Auf meiner Station gibt es eine ältere Dame, die gerne mit jedem, der vorbeikommt, ein Schwätzchen hält. Sie spricht genauso, wie Königin Beatrix früher gesprochen hat, als wäre sie von hoher Geburt.
So redet heutzutage kaum noch jemand, bis auf ein paar ältere Herrschaften, denen es von ihren Familien so beigebracht wurde. Unser derzeitiger König Willem-Alexander fängt mit diesem Quatsch erst gar nicht an. Irgendwie auch schade. Die ältere Dame und mich trennen ein paar Jahre, und ich bin weder vornehm noch von hoher Geburt. Sie spricht vermutlich so, wie sie es aus ihren Kreisen gewohnt ist, präzise artikulierend und höflich. Sie hüllt sich in ihre Sprache wie in einen stilvollen Mantel.
Ein bisschen sieht sie auch wie eine Königin aus, die gerade nicht im Dienst ist. Am Frühstückstisch erscheint sie immer in einem feinen Morgenmantel, ordentlich gekämmt und mit allen Manieren am rechten Fleck. Manchmal stehen die Butter oder die Marmelade ganz oben im Kühlschrank. Wenn sie dann um die Marmelade bittet, tut sie das so höflich wie nur irgend möglich. Sie sagt Konfitüre, ohne dabei affektiert oder arrogant zu wirken. Wenn sie um etwas bittet, gibt sie dabei verlegene Laute von sich, wie jemand, der sich nicht wirklich traut, zu fragen. Sie bittet um die Konfitüre und sagt im selben Atemzug, dass es nicht nötig sei, wenn es Umstände bereite.
Aber jeder hilft ihr gerne. Beim Frühstück hat sie mir erzählt, sie sei nicht zum ersten Mal hier. Sie werde jedes Jahr ein bisschen aufgepäppelt, nachdem sie hier vor vielen Jahren Patientin gewesen ist. Ich weiß nicht, ob man sich in solchen Gesundheitseinrichtungen eine Sonderbehandlung erkaufen kann, aber ich glaube, dass sie ganz gut bei Kasse ist. Ich sehe sie beim Frühstück, im Schwimmbad, freundlich, spindeldürr und mit gewissen angeborenen Allüren. Selbst wenn diese Frau einen Badeanzug trägt, ist sie immer noch bildhübsch. Und sie kommt regelmäßig wieder und lässt alles mit strahlender Dankbarkeit über sich ergehen. Sie ziehen sie durch das ganze Schwimmbecken, und sie strahlt.
Ich weiß nicht, worunter sie litt, ich weiß auch nicht, welchen Namen die Krankheit trug, die sie hatte, aber wahrscheinlich leidet sie vor allem an Einsamkeit. Oder auch an Einsamkeit. Ihr Leiden ist auf jeden Fall eines, das nicht vorübergeht. Deshalb kommt sie Jahr um Jahr für ein paar Tage für Übungen und eine weiterführende Therapie zurück. Ich glaube, sie freut sich jedes Mal ungemein auf diese Zeit.
Im Flur hängt die Mitteilung, man könne zur Nachbesprechung auf eine Tasse Kaffee vorbeikommen, auch die Angehörigen. Manchmal bin ich überrascht, wie gerne die Leute wiederkommen, zu einer Behandlung, einem Wiedersehen mit anderen Patienten, einem Informationsabend, für alles Mögliche. Ich schaue auch manchmal vorbei, aber nicht um andere Patienten wiederzusehen. Einmal gehe ich zu einem Kurs dorthin, und dann schaue ich kurz bei den Pflegerinnen der Neuro-Station vorbei, auf der ich so lange gelegen habe.
Bei »den Mädels« war man in Sicherheit. Ich vermisse manchmal den abgeschlossenen Raum auf der Station, in dem ich so viele Wochen auf meinem Bett gelegen habe.
Als ich schließlich definitiv die Mädels von der Station Neuro B2 verlassen durfte, haben sie zusammen eine Art Triumphbogen mit ihren Armen geformt, unter dem ich zum Abschied hindurchgehen durfte. Ich muss immer noch schlucken, wenn ich daran zurückdenke, dass sie sowas für mich gemacht haben. Im Frühling oder im Herbst oder zu Weihnachten bringe ich manchmal Blümchen vorbei. Ich vermisse sie. Eigentlich immer noch. Manchmal sagen sie: Jetzt müssen Sie aber wirklich nicht mehr vorbeischauen, okay? Das ist nicht gut für Sie! Ich vermute, sie denken, man müsse irgendwann wieder loslassen. Aber meine ältere Dame kommt immer zurück. Ich hoffe, dass sie das auch noch sehr lange darf.
Jetzt sind wir beide noch da. Ich treffe sie heute zufällig wieder mal am Kakaoautomaten im Gemeinschaftsraum, aus dem warmer Kakao kommt, der mich ganz glücklich macht. Ich trinke den lieben langen Tag davon. Ich werde bestimmt eine kleine Tonne. Frusttrinken.
Ich frage die ältere Dame, ob sie auch Kakao haben möchte. Gerne, wenn es keine Umstände macht. Aber es ist wirklich nicht nötig.
»Wundervoll, finden Sie nicht auch?«, sagt sie. »Finden Sie nicht auch? Das hätte ich um nichts in der Welt missen wollen!«
»Tja, ich schon«, antworte ich schnell. Für eine Sekunde dachte ich, sie würde den Kakao meinen, aber sie meinte den Aufenthalt in der Rehaklinik. Ich nehme es ihr fast übel, dass sie sich ihrem Schicksal einfach so fügt. Sie nickt mir freundlich zu und geht weiter. In meinem Kopf, der sich immer schuldig bekennt, heißt es dann wieder, sie gehe von dannen, weil ich etwas Falsches gesagt habe.
Dabei hatte die Begegnung so vielversprechend angefangen! Warum sage ich nicht einfach: »Da haben Sie aber sowas von recht! Schon allein der Kakao ist es wert. Vielleicht dürfen wir uns ja kurz zusammen hineinlegen!« Dann hätte ich wenigstens einen Witz gemacht. Und vielleicht hätte die ältere Dame dann noch erzählen können, wie wunderbar es ist, wenigstens einmal im Jahr ein paar Menschen um sich zu haben, die einem hochhelfen und einen ein Stückchen durchs warme Wasser eines fast leeren Schwimmbeckens tragen.