Einundzwanzig

In der Halle wurde sauber gemacht, Heiligabend war vorüber. Tonnen von Geschirr wanderten in die Küche. Vier Tellerwäscher machten sich an die Arbeit. Die Feier war kürzer ausgefallen als gewöhnlich. Der Donnerschlag, den der Earl hereinbrechen hatte lassen, war so manchem aufs Gemüt geschlagen. Es ging auf Mitternacht.

Um diese ungewöhnliche Zeit hatte Sir Thomas zwei Menschen auf sein Zimmer gebeten. Zögernd, leise, ein wenig ängstlich traten Virginia und Kindheart ein.

Der Earl warf einen Blick auf die Kaminuhr. »Wie spät es geworden ist.«

»In der Tat, Mylord.« Charles blieb in respektvollem Abstand stehen.

»Nicht so scheu«, ermunterte ihn der Earl. »Sie haben sich auf ein hohes Ross geschwungen, bester junger Mann. Nun seien Sie auch so couragiert und stehen Sie dazu.«

»Ich war mir nicht bewusst, dass ich mich auf ein Ross geschwungen hätte, Mylord.«

»Setzen Sie sich. Wir alle wollen uns setzen, denn …« Ächzend ließ er sich in den Sessel fallen. »Denn diese Schuhe, vielmehr meine Füße bringen mich um. Ich möchte gleich zu Bett gehen.«

Während Kindheart auf der vordersten Kante eines Stuhles Platz nahm, kniete Virginia sich hin und zog ihrem Vater die Stiefeletten aus. Die schwere Kette, vielmehr das Royal Heart, war ihr dabei im Weg.

»Der Klunker ist ziemlich unpraktisch, nicht wahr?«, schmunzelte Sir Thomas.

»Du hast recht.« Sie stand noch einmal auf, strich ihr Haar aus dem Nacken und stellte sich mit dem Rücken vor Charlie. »Hilfst du mir bitte?«

Er löste den Verschluss. Im nächsten Moment hielt Charles Kindheart das kostbare Juwel in seinen Händen.

»Ich verdanke Ihnen viel, Mr Kindheart.« Sir Thomas trat vor sein Bett. »Und weil ich Ihnen so viel verdanke, sollten wir gemeinsam über Ihre Zukunft nachdenken.«

»Wenn Sie das für richtig halten, Mylord – « Charlie legte die Kette auf den Nachttisch.

»Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie meine Tochter nicht heiraten können«, fuhr Sir Thomas im gleichen freundlichen Ton fort.

»Wieso nicht, Daddy?« Virginia fuhr herum.

Doch Kindheart nickte. »Ich weiß, Mylord. Das habe ich mir auch schon gedacht.«

»Was redet ihr da?«, empörte sie sich. »Das ist ja wohl auch meine Entscheidung!«

Der Blick des Vaters war milde und ernst zugleich. »Du bist sechzehn, mein Liebling. In vier Jahren darfst du deine eigenen Entscheidungen treffen, aber selbst dann ist eine Weisung des Earl of Laureal immer noch bindend.«

»Vier Jahre soll ich warten, bis ich … bis Charlie und ich …!«

»Ungeduld war schon immer deine hervorstechendste Untugend«, tadelte sie Sir Thomas schmunzelnd. »Du kannst Mr Kindheart unter den jetzigen Umständen nicht heiraten. Andererseits gibt es da eine Möglichkeit, diese Umstände zu ändern.«

»Welche denn, Daddy?« Sie lief zu ihrem Vater und half ihm aus dem Frack.

»Ein Adelstitel ist Ihnen verwehrt, Mr Kindheart, außer – und dieses Außer ist von Wichtigkeit –, außer ich würde Sie adoptieren und damit in die Erbfolge der Trevelyans aufnehmen.«

»Adoptieren … mich?«, war alles, was Charlie hervorbrachte.

Mit einer Geste deutete der Earl an, dass er noch nicht fertig sei. »Wenn Sie also ein Familienmitglied der Trevelyans geworden sind und damit in den Rang eines Count oder Baron aufsteigen, sieht die Sache anders aus. Da Sie und Virginia nicht blutsverwandt sind, würde in diesem Fall einer Verehelichung nichts mehr im Wege stehen.« Er blickte von seiner Tochter zu dem verdutzten Butler und wieder zurück. »Was sagt ihr dazu?«

»Papa – «, flüsterte Virginia. »Oh, du lieber, guter, du einziger Papa!«

»Natürlich bin ich dein einziger Papa«, lachte Sir Thomas und ließ die Zärtlichkeiten seiner Tochter über sich ergehen. »Und jetzt ins Bett mit uns allen! Ich sterbe vor Müdigkeit und möchte vor morgen früh keinen von euch mehr sehen.«

Charles erhob sich und machte eine korrekte Verbeugung. »Selbstverständlich, Mylord.«

Virginia küsste ihren Daddy noch einmal, huschte zu Charlie und schob ihre Hand in seine.

»Nein, das geht nicht«, rief der Lord ihnen nach. »Ihr beide sagt euch jetzt gesittet gute Nacht. Kein Geturtel und Gekose mehr, habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Das haben Sie, Mylord.«

Sir Thomas ließ die Hosenträger herunter. »Hinaus mit euch, oder wollt ihr mich in Unterhosen sehen?«

Hand in Hand verließen die Verliebten das väterliche Schlafgemach.

* * *

Virginia hatte sich alles genau überlegt. Doch je länger sie nachdachte, desto mehr Fragen tauchten auf. Charlie hatte das Royal Heart aus der Tiefe der Zisterne getaucht, weil Virginia es von ihm verlangte. Charlie sollte adoptiert und zum Count geadelt werden, weil Daddy das so vorsah. Aber wer fragte eigentlich Charlie, was er selbst wollte? Im Taumel der Ereignisse war die wichtigste Person nicht nach ihrer Meinung, ihren Wünschen gefragt worden. Charlie war Student, er hatte bestimmt andere Pläne für sein weiteres Leben geschmiedet. Das Dasein auf St. Michael’s bestand nicht nur aus Liebesgeflüster und Sonnenschein. Die Hälfte des Jahres regnete es, die andere Hälfte blies der Sturm. Die Tage auf dem Schloss verliefen eintönig, zumindest für jemanden, der gewohnt war, in London zu leben.

London! Wieso konnten sie und Charlie nicht nach London ziehen? Wäre das nicht großartig, zumindest für einige Zeit? Doch das ging ja nicht, weil ihr Vater Virginia brauchte. Daddy brauchte sie mit jedem Jahr mehr, und eines Tages würde sie als Countess allein auf diesem Schloss bestimmen. Oder wäre das zugleich Charlies Aufgabe? Welchen Rang bekleidete er in Zukunft bei den Trevelyans? Plötzlich ärgerte sie sich, dass sie in den gleichen Kategorien dachte wie ihr Vater und die meisten Aristokraten. Natürlich wäre Charlie in erster Linie ihr geliebter Mann und erst danach der … tja, er würde wohl die Rolle des Prinzgemahls erhalten. Nicht er, sondern Virginia erbte den Titel.

Die Fragen und Zweifel ließen Virginia nicht einschlafen. Morgen war der erste Weihnachtsfeiertag. Doch an diesem Morgen würden andere Ereignisse in den Vordergrund treten als das Fest. Gewiss war der schmähliche Abgang des Dukes Gesprächsthema, auch das überraschend gefundene Juwel und natürlich der junge Butler, gestern noch in den Kerker geworfen, stieg er nun zum Vertrauten des Earl auf, zum Erwählten der Countess. Solche Neuigkeiten würden durch das Schloss geistern, statt Weihnachtswünsche würden Gerüchte durch die alten Mauern wispern.

Deshalb wollte Virginia die wichtigsten Fragen klären, bevor die Sonne aufging, bevor die Ereignisse über ihr zusammenschlagen würden. Sie schlüpfte aus dem Bett, verließ ihr Zimmer und öffnete auf der anderen Seite des Korridors leise die Tür.

»Daddy?« Virginia schlich näher. »Daddy, schläfst du?« Noch ein Schritt. Sie blieb stehen. »Natürlich schläfst du. Du musst müde sein. Aber ich möchte … Nein, ich muss. Heute Nacht brauche ich deinen Rat, Papa.«

Sie lief bis an sein Bett. »Bitte wach auf, Daddy.« Sanft legte sie ihre Hand auf seine Schulter und schüttelte ihn. »Komm, mein lieber Daddy, wach doch auf.«

Sie zog die Hand zurück, tastete nach der Lampe und den Streichhölzern.

Virginia wusste es, bevor sie das erste Schwefelhölzchen entzündet hatte. Sie wusste es, wusste es genau. Sie nahm den Glasschirm ab und hielt die Flamme an den Docht. Sie setzte den Schirm wieder auf und drehte den Docht höher. Die Lampe verströmte ihren warmen, hellen Glanz.

Noch nie hatte Virginia einen friedlicheren Anblick gesehen als diesen. Wenn je ein Mensch sanft und glücklich von einem Leben in das nächste hinübergewechselt war, dann ihr Vater. Mit geschlossenen Augen lag der Earl of Laureal da, ein Lächeln spielte um seinen Mund. Er strahlte Sanftmut, Zufriedenheit, er strahlte Erfülltheit aus.

»Oh Daddy, mein lieber Daddy«, flüsterte sie unter Tränen. »Schlaf nur, mein wunderbarer Vater. Schlaf. Ruh dich aus.«

Sie nahm den Toten in ihre Arme. Sie streichelte sein weißes Haar. Nach und nach, ohne dass sie es bemerkte, begann sie mit ihm zu sprechen. Sie erzählte ihm, wie es ihr ums Herz war. Sie erzählte ihrem Vater alles.

* * *

»Ich habe mit ihm gesprochen, bis der Morgen graute«, erzählte Virginia. Die Hundertjährige hielt die Tasse in der Hand, der Tee war kalt geworden.

Timmy saß an ihrem Bett. Verstohlen wischte er sich Tränen aus den Augen. »Und dann?«

Mit wachem Blick sah ihn die Großmutter an. »Was dann kam, war ziemlich einfach, Timmy.«

»Einfach? Ich dachte, es wäre schrecklich für dich gewesen, Nana.«

»Das Schrecklichste hatte ich bereits hinter mir.«

»Aber das Begräbnis – und die Erbfolge. Was wurde aus Charlie? Nun, da dein Vater tot war, konnte nichts mehr so geregelt werden, wie er es vorgesehen hatte.«

»So ist es, mein Lieber.« Sie ließ den Kopf gegen das Kissen sinken. »Und das war das größte Glück meines Lebens.«

»Dein Glück?«

Sie schaute aus dem Fenster. »Noch vor dem Jahrhundertwechsel wurde Daddy in der Familiengruft beigesetzt. In der Grafschaft hielt man eine Staatstrauer von drei Tagen ab. Der Gedenkgottesdienst fand nicht bei uns in der Schlosskapelle statt, sondern in der Kirche von Marazion. Der Bischof kam aus Truro, er hat sehr schön gesprochen. Auch ich sollte eine kleine Rede halten. Aber ich habe Moyra den Vortritt gelassen.«

»Wieso?« Timmy rieb sich die Hände. Das Feuer war ausgegangen.

»Weil sie die Ältere von uns beiden war, und es außerdem nichts gab, was ich hätte sagen können, das Daddy gerecht geworden wäre. Er und ich, wir waren wie zwei Liebende, verbunden durch ein Band, das nie zerreißen wird, das ich aber auch mit niemandem teilen konnte. Nach dem Gottesdienst haben mir alle kondoliert.«

»Und dann?«

»Bin ich hinausgegangen.«

»Ja und? Was ist geschehen?«

»Dann bin ich abgefahren.«

»Wohin?«

»Das müsstest du doch wissen, Timmy.«

»Wieso sollte ich das wissen, Nana?«

»Weil deine Existenz darauf beruht, dass ich nach dem Gedenkgottesdienst meines Vaters für immer fortgegangen bin. Vor der Kirche wartete eine Kutsche. Nicht das auffällige Gefährt mit den vergoldeten Lampen und dem Emblem des Earls an den Türen, nur ein schlichter Wagen mit Verdeck, gezogen auch nicht von Archibald, sondern einem frischen Pferdchen. Die Stute hieß Contessa.«

»Ich nehme an, dass auch nicht euer alter Kutscher die Zügel geführt hat.«

»Kluger Junge, Timmy.« Sie gab ihm die leere Tasse. »Ich bin eingestiegen, Charlie hat mit der Zunge geschnalzt, Contessa setzte sich in Trab. Ich habe mich nicht ein einziges Mal umgedreht. Und ich bin nie wieder nach St. Michael’s Mount zurückgekehrt. Vierundachtzig Jahre lang nicht. Bis zu jenem Tag, an dem du dein Auto hervorgeholt und mich hierher gebracht hast.«

»Aber das Schloss – dein Erbe – Charlie –, ich verstehe das alles nicht. Wenn du mit ihm durchgebrannt bist, dann … dann hast du ihn also doch geheiratet?«

»Natürlich, Timmy. Was denkst du denn? Wir wollten Kinder kriegen.«

»Aber dein Name ist nicht Kindheart. Mein Name ist nicht Kindheart.«

»Wenn du mir noch eine Tasse Tee bringst, erzähle ich dir alles ganz genau.«

So schnell wie jetzt hatte Timmy noch nie den Herd angeheizt, Wasser aufgekocht und Tee zubereitet.

»Bitte sehr. Erzähl, Nana, erzähl schon.«

»Charles Kindheart war der Ruf des Lebens für mich, den Gott mir geschickt hat, damit ich ein anderes Leben führen sollte als alle meine Vorfahren. Von jemandem abzustammen, der im 13. Jahrhundert Seite an Seite mit dem König Schlachten ausgefochten hat, ist bedeutungslos, es macht vor allem nicht glücklich. Ich aber wollte glücklich sein. Ich wollte dem Ruf des Lebens folgen. Ich habe all die Geschenke meiner Herkunft in die Hände des Schicksals zurückgelegt. Ich habe meine Besitzungen Moyra überschrieben. Sie mag nicht der beste Mensch gewesen sein, aber eines konnte sie wie keine zweite: Eine feine Lady spielen. Sie war die wirkliche Countess auf St. Michael’s, ich bin es nie gewesen. Als sie älter wurde, fand Moyra zu Ruhe und Besonnenheit und hat ihr Erbe gut verwaltet. Da sie und Ethelred keine Kinder bekommen konnten, wäre die Last des Titels schließlich wieder an mich zurückgefallen. Aber das wollte ich um keinen Preis. Moyras Mann Ethelred starb kurz nach ihr. Damals habe ich das Schloss, die Insel und alle Ländereien an den National Trust vermacht. Die Grafschaft Cornwall verwaltet dieses Gut seit vielen Jahren weit besser, als ich es je gekonnt hätte.«

»Was wurde aus dem Duke?«, fragte Timmy.

»Der betrügerische Freddie? Ach ja. Er kam aus seinen Schwierigkeiten nicht heraus. Die Schulden wuchsen ihm über den Kopf. Bei Nacht und Nebel ist er nach Venezuela geflohen. Doch ein Mann wie Freddie wurde in Venezuela nicht froh. Er hat sich in der Nähe von Caracas eine Kugel in den Kopf geschossen. Man fand seine Leiche Tage später, als die Möwen sich bereits daran gütlich taten. Ein unrühmliches Ende für einen ruhmlosen Menschen.«

»Und du und dein Charles?«

»Charlie und ich wurden so glücklich, wie zwei Menschen nur sein konnten. Er hat sein Studium beendet und bekam an der Universität von Oxford eine Assistentenstelle. Später wurde er Dozent. Wir lebten in Oxford, manchmal in London. Die meiste Zeit mit Charlie war ich froh und unbeschwert.«

Timmy nickte bewegt. »Was ich noch nicht verstehe, Nana: Du heißt nicht Kindheart, sondern Barnes. Auch meine Eltern heißen Barnes.«

Ihre Hand strich über die Decke, hin und her. Es kostete sie Mühe, das Kommende auszusprechen.

»Charlie starb mit knapp vierzig Jahren. Es ging unglaublich schnell. Ich war auf seinen Tod nicht vorbereitet. Bis zuletzt bin ich bei ihm gewesen.«

»Aber da warst du doch erst …«

»Ich war Witwe mit neunundzwanzig. Jahrelang habe ich um ihn getrauert. Doch danach bin ich, wie du weißt, wieder dem Ruf des Lebens gefolgt. Ich habe noch einmal geheiratet. Timothy Barnes war ein guter Mann, ganz anders als Charles. Auch er ist nun schon viele Jahre tot.« In einem plötzlichen Entschluss gab Virginia Timmy die Tasse, schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.

»Was willst du tun, Nana?«

»Wir brechen auf.«

»So schnell?«

»Natürlich schnell.« Sie zeigte aus dem Fenster. »In einer halben Stunde setzt die Flut ein. Wir müssen uns beeilen. Hilf mir beim Anziehen.«

»Aber …« Timmy war von der Energie seiner Großmutter überfordert. »Ich muss erst das Feuer im Herd löschen.«

»Das geht von selbst aus.«

»Wir müssen packen.«

»Das dauert keine zwei Minuten.«

»Was wird Mr Starmuehler sagen, wenn wir Hals über Kopf aufbrechen?«

»Von allen Dingen, die mich derzeit beschäftigen, steht an allerletzter Stelle das Problem, was Mr Starmuehler dazu sagen wird.« Sie machte ein paar vorsichtige Schritte zu dem Stuhl hin, auf dem ihre Kleider lagen. »Los, Timmy, hilf mir. Ich will dieses Eiland endlich verlassen. Und in meinem Alter stehen die Chancen gut, dass ich es niemals wiedersehen muss.«

Timmy tat, wie Virginia ihm auftrug. Tatsächlich brachte er sie kaum eine Viertelstunde später im Rollstuhl zum Vauxhall. Die Koffer und der Stuhl wurden verstaut, angeschnallt saß Nana auf dem Beifahrersitz.

»Los geht’s!«, rief sie. »Ach, wie ich mich freue, nach Hause zu kommen.«

»Du bist mir schon eine lustige Alte«, lachte Timmy und steuerte auf die schmale Straße hinaus, die St. Michael’s mit dem Festland verband. »Manchmal hast du wirklich noch etwas von der sechzehnjährigen Countess, die du einmal warst.«

Virginia wurde still und nachdenklich.

»Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Nein, es stimmt. Ich habe tatsächlich noch etwas von der sechzehnjährigen Countess, die ich einmal war.«

»Ja? Was denn? Was ist es?«

Mit einer langsamen Bewegung öffnete sie ihre Handtasche und zog es hervor.

»Du hast … Du hattest es – Du hattest das Royal Heart die ganze Zeit bei dir?«

»So ist es.« Sie lachte. »Als Andenken. Charlie und ich haben beschlossen, es als Andenken zu behalten. Viele Jahre lag es in einer Schublade.«

»Dieses kostbare Schmuckstück lag in einer Schublade?« Timmy war so verblüfft, dass er gefährlich nahe an den Straßenrand geriet.

»Kostbar? Ich weiß nicht. Ziemlich schwer ist der Klunker vor allem, schrecklich schwer. Ich weiß wirklich nicht, wieso ich ihn hierher mitgeschleppt habe.«

»Es ist immerhin das Royal Heart.«

»Mag sein.« Virginia schaute aus dem offenen Fenster. »Andererseits sieht es für mich so aus, als ob das Herz des Königs gute aerodynamische Eigenschaften hätte.«

»Aerodynamisch? Was willst du damit sagen?«

Virginia betrachtete das Wasser auf beiden Seiten. »Die Flut steigt ziemlich schnell. Wir müssen uns beeilen.«

»Ich fahre, so rasch ich kann.«

»Na dann«, sagte Virginia. »Dann will ich mal sehen, wie weit so ein königliches Herz wohl fliegen kann.«

»Nana!«, schrie Timmy und trat auf die Bremse. Der Vauxhall schlingerte und stand.

Der gelbe Diamant flog in die Luft empor. Die goldene Kette kräuselte sich im Flug. Für einen Moment sah es aus, als ob der Stein in der Höhe stehen bleiben würde, doch dann senkte er sich plötzlich und stürzte rasend schnell auf das graue Wasser zu. Nur ein leises Plopp war zu hören, als das Royal Heart die Wasseroberfläche durchbrach, kaum lauter als ein Kieselstein.

»Nana, was hast du getan!«

»Fahr nur, Timmy. Es ist in Ordnung so. Fahr zu, mein Lieber. Denn du weißt ja: Die Flut wartet auf niemanden.«

Virginia lehnte sich zurück und schloss die Augen.

* * *