Manchmal kommt spontan jemand vorbei, den man direkt vom Treppenabsatz stoßen möchte. Normalerweise kann man dann einen Vorwand erfinden, um ihn loszuwerden, aber dieser Jemand kommt immer dermaßen unerwartet, dass ich jedes Mal völlig überrumpelt bin.
Ich liege im Bett. Ich hatte zu meiner eigenen Überraschung einen tadellosen Tag hingelegt, war selbstgefällig ins Bett gegangen und schnell und problemlos eingeschlafen. Doch am Ende der Nacht — immer dann — lässt sich dieser unerwünschte Besucher neben mich fallen. Manchmal, wenn man keinen Mucks macht, geht er auch wieder weg. Manchmal aber auch nicht. Er schleicht sich unangekündigt rein und pfeffert sein Gepäck fürs Wochenende in die Ecke. Dann stehe ich auf, und der Besucher auch. Er folgt mir den ganzen Tag und geht nicht weg. Ich nenne diesen Besucher Schwarze Decke. Jetzt gibt es neben E.T. auch noch Schwarze Decke. Langsam wird es eng in mir. Ich bin äußerst gefragt.
Ich lebe weit über meine Verhältnisse. Ich habe mir in den letzten Jahren sehr viel Energie von einer gnadenlosen Bank geliehen. Ich verkehre nämlich ganz normal mit anderen Leuten. Ich sorge dafür, dass sie mir nichts anmerken. Ich rede und lache. Ich empfange Besuch. Ich halte beim Kaffeetrinken Schwätzchen. Es kostet mich einiges, die Energie dafür aufzubringen. Alle sagen, ich würde gut aussehen und gut sprechen. Die Kasse hört nicht mehr auf zu klingeln. Jetzt muss ich den Kredit abbezahlen. Der Zinssatz ist meiner Meinung nach unverschämt hoch, er kostet mich Berge von Hoffnung und Selbstvertrauen. Ich muss alles am Schalter abgeben. Ich bin fast bankrott.
Und das Leben ist so unvorhersehbar: Heutzutage hat man keine Sicherheiten mehr! Hätte der Arzt gesagt: Hören Sie mal, ab jetzt haben Sie pro Woche drei pechschwarze Tage und zwei bessere, dann hätte ich eingeschlagen. Widerwillig, aber trotzdem. Aber dann würde ich wenigstens wissen wollen, wann ich was zu erwarten habe! Und von wann bis wann. Ich will es ganz genau wissen, dann kann ich das einplanen! Dann kann ich mich pünktlich in eine Ecke verziehen und grollen.
Übrigens lüge ich gerade. Jeder Buchstabe ist gelogen. Schon eine halbe Stunde halte ich nicht aus. Das wundert mich auch. Aber im Leben kommt alles stets unerwartet. Ja, das ist das Schicksal, damit muss sich jeder rumschlagen. Zufall. Passiert. Manchmal werde ich kurz wach, nachdem ich vollkommen zufrieden eingeschlafen bin, und dann zittert Schwarze Decke schon affektiert in einer Ecke, um sich anschließend pathetisch über mich zu werfen. Ich hasse sie zutiefst.
Jetzt halte ich jeden Besuch fern. Ich errichte keine Mauer, ich bin die Mauer. Ich bin unglaublich bedauernswert. Was mache ich nur? Ich schneide büschelweise Schneeglöckchen aus der Wiese, die meisten Stängel knicke ich ab. Ich will nicht, dass sie abknicken, es passiert einfach. Ich stelle sie in meine antiken italienischen Vasen und sehe darin keinen Sinn. Ich sehe nirgends einen Sinn. Ich knicke die Stängel ab. Sie haben mir gesagt: Lernen Sie, das zu akzeptieren. Das ist ein Teil Ihres Lebens. Jeden Tag denke ich: Ich lege mich ins Zeug und mache die schönen Sachen, die ich mir während des morgendlichen Grübelns vorgenommen habe. Das muss mich doch glücklich machen? Die Vasen haben nicht geholfen. Ich bin eine wertlose alte Frau. Ich kann nichts. Ich zerbreche die schmalste, schönste Vase. Ich bin nutzlos. Ich bin ein ständiger Quell der Enttäuschung.
Da segelt Schwarze Decke auf mich nieder, wie ein träger Rochen auf hoher See. Wenn sie sich über mich legt, bin ich kaum noch ansprechbar. Ich fühle ihr Gewicht buchstäblich, so wie ich sie ebenfalls buchstäblich wieder hochsteigen und wegfliegen sehe, wenn sie von mir ablässt. Dann bin ich zutiefst dankbar dafür, dass es vorbei ist. In der Zwischenzeit habe ich vor allem Angst, ich verstehe nicht, was andere sagen, ich bin zynisch und verbittert und weinerlich und vollkommen egozentrisch, ich will nicht mehr aus dem Bett, fühle mich ernsthaft bedroht, vergesse alles, was ich vor kurzem noch mühevoll dazugelernt habe, kann nicht mehr klar denken und nicht mehr glücklich sein.
Ich bin absolut ungenießbar. Die Hirnblutung hat mich einige Freunde gekostet, aber das Schlimmste ist Schwarze Decke. Die kommt direkt aus der Unterwelt. Manchmal traue ich mich morgens kaum zu atmen. Aber Schwarze Decke legt sich so oder so irgendwann über mich, wenn ihr gerade der Sinn danach steht. Ich bin im Übrigen genauso schlimm, ich mache auch, wonach mir der Sinn gerade steht, ohne an andere zu denken. Berend quatsche ich ohne Punkt und Komma voll. Wir sitzen am Küchentisch. Er ist völlig erschöpft. Ich widerspreche ihm am laufenden Band. Manchmal sehe ich, wie es ihm zu viel wird. Einmal beobachte ich, wie er den Kopf auf den Tisch legt, auf seine Hände. Es tut mir sofort Leid. »Berend«, sage ich, »wenn wir abmachen, eine Woche lang …« »Vielleicht können wir irgendwann mit einer Stunde anfangen«, sagt Berend matt. Ich rede immer weiter. Ja aber, ja aber.
Ich fange an zu schreiben, und kann nicht mehr aufhören. Es taugt nichts. Was ich schreibe, taugt nichts. Ich komme aus dem Konzept, ich weiß, dass ich jede halbe Stunde einmal ums Haus gehen sollte, weil ich sonst manisch werde. Ich stelle den Timer meines Handys, weil ich nicht länger als eine halbe Stunde lang am Computer sitzen darf. Als der Alarm läutet, stelle ich ihn nicht einmal aus, ich mache trotz des Lärms einfach weiter, ich kann nicht aufhören. Ich habe eine solche Angst vor dem, was ich gerade mache, dass ich davon vollkommen egozentrisch werde.
Aber Schwarze Decke geht auch wieder weg, wenn ihr gerade danach ist.
Ich halte sie jedenfalls nicht auf, ganz gleich, ob sie gerade geht oder kommt. Ich bin im Garten, und es gefällt mir nicht. Wenn Schwarze Decke Aufmerksamkeit braucht, gefällt mir gar nichts mehr.
Ich habe mich von meinen Rettungsbojen verabschiedet. Und ich hatte einige davon. Sie sind fast alle weg. Was habe ich mit mir selbst zu schaffen? Ich habe eine schöne Fernsehsendung moderiert, bei der alle Mitarbeiter nett zu mir waren. Das sicherste Gefühl, das ich kenne. Ich schmeiße es weg. Ich kann das nicht mehr.
Dafür kann ich bestens jemanden imitieren, der weiß, wie man lebt, und das hilft oft eine ganze Zeit lang. Alles in Ordnung, alles in Butter. Auch bei mir. Mein Umfeld wundert sich sogar darüber, wie gut es mir geht. Aber hinter der nächsten Ecke scharrt das Zirkuspferd namens Depression schon mit den Hufen.
Auch Gartenarbeit erlaube ich mir nicht mehr. Das kann ich nicht mehr. Fernsehen auch nicht. Ich würde vor lauter Stress und Angst verrückt werden.
Im Garten wuchert das Unkraut. Ich hasse das Unkraut.
Na ja, wenn man es nüchtern betrachtet, habe ich schon immer wie eine Verrückte im Garten gearbeitet. Jeden Tag, fast den ganzen Tag. Berend hat endlich zugegeben, dass ihn das manchmal ziemlich gestört hat. Ich arbeitete vor allem an versteckten, weit entfernten Stellen, in Ecken, die man vom Haus aus nicht einmal sehen konnte. Ganz weit hinten, hinter einem großen Baum, an dem Efeu emporkletterte, den Efeu musste ich entfernen, erst dann konnte ich mich weiter vorarbeiten. Berend sagt: Mach doch ein Stück, das du sehen kannst. Das war vor meiner Hirnblutung. Jetzt, nach der Hirnblutung, gehe ich nicht mehr zu den versteckten Stellen, das wäre dumm, nachher falle ich da noch in den Graben.
Zeit für den Älteren-Herrn-mit-Schere-und-glücklichem-Gesichtsausdruck, den ich vor einiger Zeit in der Schlaganfallsbroschüre gesehen habe. Ich bin nicht so beherzt bei der Sache wie er, ich bin immer noch unzufrieden. Ich begreife allmählich, dass man hart arbeiten muss, um ins Reich der Akzeptanz vorzudringen. Aber so weit bin ich noch nicht. Und wenn ich daran denke, dass das aber nötig ist, wackelt Schwarze Decke mit ihrem Hintern und dreht eine Runde nach der anderen, während ich mich selbst in den Boden schraube.
Ich irre durch den Garten und versuche, die Knospen aufzustarren. Die Knospen haben sich längst geöffnet. Ich sehe sie nicht. Ist mir auch egal. Mir ist alles egal.
Auf dem Boden sitzt ein zwitscherndes Rotkehlchen und beobachtet mich. Scher dich zum Teufel mit deinen Schneeglöckchen. Würde dieser kleine Vogel gegen mich fliegen, würde er auf der Stelle tot zu Boden fallen, so kalt bin ich. Es regnet und regnet. Zwischen den Obstbäumen haben sich Pfützen gebildet. Die Bäume ertrinken allmählich.
Der Weg zur Depression war unendlich lang. Man legt diesen Weg ganz allein zurück. Das letzte Stück des Weges (das Stück, auf dem das Gehirn explodiert und das Wort »Depression« zum ersten Mal laut ausgesprochen wird) kann ich nicht beschreiben, ich will es auch gar nicht versuchen. Ja, ich habe es versucht. Und nachdem ich es aufgeschrieben hatte, habe ich es weggeworfen. Es schmerzte mich. Ich hatte aufgeschrieben, wie es war, wie ich war, wie ich Monat um Monat niemandem etwas gesagt habe, obwohl ich ständig Laute von mir gab. Ich hatte mit niemandem mehr Kontakt, obwohl genügend Menschen um mich herum waren. Ich spulte einfach mein Programm ab, und jeder sagte: Wie gut du doch aussiehst! Es geht dir bestimmt schon viel besser! Währenddessen hatte ich unauslöschliche Gruselgedanken, die mich vor Angst verrückt machten. Den ganzen Teil lasse ich weg. Darf ich das? Ich muss.
Ich möchte jetzt nur über einige Patienten des Krankenhauses schreiben, die ich kennengelernt und in mein Herz geschlossen habe. Was ich schreibe, ist das, was ich mir selbst zumuten kann. Geschichten. Wo der Weg begann, weiß ich nicht. Die Reise endete mit einem Besuch beim Hausarzt, einem vorschriftsmäßigen Termin beim Krisenzentrum und der Aufnahme im Krankenhaus. Warum dort? Tja, da war gerade ein Platz frei. Jetzt kann ich wieder sagen: Zufall. In diesem Krankenhaus war ein Platz frei.
Es gibt dort eine Station, auf der sich alle Fenster und Türen automatisch klickend verschließen. Ich durfte ins Innere dieser Festung. Klick, machte die Tür.
Ich bin mir sicher, dass ich verrückt werde.
Nein, das ist Verwirrtheit.
Nein, das sind Ängste.
Nein, das ist dein gestörtes Gleichgewicht.
Nein, das ist das Alter.
Verrückt ist schwierig.