Im Behandlungszimmer der Therapeutin mache ich eine Übung für die Augen-Hand-Koordination. Die Augen-Hand-Koordination! Schon allein das Wort macht mich vor lauter Geltungsdrang verrückt. Solche Übungen mache ich öfter, es gibt sie in unendlich vielen Variationen. Für diese braucht man zwei Bälle. Ganz einfach. Wand/Hand und Hand/Wand. Sie dürfen zwischendurch aufprallen. Es ist das Allereinfachste, was man machen kann. Aber ich kann es nicht. Nicht einmal, wenn die Bälle zweimal aufprallen dürfen. Nach unzähligen missglückten Versuchen hören wir auf.
»Macht nichts«, sagt die Therapeutin. »Nächste Woche versuchen wir es nochmal. Und zu Hause nicht allein weitermachen, damit machen Sie sich verrückt. Das erlaube ich nicht, ich verbiete es Ihnen. Irgendwann wird es klappen, nächste Woche, oder in der Woche danach. Es ist wirklich nicht wichtig. Sie versuchen es ausschließlich hier. Und nur, wenn Sie Lust dazu haben. Es muss Ihnen Spaß machen.«
Nun ja.
Ich habe solche Bälle zu Hause. Die habe ich irgendwann mal mit nach Hause genommen. Kaum bin ich zu Hause, hole ich die unschuldigen Übungsbälle hervor, die bis jetzt keinerlei Bedeutung für mich hatten. Ich stelle mich in den Flur und werfe die beiden Bälle gegen die Wand. Berend ist nicht zu Hause. Ich hoffe, er kommt auch nicht so schnell zurück. Ich mache weiter. Ich darf das nicht. Ich werde daran zugrunde gehen. Aber ich muss. Ich ertrinke. Ich öffne meinen Mund und atme das Wasser ein. Nach einer halben Stunde bin ich ungefähr hundertmal ertrunken. Aber ich mache noch eine Stunde lang weiter. Bis ich fast an meinem eigenen Schweiß ersticke. Ich gehe völlig erschöpft und verwirrt ins Bett. E.T. ist wütend.
Am nächsten Tag übe ich nicht. Zwei Tage später allerdings schon wieder.
Berend ist nicht zu Hause. Ich schnappe mir die Bälle und mache mich ans Werk. Es ist lebenswichtig, dass ich es schaffe. In meinem unsagbaren Universum bekommt man nichts geschenkt. Ich weiß, was die Therapeutin gesagt hat, aber ich kann nicht aufhören. Mein Kopf zischt, mein staubtrockener Mund keucht, meine Kehle ist ein lederner Lappen. Ich muss aufhören, ich kann kaum noch atmen.
E.T. hebt seinen Kopf und schaut gespannt durch meine Augen zu. Aber ich darf nicht aufhören, bevor ich die Übung zweimal richtig ausgeführt habe. Wer sagt das? Ich sage das. Es dauert eine Viertelstunde, bis ich endlich zweimal einen Ball mit der einen Hand geworfen und mit der anderen aus der Luft gefangen habe.
So. Gewonnen!
»Okay«, sagt E. T. »Krieg.«
Er wartet nicht lange mit seiner Attacke, dieser hinterhältige Drecksack. In der Zwischenzeit bin ich stolz und zufrieden und optimistisch. Ich habe gewonnen. Ich schmiede Pläne, ich räume das Durcheinander auf, ich koche mir wahrhaftig Essen, ich bin auf dem Weg der Besserung. Müde und zufrieden schlafe ich ein. Ich schlafe gut. Alles wird gut.
Doch später im Supermarkt denke ich, die anderen Kunden würden mich anstarren und denken: Oje. Man kann es ihr ansehen. Es ist meine eigene Schuld, ich schleife mich selbst seit Jahren mit. Auch meine grundlose Angst und die Scham. Mein Perfektionistinnenherz sorgt dafür, dass ich vom einen ins nächste Loch falle.
Ich muss es wirklich nochmal ausprobieren. Es muss mir dreimal gelingen, nur dreimal. Mehr verlange ich gar nicht. Wenn es mir dreimal gelingt, wird alles wieder gut.
Zwei Tage später, als Berend einen Termin hat, ergreife ich die Chance. Ich kann so lange üben, wie ich will. Ich übe und übe und übe, ich kann nicht aufhören. Doch das ist egal, solange es nur klappt. Ich ertrinke in meiner eigenen unaufhaltsamen Angst und Ambition, bis ich wieder fast ersticke. Ich habe keinen blassen Schimmer, was ich da gerade mache. Ich muss es nochmal versuchen. E.T. kreischt vor Wut. Es geht schief, ich spüre, wie schief es geht. Und trotzdem kann ich nicht aufhören. Ich bin nicht ganz bei Sinnen.
Ich falle erschöpft und verwirrt ins Bett.
Am nächsten Morgen donnern aus der Ferne die Geschütze. Berend öffnet neben mir seine Augen einen Spalt breit, um die Lage bei der Frau, die er liebt, abzuschätzen.
Eine schwarze Aschewolke sinkt auf mich herab.
Ich kann nichts.