denn er wollte Aufsehen vermeiden, stattdessen gab er zwei kräftigen Valets den Befehl, Kindheart abzuführen. Wie in jedem Schloss existierte auch auf St. Michael’s ein Verlies, es lag an der Rückseite, dem Meere zugewandt, viele Stufen führten dort hinab. Seit alter Zeit hatten Missetäter darin geschmachtet.

Der Duke, der Earl und Virginia fanden sich in der Bibliothek ein. Der Duke brachte seine Anschuldigungen abermals vor; Betroffenheit und Enttäuschung über die Verworfenheit seiner Zukünftigen standen ihm ins Gesicht geschrieben. Er sprach gefasst, wie es einem Edelmann geziemte und ließ Vater und Tochter daraufhin allein.

Sir Thomas stand seinem Kind in offener Verzweiflung gegenüber. Bis jetzt hatte sie sich mit keinem Wort verteidigt.

»Was hast du mir zu sagen, Vi?«

»Ich muss dir leider sagen, dass Freddie Hailsham ein Betrüger und Erpresser ist, dem es um nichts anderes geht als das Vermögen der Trevelyans.«

»Schweig!«, rief der Earl heftig. »Willst du deiner Tugendlosigkeit auch noch eine Verleumdung hinterherschicken? Du beleidigst unseren Gast, einen Aristokraten dieses Königreiches!«

»Und zugleich einen der gemeinsten und widerlichsten seines Standes«, gab sie zurück. »Freddie ist eine Schande für das Königreich!«

»Ich verbiete dir, so zu sprechen!«

»Das kannst du mir nicht mehr verbieten, Papa. Denn nun muss ich sprechen. Du selbst befiehlst es mir. Ich bin froh, dass endlich alles ans Licht kommt.«

Abermals wollte der Lord aufbegehren, doch seine angegriffene Gesundheit ließ das nicht zu. Er holte mehrmals tief Luft und sank in einen Sessel.

»Ich liebe dich über alles, Vater«, begann sie.

»Wem deine verworfene Liebe gehört, hast du zur Genüge unter Beweis gestellt.« Sir Thomas machte eine abfällige Geste.

»Lass Charlie aus dem Spiel. Er hat mit all dem nichts zu tun.«

»Deinen Verführer, den Zerstörer deiner Ehre nennst du auch noch ungeniert Charlie

»Ich selbst habe unsere Begegnung heute in die Wege geleitet. Er hat versucht, es mir auszureden.«

»Oh, das kann ich mir gut vorstellen!«, höhnte der Lord. »Sehr überzeugend scheint sein Versuch nicht gewesen zu sein.«

»Was ich dir nun erzähle, hat mit Mr Kindheart nichts zu tun. Er mag der Auslöser dafür gewesen sein, die Lunte sozusagen, die man an das Pulverfass legt.«

»Und das Pulverfass, das bist wohl du?!«, ereiferte sich der Lord. »Ich verbiete dir, in derart schmutzigen Metaphern zu sprechen! Lunte – Pulverfass, mäßige dich, Virginia!«

»Ich hätte längst mit dir reden sollen, Daddy«, lenkte sie ein.

»Worüber?«

»Über das, was Freddie im Schilde führt.«

»Du willst deine üble Tat auf den Duke abwälzen?«

Von nun an ließ Virginia ihren Vater nicht mehr zu Wort kommen. Sie berichtete. Von ihrer großen Freude, weil Freddie nach St. Michael’s gekommen war. Von der Nacht, als er vor ihrer Tür erschien, was Daddy bemerkt hatte, woraus der Heiratsantrag des Duke erwachsen war. Der Sturm hatte das Dach des Ostturmes beschädigt. Virginia schilderte, wie der Duke den Schlussstein aufgebrochen, das Ziel seiner Wünsche, das Royal Heart, aber nicht gefunden hatte.

»Das Royal Heart?« Der Lord musterte sein Kind voll Gram. »Was weißt du darüber, Virginia?«

»Ich habe vor Kurzem erst erfahren, dass ein solches Juwel existieren könnte.« Sie kniete vor ihrem Vater hin. »Gibt es diesen sagenumwobenen Edelstein, den der Gründer unseres Geschlechts vom König geschenkt bekam? Gibt es ihn wirklich?«

»Ach Gott, der Stein!« Das Gesicht des Earls wirkte alt und müde. »Ja, mein Kind, das Royal Heart hat es gegeben. Aber es scheint verloren gegangen zu sein. Und ich kenne nur einen einzigen Menschen, der die wahren Umstände um das Herz des Königs kennen könnte.«