Ich sagte zur diensthabenden Betreuerin: »Ich würde sooo gerne mal ganz allein nach unten dürfen, in den Bastelraum. Das würde doch jetzt gehen, oder? Ich finde auch ganz allein dorthin.«
»In Ordnung«, sagte die Betreuerin.
Zuversichtlich machte ich mich auf den Weg und hatte innerhalb kürzester Zeit keinen blassen Schimmer mehr, wo ich war. Ich streifte eine ganze Zeit lang umher und landete auf der anderen Seite des Krankenhauses und war völlig verloren. Doch glücklicherweise lief ich dort einer Pflegerin über den Weg, die zur mir vertrauten psychiatrischen Abteilung gehörte! Sie ging ein Stück entfernt hinter mir her, ich schaute mich zufällig um, und da sah ich sie.
»Ach, hallo«, sagte die Frau. »Waren Sie auf dem Weg zum Bastelraum? Soll ich kurz mitgehen? Ich muss sowieso in die Richtung.«
Ich ging sofort mit. Und mein Selbstvertrauen war nur minimal angeknackst. Diese Menschen verstehen etwas von ihrem Fach.
Nach einiger Zeit konnte ich den Bastelraum mit geschlossenen Augen finden. Für mich war es ein riesiger Erfolg, dass ich die Erlaubnis bekam, allein dorthin zu gehen, raus aus der geschlossenen Abteilung und eine Etage runter, wo die Tische mit erstklassigen Bastelutensilien bestückt waren. Der Bastelraum wurde mein Lieblingsort. Ich saß dort jeden Tag so lange, bis er abgeschlossen wurde. Die Stimmung war dort ziemlich gut. Viele Patienten brachten irgendwelche Leckereien mit, es gab eine vernünftige Kaffeemaschine, und manchmal artete es sogar in eine Art Wettstreit aus, wer die meisten und leckersten Plätzchen dabeihatte.
Im Bastelraum wurde am laufenden Band gequasselt, ich bin immer noch davon überzeugt, dass über diese Gespräche Berichte geschrieben wurden; dass notiert wurde, was jeder gehäkelt oder gebastelt hat, was jeder gesagt hat, ob viel geweint wurde, und wer warum geweint hat. Ich schämte mich nicht mehr, zum ersten Mal wollte ich aus freien Stücken erzählen, was ich durchgemacht hatte. Meiner Erfahrung nach kommt irgendwann doch plötzlich der Tag, an dem man kleine Fortschritte macht. Nicht alle hörten interessiert zu, aber das war nicht weiter schlimm. Ich bekam eine Mappe mit Bildern, aus der ich mir welche aussuchen durfte, und eine riesige Auswahl an Buntstiften. Schließlich brachte Berend sogar meine eigene fantastische riesige Buntstiftdose von zu Hause mit, die ich nur gekauft hatte, weil sie so wunderschön anzusehen war. Jahrelang hatte ich diese prunkvollen Buntstifte nur betrachtet. Ab und zu hatte ich die Dose auch geöffnet.
Aber im Bastelraum fühlte ich mich wohl. Ich habe die Buntstiftdose dort nach all den Jahren zum ersten Mal benutzt.
Ein in sich gekehrter Mann saß in einer Ecke und goss ausschließlich Frösche in Gips und bemalte sie danach in karibischen Farbtönen. Ausnahmslos alle Frösche bekamen eine goldene Krone aufgesetzt und knallrote dicke Froschkrallen in fluoreszierender Farbe. Ich hatte Frans unglaublich gern. Wenn man vorbeiging und sagte: »Was für ein schöner Frosch, Frans!«, dann hatte man ihn schon für sich eingenommen. Er verschenkte sie sofort. Nach einiger Zeit wurde es zur Fließbandarbeit; die fertigen Frösche standen nebeneinander aufgereiht und warteten auf jemanden, der seine Begeisterung bekundete und einen haben wollte. Einmal fragte ich Frans: »Machst du das gerne?«, einfach so, um ein Gespräch anzufangen. »Irgendwas muss man ja machen«, antwortete er. Ich glaube, er fand die Frösche auch nicht besonders schön. Aber es war mutig von ihm, sie zu machen und zu verschenken. Einmal sagte er auch: »Wir sind hier ja nicht zum Däumchen drehen«, und das brachte mich zum Lachen.
Und manchmal musste ich weinen. Darum ging es im Wesentlichen: Plätzchen essen, ein bisschen basteln und flennen und erzählen, was man erzählen wollte. Oder auch nicht. Die Pfleger befürworteten es nicht, wenn sich die Patienten untereinander alles bis ins kleinste Detail erzählten, das könnte die anderen Patienten verwirren, sagten sie. Manche Dinge sollte man besser nicht wissen. Ein Patient, der eine Elektroschocktherapie bekam, die man nicht so nennen darf, murmelte einmal: »Sie bringen mich hier um«, und danach träumte ich die ganze Nacht ununterbrochen von Jack Nicholson mit Metallhelm. Kurze Zeit später hatte der Patient die Einrichtung gewechselt, er hatte einen kurzen, tadellosen und wundervoll geschriebenen Abschiedsbrief auf meinem Bett hinterlassen. Ein netter, kultivierter Mann, der manchmal vergaß, seine Zimmertür zu schließen, sodass man kurz Dinge sehen konnte, die einen nichts angingen.