Ich werde mal eine Runde Zeitung lesen. Ich lese die Zeitung nicht, ich tue nur so, also würde ich sie lesen. Ich kann nichts lesen, ich kann mich nicht konzentrieren. Aber jetzt will ich einen Moment lang wie jemand wirken, der die Zeitung liest. Die Pflegerin sagt behutsam: »Frau Bijl. Würden Sie sich beim Essen bitte konzentrieren?«
Ich sage: »Und wenn nicht? Nehmen Sie mir dann die Zeitung weg?« Anscheinend bin ich dermaßen unkonzentriert, dass ich auch noch eine krümelige Aussprache habe — was ich selbst aber nicht bemerke. Weil ich mich für all das schäme, gebe ich mich besonders fröhlich. Versuche ich, besonders witzig zu sein. So ein kleiner Scherz, der hebt doch die Stimmung.
All die hilfreichen Bemerkungen und die aufgezwungene Unterstützung sind natürlich sinnvoll, denn ich muss wieder lernen, von meinem Teller zu essen, ohne dabei alles an der Zimmerdecke zu verteilen, und ich muss meine Zähne ordentlich putzen können. Aber ich will nicht wie ein unmündiges Kind behandelt werden. Und genau das bin ich. Ich bin ein Dreckspatz, ich bin ein unmündiges Kind.
Am Waschbecken wurden an strategisch sinnvollen Stellen Zettel und Fotos aufgehängt. Zahnbürste nehmen, ein klein bisschen Zahnpasta auf die Bürste drücken, putzen. Mein Zahnfleisch blutet. Jemand hat gesagt, ich müsse wegen der Medikamente besonders gut putzen. Für den frischen Mund. Ich glaube, mir werden die Zähne ausfallen. Das ist kein Spaß für jemanden, der zwanghaft alle drei Monate zum Parodontologen geht.
Ich darf eine Stunde lang ins Nähzimmer. Hahaha! Das Nähzimmer! Auf einem Stück Stoff mache ich mit einer dicken Nadel und einer Schnur einen Festonstich. Ich bin davon überzeugt, dass ich das ganz gut hinbekomme, aber ich bin froh, dass ich das Ergebnis erst zu sehen bekommen habe, als ich Monate später nach Hause durfte. Das Kunstwerk sieht aus, als hätte ein Schimpanse mit hochgezogenen Schultern und dicker Zunge munter herumgebastelt.
Der nette Hauspsychologe fragt mich regelmäßig, ob ich wütend sei. Wütend? Ich soll es mir vermutlich selbst eingestehen. Sonst werde ich die Wut nicht los. Das geht eben nur, wenn ich zugebe, dass ich wütend bin. Aber wenn ich wütend bin, auf wen oder was bin ich dann wütend? Und zweihundert Gramm Wut, wo kann ich die kaufen? Bei Gott? Von dem halte ich nicht so viel. Vielleicht müssen sie einen als Hirngeschädigten zwingend tiefgläubig machen, sonst kommt man nicht weiter. Wenn man ganz fest an etwas glaubt, ist man zu vielem bereit.
Der Physiotherapeut ist dafür das perfekte Beispiel. Jeden Tag steht da ein tiefgläubiger Turm aus Fleisch und zuckenden Muskeln und achtet genauestens darauf, dass niemand über die Stränge schlägt. Wenn ich Herrgott nochmal! ausrufe, weil ein Gewicht zu schwer ist, ruft er schnalzend mit aufgerissenen Augen: Ja heeeey! Hooo!! Als wäre ich ein widerspenstiges Pferd, das einen Peitschenhieb vertragen könnte. Das macht mich erst so richtig widerspenstig.
Ich würde übrigens niemals in Hörweite von Ellie fluchen, der weltbesten Ergotherapeutin, die mich täglich therapiert. Ellie ist auch gläubig, aber sie will mir nicht das Fluchen austreiben, sie will mir praktische Sachen beibringen, die mir durch den Alltag helfen. Sie geht mir nicht mit ihrer Gotteserfahrung auf den Keks, auch wenn sie die hat.
Ich habe mittlerweile Broschüren bei Ellie gelesen, Grafiken angesehen und mit nach Hause genommen, Gespräche geführt, Kurse besucht, und aus alldem muss ich schließen, dass die Zeit, in der man noch etwas dazulernen kann, endlich ist. Wie nutzt man diese endliche Zeit? Ruhig bleiben, nicht wütend aufstampfen, nicht fluchen, wie schmerzvoll es auch ist. In Ellies Nähe fluche ich nicht. Ellie ist lieb. Gott ist bei Ellie eine Hoffnung spendende Grafik in Rot und Schwarz. Ich bin bereit dazu, den grafischen Gott von Ellie anzubeten.
Es dringt langsam zu mir durch, dass meine Genesungszeit begrenzt ist. Und ich gehe es völlig falsch an. Ich will nicht akzeptieren, dass ich nicht wieder vollkommen gesund werden kann. Ich bin zwar gerade nicht ganz auf dem Damm, aber das geht vorüber, rede ich mir ein. Ich habe einfach keine Zeit für diesen Blödsinn. Ich habe nur einen nervigen Pickel. Ich akzeptiere diese Grafik nicht, ich blättere nur in der Broschüre, um einen guten Eindruck zu machen. Ich will um jeden Preis einen guten Eindruck hinterlassen.
Wir sitzen nebeneinander am Tisch. Ich könne noch jahrelang Fortschritte machen, sagt das liebe Mädchen von der Ergotherapie und zeigt mit dem Finger auf eine Seite. Schauen Sie, sagt sie, Sie haben längst nicht alles verlernt. Sie können noch eine Menge dazulernen. Dafür müssen Sie offen sein. Und um dafür offen zu sein, muss man erst akzeptieren, dass es so ist.
Eines Tages darf ich zusammen mit Berend das Kaffeemachen üben. Ellie bereitet in der Übungsküche alles vor. Berend macht mit, ich habe ihn tyrannisch darum gebeten, mitzukommen, damit er auch mal sieht, was sie hier alles mit mir anstellen. Er ist zu müde und vor allem zu hilfsbereit, und als er sieht, dass ich ihn beobachte, lässt er nervös das Tablett mit den Kaffeetassen fallen. Klirr, alles zerbricht, der Kaffee rinnt über den Boden. Die Therapeutin lacht. Ich bin mir sicher: Das war meine Schuld.
Und mein Herz zerbricht auch.
Jeden Tag gehe ich zu Ellie zur Therapie. Ich habe sie mittlerweile richtig liebgewonnen. Die guten Ratschläge und die Wohlfühlterminologie fliegen mir um die Ohren. Begriffe, die mir übel auf den Magen schlagen, aber ich bin dazu bereit, Ellie zu verschonen. Es geht mir vor allem um die Wörter ZEIT und HEILEN und WUNDEN. Energie. Rucksack. Rucksack voll, Rucksack leer. Das müssen Sie akzeptieren. Geduld. Gut zu sich selbst sein.
Gut zu sich selbst sein? Ich will nicht gut zu mir selbst sein! Ich muss arbeiten! Bald ist meine Zeit abgelaufen, und es geht mir immer noch nicht besser. Ich will einfach wieder ich sein, auch wenn ich mein Leben lang dachte, dass ich nicht gerade viel darstelle. Das steckt tief in mir drin, das habe ich irgendwann so gelernt oder von jemandem übernommen. Glaube ich jedenfalls. Am Charakter einer Person kann die Hirnblutung nichts ändern. Und auch Ellies Gott nicht. Das steckt in mir drin. Ich glaube, ich bin das selbst. Ich bin das natürlich auch selbst. Haben Sie Geduld, sagt Ellie immer wieder. Aber Geduld ist ein Wort, das ich nicht verstehe. Und selbst wenn ich es verstehe, habe ich davon viel zu wenig.
Ich denke ständig, ich würde mir nicht genug Mühe geben. Ich habe auch ständig Schmerzen, überall. Ich hebe bei den Fitnessübungen viel zu schwere Gewichte. Da machen die anderen große Augen, so schwer sind die. Aber ja, in einer Rehaklinik ist man irgendwann austherapiert. Und die Zeit, in der man therapierbar ist, ist endlich. Es bleibt ein unangenehmes Wort, therapierbar. Na ja, es gibt noch unangenehmere Wörter.
Später tut sich aber auch noch einiges, sagt Ellie beschwichtigend. Sie sieht sehr jung aus, ihr Gesicht spiegelt alle gefühlten Emotionen. Ein kleines, liebes, empfindsames Fohlen. Hätte ich eine solche Tochter, würde ich sie sehr lieben. Schauen Sie, sagt sie, Sie werden noch viele Fortschritte machen. Bald. Das geht dann nicht mehr so schnell, aber es kann noch jahrelang bergauf gehen, sagt sie und legt den Finger auf die Grafik. Ihre Fingerspitze wird weiß, so fest drückt sie damit auf die Seite, so sehr will sie, dass alles gut wird. Es rührt mich immer wieder, wenn ich sehe, wie engagiert sie mir gegenüber und bei allem, was sie tut, ist.
»Schauen Sie«, erklärt Ellie, »wie ein Kind müssen Sie sich alles neu beibringen, da geht die Linie schnell hoch«, sagt Ellie, »das war der Anfang.« Schauen Sie, sagt sie. Am Anfang machen Sie die größten Fortschritte. Dann verläuft die Kurve besonders steil. Sie zeigt auf die Fortschritte. Es ist eine Treppe mit vielen Stufen. Ein paar Bilder später werden die Stufen weniger hoch, und ihre Anzahl verringert sich. Keins dieser Schaubilder betrifft mich, es sind informative Bilder in einer Broschüre, mehr nicht. Das betrifft mich gar nicht.
Ich schaue kurz nach draußen. Es ist ein schöner Sommer. Monate später höre ich, dass es einer der schönsten war.