Jedem Patienten, der mit einer Hirnblutung ins Krankenhaus gebracht wird, wird sofort der Führerschein weggenommen. Wenn man wieder fit genug ist, muss man die Fahrprüfung nochmal ablegen. Zuvor wird von einem unabhängigen Neurologen untersucht, ob noch alles funktioniert. Hämmerchen aufs Knie, nach links schauen, nach rechts schauen. Danach muss man die Fahrprüfung bei der Zentralstelle für Führerscheine machen. Und wenn man besteht, ist der Führerschein wieder gültig. Kostet natürlich alles Geld. So läuft das. Ich wusste das nicht, ich wusste gar nichts. Man hat ja auch nicht jeden Tag eine Hirnblutung.
In der Rehaklinik wurde regelmäßig eine »Teambesprechung« abgehalten. Alle Teilnehmer waren aufmerksam und interessiert. Wir tranken Kaffee und füllten Formulare aus. Mit sowas verbrachten wir dort unsere Zeit. Ich habe bereitwillig mitgemacht. Ich bin fügsam und motiviert, ich möchte eine Vorzeigepatientin sein. Mittlerweile habe ich herausgefunden, wie abhängig ich von meinem Auto bin. Ich will meinen Führerschein zurückhaben. Also gebe ich bei jeder Besprechung an, dass ich einen Termin bei einem Neurologen haben möchte, auch wenn ich nicht weiß, wie die Prozedur genau abläuft.
Und gelobt sei der Herr! Eines Tages wird mir mitgeteilt, es sei ein Termin beim Neurologen vereinbart worden! Mein Auto war zum Greifen nah. Ich würde ein neues Leben beginnen können. Es dauerte noch Monate, ich schlief schon wieder zu Hause, doch an einem strahlenden Sommertag im Juni war es endlich so weit. Für die Musterung musste ich zu einem dieser großen Krankenhäuser.
In diesen riesigen Krankenhäusern machen mich die ganzen Wegweiser und logischen Hinweisschilder, die mein Hirn nicht mehr entschlüsseln kann, immer unglaublich nervös. Ich finde einfach nie den richtigen Weg. Schon an der Drehtür setze ich meinen um Gnade flehenden Gesichtsausdruck auf, in der Hoffnung, dass sie mir nicht sofort den Hals umdrehen. Aber heute habe ich keine Angst. Berend ist bei mir. Ich habe so lange auf diesen Termin gewartet, und jetzt ist es endlich so weit! Ich bin fröhlich und optimistisch.
Da kommt er angestiefelt, der Neurologe. Ich kenne ihn nicht, aber ich kann ihm ansehen, dass er es sein muss. Wie schnittig und energetisch er daherkommt! Volles rotes Haar, ein frischer weißer Kittel, glänzende rosige Wangen mit feinen Äderchen. Straffe Haut, keine Falten. Ich finde ihn sofort großartig. Ich finde jeden sofort großartig, der bereit ist, mir ohne Gemurre zu helfen. Er nimmt uns in ein leeres Zimmer mit und sagt munter: »So. Zuerst einmal müssen Sie verstehen, dass Sie mit reiner Willenskraft nicht mehr viel erreichen werden. Sie können noch ein bisschen an sich arbeiten, vorsichtig und mit Bedacht. Aber Sie sind sich trotzdem sicher?«
Worüber soll ich mir trotzdem sicher sein? Natürlich bin ich mir sicher.
»Sie wollen das wirklich?«
Natürlich will ich das!
Und dann machte der energetische Neurologe die folgenden Dinge nicht: mit mir reden. Nicht: mich irgendwo kneifen. Nicht: mir eine Frage stellen. Nicht: mit einem Hämmerchen auf mein Knie schlagen.
Sich die Hände reibend fährt er seinen Laptop hoch. Ohne weitere Fragen zu stellen oder Formalitäten abzuhandeln, geht er, mit Berend und mir als Publikum, meine komplette Krankenakte durch, mit allen Scans und Aufnahmen. Er staunt nicht schlecht, als er sieht, was mir alles widerfahren ist. Sage ich: Halt, stopp, so war das nicht abgemacht!? Nein. Ich traue mich nicht, irgendwas zu sagen. Der energetische Neurologe redet ohne Punkt und Komma, und zwar nur mit sich selbst. Er zählt alle Befunde auf, die er sieht. Ich finde ihn überhaupt nicht mehr großartig.
Berend wirft mir einen Blick zu, und ich signalisiere ihm, dass bestimmt alles in Ordnung ist. Vor lauter vorgetäuschtem Interesse krieche ich geradezu in den Computer. Ich finde die ganzen Aufnahmen grässlich, aber ich möchte einen guten Eindruck machen. Ich sehe, wie Berend immer weiter in sich zusammensackt. Das Ganze ist nichts für ihn.
Der Neurologe hält mir einen Vortrag über den Zustand meines Gehirns während des ersten Monats im Krankenhaus und kommentiert die Scans. Erst sieht alles noch ganz in Ordnung aus, soweit das eben möglich ist. Doch völlig überraschend taucht ein neues Bild meiner vollgelaufenen Hirnschale auf. Überall dunkle Flecken. Der Arzt spricht von Blut zwischen den Hirnhäuten. Heilige Scheiße.
»Schauen Sie nur, genau da ist die Einblutung«, sagt der Neurologe, als würde er denken: Kommt da noch was? Er geht immer mehr in seiner Aufgabe auf. Ich presse meinen superlustigen Beitrag »Ähnelt den Bedriegertjes-Springbrunnen!« hervor. Er lacht nicht. Ich glaube, er findet das unangebracht. Na ja, hatte ich etwa mit Beifall gerechnet? Ja, wahrscheinlich schon, so bin ich gestrickt. Ich mache am laufenden Band schlechte Witze. Mit nur wenigen Dingen ist es mir so ernst wie damit, zu verdeutlichen, dass man mich nicht ernst nehmen sollte. Das mache ich schon mein ganzes Leben lang so, ich mache schlechte Witze, um meine Angst zu bekämpfen. Ich bin ein ängstliches Äffchen, das lacht.
Zum Glück endete die Fotoserie mit Bildern eines späteren Stadiums, die weniger beängstigend aussahen. »Da hat sich doch einiges getan!«, piepst Berend, der sich die meiste Zeit über nicht getraut hat, hinzusehen. Für ihn ist das Glas immer halbvoll. Ich bin so verwirrt, dass ich nicht weiß, was ich tun oder sagen soll, also erheben wir uns alle ein bisschen unbeholfen.
Na schön, dann gehen wir eben wieder nach Hause. Nach einer nicht enden wollenden Abschiedszeremonie an der Tür gibt mir der Arzt noch ein paar ernste Worte mit auf den Weg. Ich müsse jetzt wirklich begreifen, dass ich mit reiner Willenskraft nicht mehr viel erreichen werde. Was für ein guter Ratschlag. Ich habe zwar nicht darum gebeten, aber bekomme ihn trotzdem. Dabei war ich gerade dabei, all meine Willenskraft zu mobilisieren!
Aber so geht das nicht, ich muss in Zukunft vor allem an mir selbst arbeiten, wie schon gesagt: sehr vorsichtig und mit Bedacht. Vielleicht kann ich dann noch Fortschritte machen, ab und zu — innerhalb mehrerer Jahre ist das bestimmt möglich. Das Gehirn sucht nämlich immer nach einer Lösung. Das Gehirn ist in gewisser Weise ein echtes Wunder. Aber was wirklich nicht mehr funktioniert, funktioniert nicht mehr. Wie kann man das am besten ausdrücken? Das ist die Essenz eines Schadens. Wenn man nicht gehen kann, kann man nicht plötzlich doch wieder gehen. Kaputt ist kaputt. Ein Hirnschaden ist, was er ist.
Also, geben Sie alles, sagt der Doktor. Und ob ich denn auch noch Fragen an ihn hätte?
Ich traue mich wieder nicht, zu fragen, ich weiß nicht, was da bei mir falsch läuft. Ganz zum Schluss, als die Tür schon fast zu ist, finde ich den Mut, um mit dünner Stimme piepsend nach dem Führerschein zu fragen, den ich so sehr begehre. Der Neurologe lächelt sparsam und sagt: Nein! Das geht jetzt nicht mehr. Jetzt sowieso nicht mehr, ich habe ganze eineinhalb Stunden mit Ihnen geredet, ich bin also nicht mehr unvoreingenommen. Er verkneift es sich gerade noch so, »aber es war ein Riesenspaß« zu sagen.
Auf dem Flur platze ich beinahe. Habe ich dafür diesen nervenaufreibenden Ausflug in den Bauch dieses riesigen Krankenhauses auf mich nehmen müssen? Habe ich dafür mein komplettes Streberrepertoire an schlechten Witzen präsentiert? Habe ich mir dafür meine vollgelaufene Hirnschale ansehen müssen? Warum redet dieser Mann denn dann so lange mit mir? Das hat mir gar nichts gebracht! Erst bin ich böse, dann enttäuscht.
Auf dem Weg zum Ausgang stelle ich fest, dass ich natürlich selbst die Schuld daran trage, dass alles schiefgelaufen ist, weil ich nie klar und deutlich sage, was ich will. Warum mache ich das nie? Jetzt darf ich nie wieder Auto fahren, nie wieder ein bisschen Selbstständigkeit zurückgewinnen. Und ich werde auch keine Fortschritte mehr machen. Nichts wird wieder gut.
»Natürlich wird alles wieder gut«, sagt Berend.
Als ich meiner Psychiaterin am nächsten Tag deprimiert von diesem missglückten Arztbesuch erzähle, wird sie sofort aktiv. Sie telefoniert, veranlasst, dass wichtige Leute einen Brief bekommen, und setzt alle Hebel in Bewegung. Mein Mann ist ihr sofort verfallen.
Kurz darauf sitze ich beim unvoreingenommenen Musterungsarzt, den die zentrale Führerscheinstelle bestimmt hat. Der Arzt verhält sich korrekt und sachlich, stellt umgehend ein paar Fragen, macht ein paar Tests, schlägt mit dem Hämmerchen auf mein Knie, ich gebe all meine schlechten Angstwitze zum Besten, und der Neurologe sagt: So, Frau Bijl, Sie können die Führerscheinprüfung gerne beantragen. Wenn es nach mir ginge, dürften Sie sofort selbst nach Hause fahren. Zehn Minuten später stehe ich mit einem Formular in der Hand auf der Straße, das ich ab jetzt »das Formular der Freiheit« nenne. Tut, tut! Freedom!
Später antwortet Berend jedem, der sich nach meiner Gesundheit erkundigt, stolz: Martine hat die Führerscheinprüfung bestanden!