Als ich mit der Reha anfing, erhielt ich vom ehemaligen Leiter des Hallenbads in Diemen einen einfühlsamen Brief. Wenn ich Lust hätte, könnte ich in seinem Bad schwimmen und rekonvaleszieren. Das Schwimmbad sei bestens ausgestattet. Er sei mittlerweile zwar nicht mehr der Leiter, aber er könne sich noch sehr gut an mich erinnern: die Prominente von der Kampagne »To soll schwimmen«, für die ich vor Jahren einen kleinen Moderationsbeitrag geleistet hatte. Ich muss sofort weinen. Wen wunderts.
»To soll schwimmen« hieß die Kampagne. To war das Gesicht der Kampagne. Eigentlich war To der erste Star unter den »Mongölchen«. Wenn ich mich richtig erinnere, benutzte das Wort »Down-Syndrom« damals in den sechziger Jahren noch niemand. To war großartig und lustig, aber sie war auch unglaublich verwöhnt. Sie konnte unausstehlich werden, wenn sie ihren Willen nicht bekam. Dann setzte sie die allerböseste Miene auf. Wenn bei To Hochmut und Widerwille mal wieder überhandnahmen, musste man sie arglos ein bisschen triezen. To war auf dem Plakat mit undurchdringlichem Gesicht und einer qualmenden Zigarette zwischen den Fingern abgebildet, wie ein alter, runzliger Filmstar. Damals hatte das einfach Klasse, und niemand hatte etwas dagegen. Wir vom Komitee tauften die Kampagne sofort in »To soll rauchen« um.
Der Brief kam unerwartet, und das Erste, was ich dachte, war: To lebt wahrscheinlich nicht mehr. To war bei weitem der älteste Mensch mit Trisomie 21, den ich kannte. Damals. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, sie sei ein sanftmütiges Schätzchen gewesen.
Ich ging nicht zum Schwimmen nach Diemen, denn meine Rehaklinik hatte auch ein Schwimmbad. Da durfte ich immer mal rein, wenn es etwas ruhiger war. Ich empfand das als besonderes Privileg. Es durften immer nur ein paar Patienten mit, und man hatte richtig Glück, wenn man dazugehörte.
Im Rollstuhl-Lift sitzt manchmal ein herzerwärmender Junge, der glücklich gluckst, wenn er das warme Wasser spürt, was wiederum die vier Therapeuten, die ihn langsam hinunterlassen, genauso glücklich macht. Mich macht er auch ganz glücklich. Was für eine positive und optimistische Ausstrahlung dieser Junge doch hat. Wenn er lacht, überstrahlt er das Sonnenlicht, das durch die großen Fenster hineinscheint.
Allerdings ändert sich meine Stimmung ständig. Das gehört wohl dazu.
Im Wasser stehend erklärt eine junge Therapeutin einem Mädchen, wo sich ihr Hirnschaden genau befindet und warum etwas an oder in ihr nicht richtig funktioniert. Das Mädchen hört aufmerksam zu und nickt. Ich weiß nicht, ob das alles überhaupt zu ihr durchdringt. Ich kann nicht sagen, woran es liegt, aber innerlich werde ich wütend. Halt die Klappe! Willst du ihr keinen Funken Hoffnung lassen?
»Was haltet ihr von Musik?«, fragt die junge Therapeutin jetzt aufgeweckt. Wir sind heute alle aufgeweckter als sonst, vielleicht weil der wunderbare Junge im Rollstuhl-Lift in der Nähe ist. Parallel zu ihrer Frage knallt die Musik schon übers Wasser. Es ist Musik, die mich sofort steinalt macht. Viel zu laut. Das macht mich wahnsinnig. Hier sind kranke Leute, rufe ich. Kranke Leute!
»Soll ich sie ausmachen?«, fragt die junge Therapeutin und stellt die Musik ganz leise. Wie ätzend ich mich benehme, genau wie To, wenn sie ihren Willen nicht bekommen hat. Ich würde gerne auf der Stelle im Erdboden versinken, so sehr schäme ich mich für mein unbeherrschtes Verhalten.
Nach dem Schwimmen muss man sich schnell umziehen, damit man sich aus dem Staub machen kann, bevor die Kinder kommen. Auf dem Flur stehen die kleinen Rollstühle schon bereit. Der Boden zeigt eine Autobahn, schwarz aufgemalter Asphalt mit einem Mittelstreifen und einer Rennstreckenkurve.
Vor dem Schwimmunterricht ziehen sich die Kinder singend in der Umkleide um. Sie zwitschern wie Vögelchen. Sie sollen ihre Privatsphäre haben, also gehe ich schnell zum Treffpunkt mit Berend: zum Parkplatz. Dort steht ein kleiner Junge mit seinen jungen Eltern zwischen den parkenden Autos. Er hat ein molliges Gesicht und so große, durchschimmernde Altmänner-Ohren. Der Junge hat seine Krücken dabei. An einem Bein trägt er eine Prothese.
Mir wird klar, dass er den Stumpf belasten muss und dass das schmerzhaft sein wird. Ich kann nicht länger hinsehen. Bevor er den ersten Schritt macht, murrt er schon, weil er weiß, was ihn erwartet. Seinen Eltern sieht man an, dass sie es auch wissen und dass sie versuchen, es zu verbergen.
Sie scherzen miteinander. Sie lachen und spornen den Jungen an. Sie stehen ein kleines Stück entfernt und strecken ihre Arme aus. Komm zu Papppa, komm zu Mammma.
Auf dem Rückweg weinen Berend und ich leise im Auto.