In der Anfangszeit hatte ich im Krankenhaus vor allem Angst. Ich fand es schaurig, überall waren Geräusche. Ich hatte das Gefühl, mit Außerirdischen von einem anderen Planeten eingeschlossen zu sein.
Ich bin unendlich unglücklich. Ich traue mich nicht, zu gehen, und ich traue mich nicht, zu bleiben. Ich puzzle manisch, Stunde um Stunde, ein Disneypuzzle mit Winnie Puuh, das 54 Teile hat. Vierundfünfzig. Lächerlicher geht es kaum noch. Ich mag diesen Winnie von Walt Disney auch gar nicht, mir gefallen nur die englischen Illustrationen von Ernest Shepard. Jetzt liegt vor mir der dicke, gelbe Senf-Puuh mit seinem blöden Quadratschädel. Auch das noch. Das ärgert mich maßlos. Was um Himmels willen bilde ich mir ein? Aber ich muss das Puzzle fertig machen. Ich kann nicht aufhören, bevor es fertig ist. Es dauert drei Stunden, bis ich aufgebe.
Ich durchschaue langsam, dass die ersten Wochen für die sogenannte Aufnahme bestimmt sind. Ich muss einmal das ganze Programm durchlaufen. Muss ich alles mitmachen? Ja, ich muss. Aber ich weigere mich von Anfang an, zum Morgengespräch zu gehen. Dort muss man erzählen, wie es einem geht. Das geht sie alle einen feuchten Dreck an, wie es mir geht.
Ansonsten werden die Tage mit allerlei Angeboten gefüllt, und aus den Ergebnissen ziehen sie dann irgendwelche Schlüsse. Ich mache bei der Morgengymnastik mit. Ich bin unglaublich steif, ich kann mich kaum bewegen. Wir sollen beschwingt durch den Raum schreiten, begleitet von Salsamusik. Ich finde das bescheuert und gleichzeitig lustig. Aber auch heute noch hilft mir das Video, das ich damals mit meinem Handy von der Morgengymnastik gemacht habe, frühmorgens nach dem Aufstehen beim Weiterleben.
Am nächsten Tag eine Stunde Bewegung, etwas, das sie Sport und Spiel nennen. Sport und Spiel! Ja sind wir denn im Dritten Reich? Wir müssen bunte Ringe über Stangen werfen. Die Therapeutin möchte eine Wettbewerbsstimmung schaffen und schreibt die Ergebnisse mit weißer Kreide an eine schultafelgrüne Tür. Sie lobt jeden aufrichtig und lautstark.
Ich finde es schrecklich kindisch und will nichts davon wissen. Dafür bin ich mir wirklich zu schade. Ich werde ja wohl ein paar Ringe werfen können? Als ich an der Reihe bin, versage ich kläglich. Ich treffe keine einzige Stange, egal, wie nah ich rangehe. Macht nichts, einfach ausprobieren, sagt die Therapeutin in fröhlichem Tonfall. Am Ende lege ich die Ringe einfach über die Stangen.
»Ich kann wirklich gar nichts«, sage ich heiser. Das Depressionsstimmchen, das ich selbst so sehr hasse. Und man darf solche Sachen in diesem Umfeld nicht sagen, man darf sich selbst nicht ablehnen. Sich selbst ablehnen, das ist nicht der Sinn der Sache. Aber ich lehne mich nicht ab, ich stelle lediglich fest, dass ich früher alles konnte, und heute nichts mehr. Ich stelle es fest, mehr nicht. Wir machen weiter, es wird immer einfacher. Aber selbst die einfachsten Sachen gelingen mir nicht, verstehe ich nicht. Ich bin mir sicher, dass ich für diesen Kurs nicht angenommen werde. Es fühlt sich an, als würde ich mich für eine Stelle bewerben, für die ich kein Fünkchen Talent habe.
Ein anderes Mal mache ich beim Musikunterricht mit. Neben der Therapeutin sind vier Teilnehmer im Raum. Ein Klavier, eine Blockflöte, eine Gitarre und allerlei Bongos und Orff-Artiges und noch viel mehr. Die junge Lehrerin stürzt sich mit voller Hingabe auf diese Aufgabe. Sie kennt meinen Namen nicht, und sie kennt mich nicht. Es wäre aber auch komisch, wenn es anders wäre. In ihren Augen muss ich verdammt alt sein. Ich darf mir ein Instrument aussuchen und damit machen, was ich will. Mir fällt nichts ein. Ich nehme die Gitarre, früher konnte ich gut Gitarre spielen. »Es ist ganz egal, was Sie machen. Alles ist erlaubt«, sagt die junge Frau. »Sie fühlen bestimmt etwas. Machen Sie einfach das, was Sie fühlen.« Ich fühle nichts. Schramm, mache ich mit der Gitarre. Schramm. Ich fühle nichts, nur Scham und Wut.
Andere machen mehr. Sie piepsen mit Flöten herum, summen und brummen, streicheln über Tom-Toms, singen erfundene Mantras. Ich schrammle zwanzigmal den gleichen Nicht-Akkord.
»Schön. Geht mal ein bisschen aufeinander ein«, sagt die Therapeutin. Am Ende singt sie selbst ein englisches Lied, mit hoher, klarer Stimme. Sie singt voller Hingabe, ich höre, dass sie das gerne macht, während sie sich selbst auf dem nicht besonders gut gestimmten Klavier begleitet. Irgendwas von Simon & Garfunkel. Es wirkt so, als würde sie das eigentlich für sich selbst machen. Als das Lied zu Ende ist, klatscht niemand von uns. Das ist für sie bestimmt ziemlich unangenehm. Für mich haben die Leute früher immer geklatscht.
Mir fallen diese Therapien unglaublich schwer. Nicht, weil sie schlecht sind, ich kann sie nur einfach nicht ertragen. Ich werde einfach nicht damit fertig, dass ich nichts mehr kann.
Den größten Missmut löst die Kunsttherapie bei mir aus. Alle müssen etwas machen. Am Tisch sitzen lauter bereitwillige Männer und Frauen, die zwanghaft motiviert sind. Wir werden alle zusammen kreativ, wir bekommen eine Aufgabe: Die Therapeutin verteilt Blätter, auf denen das Skelett eines Baumes zu sehen ist. Der Baum muss ausgemalt und mit Blättern bestückt werden, dazu kann man Wachsmalkreide oder irgendwas anderes verwenden. Alle wollen Wachsmalkreide. Ich nicht, ich finde Wachsmalkreide abscheulich und fettig und eklig.
Ein älterer Mann, der mir von allen am sympathischsten ist, möchte eine Viertelstunde früher gehen, damit er mit seiner Schwester mittagessen gehen kann. Seine Schwester hat viel zu tun und nur mittags Zeit. Er fragt direkt zu Kursbeginn, er fragt ganz ruhig und höflich, ob er vielleicht eine Viertelstunde früher gehen dürfe.
Nein, das geht nicht, damit fangen wir erst gar nicht an. Die Therapeutin, noch jung, mit sichtlich antrainierter Autorität, sagt nein. Ich werde blind vor Wut. Ich mische mich ein. Ich quengle und meckere. Ich widerspreche der Therapeutin so oft wie möglich und bin auch noch stolz darauf.
Es wird immer peinlicher. Man hört das unbehagliche Stuhlscharren, das Hin-und-her-Schieben der Blätter auf dem Tisch. Die Stimmung ist gedrückt, alle wollen einfach anfangen. Ich halte alles auf.
Der ältere Mann sagt nichts. Er hat das Mittagessen mit seiner Schwester längst abgehakt. Ich bin verbittert. Das ist nicht fair. Er könnte ruhig ein bisschen Dankbarkeit für meinen Einsatz zeigen. Ich denke: Ich kann alles besser als diese dumme Therapeutin mit ihren perlweißen Zähnen. Ich habe mein ganzes Leben lang schöne Sachen gemacht, ich werde es ihr verdammt nochmal zeigen. Das ist es, was ich denke. Alle anderen sitzen schweigend auf ihren Stühlen.
Die Therapeutin lässt sich nicht unterkriegen. Sie bemüht sich um mich. Ich bekomme sogar Buntstifte, als ich danach frage. Ich darf alles machen, worauf ich Lust habe. Jetzt muss ich etwas Schönes machen, etwas Originelles, das zeigt, wie viel Talent ich habe. Die Therapeutin macht mir ein Kompliment. »Was für außergewöhnliche Blumen!«, sagt sie.
Außergewöhnliche Blumen. Das müsste so ein Erfolgserlebnis sein, das Wort habe ich schon oft gehört. Wieder so ein Schwachsinnswort. Aber ich kann es einfach nicht mehr. Ich kann gar nichts mehr. Und niemand weiß zu schätzen, dass ich dem Mann helfen wollte, der allerdings auch gar nicht um Hilfe gebeten hatte. Niemand lehnt sich gegen das Regime auf. Ganz im Gegenteil, sie denken, dass dieses nervige Weib — ich — ihnen den Kurs verdorben hat. Und damit haben sie auch noch recht. Ich wünschte, ich wäre nie geboren worden. Aus jeder meiner Poren trieft Selbsthass.
Niemand sagt noch etwas dazu. Am nächsten Tag entschuldige ich mich in einem kurzen Brief für mein Verhalten, und diesen Brief werde ich bald allen Therapeuten geben, die ich vermutlich beleidigt habe. Es fühlt sich wie eine Niederlage an. Sie alle zeigen Verständnis.
Später bekomme ich in meinem Zimmer zum ersten Mal in meinem Leben einen unaufhaltsamen Heulkrampf. Er hört gar nicht mehr auf. Ich hickse, ich keuche, ich muss mich beinahe übergeben, ich gebe Geräusche von mir, die ich noch nie zuvor gemacht habe. Ich habe noch nie solche Tränen geweint.
Ich habe mich noch nie so sehr von mir verabschiedet. Der Abschied ist endgültig, so fühlt es sich an. Anscheinend ist es das, was ich tun muss. Anscheinend muss ich da durch.
Ein netter Pfleger kommt zu mir. Jeder Pfleger nimmt jeden Tag einen Patienten unter seine Fittiche. Dieser Junge setzt sich zu mir, legt einen Arm um mich und verwendet diese Wohlfühlterminologie, die ich so sehr hasse. Und genau jetzt, am Rande des Erträglichen, kommt er mir mit: »Gott sei Dank, Sie lassen den Schmerz endlich zu.« Ich muss mich übergeben. Ich will ihn schlagen. Ich will ihm den Kopf abreißen. Aber der Pfleger dreht den Hahn der Anteilnahme bis zum Anschlag auf, und mein Herz zerbricht in zwei Teile.
Ich höre nie wieder auf zu weinen.
Abends puzzle ich noch eine halbe Stunde lang am Senf-Puuh. Dann ist er fertig. Morgen fange ich mit Pocahontas an.