Plötzlich war da ein Hund. Nichtsahnend machte ich mitten in der Nacht schlaftrunken die falsche Tür auf und hörte das hohe, schneidende Schreibellen eines Höllenhundes. Ich konnte gar nicht schnell genug die Flucht ergreifen. Es war übrigens kein Höllenhund, erfuhr ich später, sondern ein Assistenzhund. Der Hund gehörte zu einem Mädchen, das nachts eingewiesen worden war. Mit sowas rechnete ich einfach nicht. Ich dachte, sowas sei im Krankenhaus überhaupt nicht erlaubt. »Vielleicht könnten wir auch noch Hühner halten«, sagte ich am Empfang säuerlich. »Dann gibt es jeden Morgen für jeden Patienten ein Ei.«
Später wurde mir erzählt, dass der Hund nicht da war, um sie zu führen — das Mädchen war nicht blind —, sondern um sie zu beruhigen, wenn sie Angst hatte oder verwirrt war. Dann legte sich der Hund ganz dicht neben das Mädchen aufs Bett, um sie zu beruhigen und sie vor ihren nächtlichen Ängsten zu beschützen. Als ich das hörte, hätte ich weinen können.
Wir Normalsterblichen durften den Hund nicht berühren oder streicheln oder mit ihm sprechen, und das war ganz schön schwierig. So ein Hund soll seine Pflicht erfüllen, und mehr nicht. Darauf wurde er trainiert. Aber eigentlich wollten wir alle diesen Hund auf dem Schoß sitzen haben. Manchmal gingen wir mit dem blassen Mädchen mit zum nahegelegenen Wald. Es gab diejenigen, die zum Wald durften, wenn noch jemand mitging. Als ich zum ersten Mal allein zum Wald durfte, war das ein riesiger Erfolg für mich. Danach wollte ich jedoch gar nicht mehr unbedingt allein zum Wald. Ich fand es sogar ein bisschen unheimlich. Aber ich war auch stolz. Ich hatte es geschafft.
Es war herrlich, mit dem Hund durch die Natur zu schlendern. Mir fiel auf, dass der Hund häufig kurz aufblickte, um das Gesicht seiner Besitzerin sehen zu können. Am Waldrand nahm das Mädchen ihm die Leine ab, und er durfte kurz die Freiheit genießen. Mit dem Schwanz wedelnd legte er sich dann erwartungsvoll auf den Rücken. Er lief nicht weg. Wir streichelten ihn wie besessen, als ob auch er beruhigt werden müsste, und es war ein wunderbares Gefühl, als wären wir alle ganz normal. Er fühlte sich weich an, und sein Blick war ebenfalls weich. Im Wald durften wir ihn anschauen und mit ihm sprechen. In solchen Augenblicken gehörte er uns allen ein bisschen. Seine Besitzerin hatte nichts dagegen.
Die Besitzerin entpuppte sich als liebes und sanftes Mädchen, das immer etwas zu schnell und zu hoch lachte. Wir nannten sie Schneewittchen, weil ihre Haare rabenschwarz waren. Einige Male habe ich sie im frühesten Morgengrauen im gläsernen Zimmer sitzen sehen, das Raucherecke hieß, so weit wie nur möglich in die Ecke eines Sofas gepresst, die Arme fest um die angezogenen Beine. Als hätte sie sich in dem fast undurchsichtigen Rauch sicher gefühlt, als würde sie nicht existieren. Manchmal saß jemand bei ihr, aber sie sprachen nicht miteinander. Da sitzt man im allerfrühsten Morgengrauen in einem wildfremden Kasten voller Rauch mit einer völlig unbekannten Person, um sich die Lungen schwarz zu teeren. Schneewittchen in ihrem Glaskasten. Allein der Gedanke daran macht mich unendlich traurig.