Neunzehn

Wo sind denn nur alle?«, fragte der Duke. Er und Moyra standen einander in der großen Halle gegenüber.

»Ethelred kommt erst Heiligabend wieder«, antwortete sie. »Mein Vater lässt sich entschuldigen. Der Arzt ist gerade bei ihm. Und den jungen Butler hast du selbst in den Kerker werfen lassen, Freddie.«

Der Duke war im abendlichen Frack. Die Brillanten an seiner Hemdbrust blitzten aggressiv. »Und weshalb ist die Polizei noch nicht zu seiner Verhaftung da gewesen?«

»Vi hat dafür gesorgt, dass die Polizisten wieder abgezogen sind. Sie hat den Constables frohe Weihnachten gewünscht und ihnen etwas von unserem Plumpudding mitgegeben.«

»Weggeschickt? Mit welcher Begründung?«, brauste der Duke auf.

»Ich nehme an, unsere Dorfpolizisten hatten ohnehin wenig Lust, jemanden ausgerechnet zu Weihnachten zu inhaftieren.« Moyra wies in die leere Halle. »Ich fürchte, zum Dinner wirst du mit mir allein vorliebnehmen müssen.« Sie winkte dem Valet, es konnte angerichtet werden.

»Und wo ist Virginia?«, schnaubte der Duke.

»Das weiß ich nicht.«

»Kommt sie nicht zum Essen?«

Ein gehässiges Lächeln trat in Moyras Augen. »Vielleicht hat sie etwas Besseres zu tun, Freddie.« Sie ließ sich vom Valet den Stuhl zurückziehen und setzte sich. »Wollen wir?«

»Ich habe keinen Hunger.« Mit fliegenden Frackschößen verließ der Duke St. Anthony’s Hall.

* * *

Auf verbotenen Pfaden bewegte sich Virginia durch ihr eigenes Haus. Der Earl hatte Befehl gegeben, niemand dürfe den Gefangenen besuchen. Das Essen sollte Mr Kindheart vom Castellan in die Zelle gebracht werden, jenem verwirrten Torwächter, zu dem keiner im Schloss Kontakt hatte.

Doch nicht der Castellan kam mit dem Tablett die Treppe herunter, sondern die Countess persönlich. Den Schlüssel hatte sie aus der Sattelkammer entwendet und schloss damit die schwere Ulmentür auf.

Jahrhunderte der Grausamkeit zogen an ihr vorbei, als sie durch den steinernen Korridor lief. Die Kerze auf dem Tablett beleuchtete jene Werkzeuge an den Wänden, mit denen man Inhaftierte in früheren Zeiten zum Reden gebracht hatte. Virginia erreichte die letzte Tür und spähte durch die vergitterte Aussparung.

»Du hast dich zum Dinner noch nicht umgezogen«, rief sie munter. Hatte das Elend eine Sprache? Verlangte die Tragödie tragische Worte? Virginia kümmerte das nicht, weil ihr selbst fröhlich ums Herz war. Dort lag er, ihr Charlie, lag auf der harten Pritsche und starrte zum Gewölbe hoch.

Für einen Moment war er überrascht, doch schon im nächsten lachte er über Virginias Begrüßung und setzte sich auf. »Man hat vergessen, mir meinen Frack zu bringen.« Er kam auf die Tür zu.

»Aber Hunger wirst du doch haben?«

»Bärenhunger.« Er beobachtete, wie sie den Schlüssel umständlich ins Schloss steckte und das Tablett dabei fast fallen ließ. »Ich dachte, wenn das nächste Mal hier unten jemand auftaucht, wäre es die Polizei.«

»Die Polizei hat Besseres zu tun.« Der Schlüssel drehte sich im Schloss.

»Was denn?«

»Sie üben die schönen alten Weihnachtslieder und naschen von unserem Plumpudding.« Das Licht flackerte, als Virginia das Tablett abstellte.

Und dann lagen sie einander in den Armen, küssten und streichelten sich, lange und ausgiebig.

»Was sagt dein Vater dazu, dass du mich besuchst?«, raunte er ihr ins Ohr.

»Er weiß es nicht«, flüsterte sie. »Und auch sonst niemand.«

Charlie sah sie an. »Der Duke wird gewiss darauf bestehen, dass ich dem Richter vorgeführt werde. Er und der Earl …«

Sie legte ihm die Hand auf den Mund. »Wenn du einen Augenblick still sein könntest, würden wir all die Dinge besprechen, auf die es wirklich ankommt.«

»Worauf kommt es denn an?« Er führte sie zur Pritsche. Sie setzten sich.

»Ich war bei deinem Großonkel. Er lässt dich grüßen.«

»Onkel Patters?«, erwiderte Charlie überrascht. »Wie geht es ihm?«

Diesmal hob sie nur den Zeigefinger. »Du sollst mich nicht unterbrechen.«

»Verzeih.«

Virginia machte ein bedeutendes Gesicht. »Patters weiß, wo sich das Royal Heart befindet. Zumindest glaubt er, es zu wissen.«

»Darf ich etwas sagen?«

Sie nickte huldvoll.

»Ich glaube auch zu wissen, wo der Stein versteckt ist.«

»Du?« Sie rückte ab. »Wie solltest du dahintergekommen sein?«

Statt einer Antwort zeigte Charlie zur Gewölbedecke hoch. »Wie heißt es in eurer Familienlegende? – Dieses Herz müsst Ihr in einem Stein versiegeln und der Stein soll die oberste Bekrönung abschließen.« Er wies auf den fünfeckigen Stein. Im schwachen Schein der Kerze war er fast nicht zu erkennen. »Da hast du deinen Schlussstein. Er stellt die oberste Bekrönung dar, aber nicht des Daches, sondern des Gewölbes. Dieser Stein trägt das ganze Schloss. Du kannst ihn nicht herausnehmen, ohne dass alles zusammenbricht.«

Virginia sah ihn bewundernd an. Er war ganz allein auf des Rätsels Lösung gekommen, das ihr wiederum von Patters anvertraut worden war. »Du hast recht, mein Liebster.« Sie schmiegte sich an ihn. »Zugleich hast du auch unrecht. Es gibt einen Weg.«

»Aber sieh dir doch die Konstruktion an. Du kannst dort oben nichts herausnehmen. Es ist statisch unmöglich.«

»Du bist sehr gebildet, Charlie. Aber dir fehlt die Fähigkeit, zuzuhören.« Sie sah ihn an. »Ich werde dir erklären, wie es funktioniert.« Sie nahm seine Hand und stand auf. »Komm.«

»Ich habe noch nichts gegessen.«

»Das Hähnchen ist versalzen.« Sie zog den Gefangenen aus dem Verlies.

* * *

Lustlos führte Moyra Trevelyan Bissen um Bissen an den Mund. Wie still es in der Halle war, wie unheimlich. Ein einzelner Valet stand an der Anrichte, falls sich die Countess noch mehr auftun lassen wollte. Hinter ihr hielt der Sub-Butler die Weinkaraffe bereit, falls sie Durst hatte. Normalerweise fiel Moyra das Personal kaum auf, doch heute Abend kam sie sich zwischen den Männern wie eine Gefangene vor. Wenn wenigstens Ethelred hier gewesen wäre. Sie fand seine Anwesenheit selten inspirierend, aber manchmal tat es gut, einen Mann an ihrer Seite zu haben – am Abend vor Heiligabend zum Beispiel.

Der Sturmmonat machte seinem Namen alle Ehre. Der Wind heulte und blies um die Mauern, sang in den Innenhöfen, die Fenster klapperten, durch jede Ritze zog es herein. Zu allem Überfluss war das Hähnchen versalzen. Moyra aß den Kartoffelbrei und den Rosenkohl, das Hühnerbein schob sie beiseite. Wenn wenigstens Daddy mit ihr essen würde. Warum musste er sich ausgerechnet an diesem Abend ins Bett legen? Heute hatte sich wirklich alles gegen Moyra verschworen.

* * *

Dr. Murphy legte dem Patienten das Blutdruckgerät an, pumpte es auf und las den Wert ab.

Aus ernsten Augen sah der Earl ihn an. »Die Wahrheit, Ben. Ich möchte nichts als die Wahrheit von dir hören.«

»Tja, Tommy – « Dr. Murphy seufzte. »Alle Teile unseres Körpers spielen zusammen. So funktioniert das Ganze. Du musst dir das wie bei einem Orchester vorstellen. Sind die Trompeten zu laut, hört man die Geigen nicht mehr. Wenn die Klarinette falsch spielt, wird die schönste Melodie zur Katzenmusik.«

»Und wie ist das bei mir, spielt die Klarinette falsch?«

Der Doktor beugte sich zu seinem Freund. »Du wolltest die Wahrheit, Tommy.«

»Natürlich, Ben.«

»Es ist nicht nur die Klarinette.«

»Heißt das, der Kontrabass fiedelt gegen den Strich?«

»Der Kontrabass, das Flügelhorn und die Piccoloflöte, fürchte ich.« Dr. Murphy zwang sich zu einem Lächeln.

»Könnte man die Instrumente nicht neu stimmen?« Wenig Hoffnung schwang in der Stimme des Earl mit.

Der Arzt öffnete seine Tasche. »Ich gebe dir etwas, Tommy, wovon du gut schlafen wirst. Morgen geht es dir bestimmt besser. Wenn das Wetter nur nicht so feucht wäre. Die Feuchtigkeit ist schlecht für den Kontrabass.«

Als der Doktor aufstehen wollte, um ein Wasserglas zu holen, hielt der Earl ihn fest. »Wie es aussieht, werde ich dem großen Dirigenten da oben bald persönlich begegnen, nicht wahr, ja, Ben, ist es so?«

»Das hat noch ein bisschen Zeit, Tommy.« Dr. Murphy ergriff die Hand des Freundes. »Aber ich will dir nicht verhehlen, dass der letzte Satz der Symphonie begonnen hat.«

»Danke, Ben. Danke für die Wahrheit.« Der Earl sank zurück. »Habe ich mein Haus wohl bestellt? Habe ich meine Töchter abgesichert?«

»Wieso zweifelst du daran?«

»Weil sich Dinge auf St. Michael’s zutragen, Dinge …« Sir Thomas schüttelte den Kopf. »Aber das sind Familienangelegenheiten. Gib mir jetzt dein Mittelchen, Ben. Ein guter langer Schlaf ist genau das, was ich brauche.«

* * *

Der Duke verließ Virginias Zimmer. Wenn sie nicht mit der Familie zu Abend speiste, hätte sie eigentlich dort sein müssen. Vielleicht war sie aber auch in der Bibliothek. Ihren Geliebten zu besuchen, hatte man ihr untersagt. Aber konnte man einer Countess in ihrem eigenen Haus etwas verbieten?

Getrieben von bösen Vorahnungen lief der Duke den Korridor hinunter. Auch die Bibliothek war leer. Die Lichter brannten. War Virginia gerade noch hier gewesen? Floh sie vor ihm, wusste sie, dass er sie suchte? Und wenn sie das Verbot ihres Vaters missachtet hätte und doch ins Verlies hinabgestiegen wäre? Wer könnte ihm darüber Auskunft geben? Der Castellan natürlich, er hatte Order, über den Gefangenen zu wachen.

Freddie eilte aus der Bibliothek und pochte wenig später an die Tür des Torwächters.

»Hallo, Mann, schlafen Sie?«

Die Behausung des Castellans lag neben dem Schlosstor. Der Sturm wurde immer wilder. Der Duke trug nur seinen Frack, er fror. Er verfluchte das verdammte Schloss, das Meer, den Sturm, den Dezember.

»Aufmachen, Herrgott, ich hole mir den Tod!«

Man hörte ein Schlurfen, ein Licht erschien, jemand räusperte sich. Knarrend schwang die Tür auf. Ein verwittertes Gesicht mit roten Augen, zu Berge stehendes Haar, so trat der Castellan dem Duke entgegen.

»Ja bitte, Sir?«, sagte der Wächter mit schwacher Stimme.

»Auf die Beine, Mann. Ich muss ins Verlies.«

»Niemand darf ins Verlies. So lautet mein Befehl. Wir haben einen Gefangenen dort, und der darf keinen Besuch erhalten.«

»Ich selbst habe den Gefangenen dort einquartieren lassen«, gab der Duke zurück.

»Das stimmt nicht, Sir.« Der Castellan bemühte sich um eine gewisse Würde. »Unser Herr, Sir Thomas, hat den Befehl dazu erteilt.«

»Wissen Sie eigentlich, wer vor Ihnen steht?« Der Duke stellte den Frackkragen hoch.

»Sie sind einer der Gäste unseres Earl, Sir.« Der Castellan rieb sich die Hände, die Kälte drang in seine Wohnung.

»Ich bin der Herzog von Somerset! Sie schlüpfen jetzt sofort in Ihre Schuhe und zeigen mir den Weg in den Kerker!«

Aus roten Augen starrte der Wächter den eleganten Mann an. »Der Herzog … Der Herzog …?«, stammelte er. Und noch einmal: »Der Herzog von Somerset?«

* * *

»Das kann nicht dein Ernst sein«, rief Charlie.

Virginia sah sich auf dem menschenleeren Osthof um. »Mein voller Ernst.«

»Du selbst würdest unter keinen Umständen da hinuntersteigen.«

»Natürlich nicht.«

»Aber ich soll es tun?« Charlie beugte sich über den Rand.

»Du schaffst das. Weil du bis jetzt alles geschafft hast.« Sie umarmte ihn.

»Ich habe es geschafft, im Gefängnis zu landen«, widersprach er, ihre Arme um seinen Hals. »Nur Unglück habe ich dir bis jetzt gebracht.«

Sie drückte ihn so fest sie konnte. »Glücklich, glücklich hast du mich gemacht, Charlie.« Wie ein scheues Tier fuhr sie plötzlich hoch. »Hast du das gehört?«

»Was?«

Sie witterte, sie lauschte. »Ach nichts. Aber wenn jemand kommt … Wir müssen schnell sein.« Sie rannte zur nächsten Toröffnung, spähte hinaus und war wieder zurück. »Gott sei Dank ist auf dem Osthof selten jemand.«

»Wie kommt das?«

»Weil wir die Zisterne nur noch manchmal benützen, um die Tiere zu tränken. Daddy hat vor Jahren einen Wasserspeicher installieren lassen. Seitdem wird das Süßwasser vom Festland zu uns herübergepumpt.«

Charlie streichelte ihr Haar. »Du weißt, wie unwahrscheinlich deine Annahme ist.«

»Es ist keine Annahme. Dein Großonkel war sich diesbezüglich sicher.«

»Wie kann er sicher sein, wenn die Sache vor so langer Zeit passiert ist?«

Sie nahm seine Hand. »Charlie, wenn die Zisterne tatsächlich über dem Schlussstein endet, muss es möglich sein, von oben an den Stein heranzukommen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann bist du lediglich ein bisschen nass geworden.«

»Wir wissen nicht, wie tief die Zisterne ist.«

»Bestimmt nicht tiefer als der Kerker.«

»Aber wir wissen nicht, wie tief das Wasser ist.«

»Es hat in letzter Zeit wenig geregnet. Das dürfte kein Problem darstellen.«

»Kein Problem, wenn ich im Dezember in einen dunklen Schacht hinabtauchen soll?«

Verwundert musterte sie ihn. »So verzagt kenne ich dich gar nicht. Wer ist denn ins kalte Wasser gesprungen, als unser Pferd nicht weiterwollte? Das warst du.«

»Weil ich dir imponieren wollte.«

»Und nun, da es um einen unschätzbaren Diamanten geht, willst du mir nicht mehr imponieren?«

Charlie blieb ihr die Antwort schuldig und zog seine Jacke aus. Er zog sein Hemd aus. Der kalte Hauch stand ihm vor dem Mund. Ein letztes Mal versuchte er, sie umzustimmen. »Es ist unmöglich, Vi. Wenn die Zisterne wirklich bis zum Schlussstein hinunterreicht, müsste das Wasser durch das Gewölbe sickern. Leuchtet dir das ein?«

Statt einer Antwort hob Virginia ihren Rock und zog ihn über den Kopf aus. »Na gut. Du hast es so gewollt.« Die Bluse folgte als Nächstes.

»Was machst du?«, fragte er zitternd.

»Da du dich weigerst, werde eben ich hinuntergehen.« Im Mieder und langen Rüschenunterhosen stand sie vor ihm.

Im nächsten Moment saß Charlie auf der Brüstung. »Kommt nicht infrage.« Er band sich das Seil um den Bauch, das auf der Winde über der Zisterne hing. »Hoffentlich ist der Strick lang genug.«

Virginia trat an die Winde und stemmte sich gegen die Kurbel. »Probieren geht über Studieren.«

»Du musst die Bremse einsetzen«, sagte er.

Sie klappte den Bremssplint in die Zahnräder, damit der Schwung ihr die Kurbel nicht aus der Hand reißen konnte.

Charlie prüfte den Sitz des Seiles und ließ sein Gewicht langsam hineinsinken. Es hielt.

»Nachlassen«, sagte er.

Zahnrad für Zahnrad kurbelte Virginia die Winde abwärts.

»Leb wohl«, seufzte er.

»Bis gleich«, rief sie ermunternd. Hoffentlich sah er die Angst in ihren Augen nicht.