Es gibt eine große Frau, die mir gerne freundlich und geduldig beim Puzzeln hilft (»Das passt wahrscheinlich nicht, das ist bestimmt das falsche Teil, aber darf ich es aus Jux einfach mal versuchen?«), was ich sehr zu schätzen weiß. Das Puzzleteil passt immer. Aber manchmal ist die Frau plötzlich die schlimmere Patientin von uns beiden. Sie ruft ihren Mann an, sie will nach Hause. Sie sagt, das sei so abgemacht. Sie hätten das so vereinbart. Kurz hört man nichts. Erklärt er ihr, dass das nicht stimmt? Dass sie vielleicht den nächsten Tag vereinbart hatten? Gewöhnliche Sätze gehen in Anschuldigungen über. Kees, du lügst! Kees, du lügst! Kees, du lügst!
Sie darf das Telefon benutzen, das auf der Theke steht. Tränen, neue Anschuldigungen. Ich kann alles hören. Ich sehe, wie sich ihr Gesichtsausdruck ständig verändert. Mal ist er herzzerreißend traurig, mal ist er mir zuwider. Dann bleckt sie ihre Zähne ganz komisch.
Ich bleibe im Gemeinschaftsraum sitzen, ich bin kurz nicht da. Der Betreuer übernimmt den Telefonhörer, erreicht nichts. Das nimmt sie so nicht hin. Sie reißt ihm den Hörer aus den Händen. Er hat es gesagt. Und ob. Du lügst, Kees! Du lügst, Kees! Weinen ist schlimm, machtlos wütend schreien ist schlimmer, das bringt die ganze Abteilung durcheinander. Ich merke, dass ich im Stillen Partei für den Mann ergreife, der doch sowieso schon kein Leben mehr hat und die Partnerschaft tragen muss. Aber diese Frau mit den komischen Zähnen sucht für mich immer ganz aufmerksam Puzzleteile raus und freut sich für mich und für sich, wenn ein passendes dabei ist.
Etwas später sehe ich eine große, einsame Frau mit einem Koffer auf einem Stuhl vor der verschlossenen Tür sitzen. Die Tür ist abgeschlossen, die geht nicht einfach so auf. Aber am späten Nachmittag sitzt sie nicht mehr dort. Ihr Mann hat sie also doch abgeholt. Ich beneide den Mann nicht, das wird bestimmt kein schönes Wochenende. Partner sind Heilige, das habe ich schon mal gesagt.
Auf unserer Station gibt es auch ein altes Schätzchen, das immer leise wimmert, wie ein kleiner, ständig winselnder Hund. Es reicht aus, ihr einen Guten Morgen zu wünschen, da geht das Gewimmer schon los. Sie mag es, wenn man sie dann kurz in den Arm nimmt. Wie traurig muss jemand sein, wenn er immer weinen kann? Oder kann man das mit der bedeutungslosen Grimasse aus der Rehaklinik vergleichen? Es macht den Anschein, als wäre weinen für sie wie atmen. Vermutlich tut es vor allem uns gut, wenn wir sie kurz in den Arm nehmen, nicht ihr.
Ihr Mann, der mit dieser Situation augenscheinlich nicht gut umgehen kann, ist zu Besuch. Er geht nicht besonders liebevoll mit ihr um. Manchmal schaut er sich hilflos um, als würde er sich von uns Unterstützung erhoffen. Dann macht er ein gequältes Gesicht: Hört euch das nur an. Niemand reagiert, wir sind hier alle ziemlich durch den Wind. Das vergesse ich manchmal.
Trotzdem sieht ebenjener Mann jeden Abend mit seiner wimmernden Frau fern. Es gibt zwei Gemeinschaftsräume mit Fernsehern, einen, wo Männer Fußball schauen, und einen, wo man einschalten kann, was man will. Seiner Frau ist es egal, wo sie wimmert, also schaut er, was er will.
Manchmal finde ich ihn hartherzig, aber er versucht jeden Tag vergeblich, ihre Tränen zu stillen, während ich direkt weglaufen könnte. Und das mache ich auch oft. Dann habe ich keine Lust mehr auf das Gewimmer. So nett bin ich dann doch nicht.
Ich habe beispielsweise auch wenig Geduld mit einer Kindfrau, die von ihrem Mann aus tiefstem Herzen geliebt wird. Sie nennt ihren Mann mein Männlein, und wenn sie mit mir über Berend spricht, nennt sie ihn dein Männlein. Das will ich nicht. Er heißt Berend.
Einmal ist sie bei der Morgengymnastik still und sanft von der Bank geglitten. Alle kümmerten sich eine Ewigkeit um sie, bis sie mit einer Trage weggebracht wurde. Am nächsten Tag kam sie mit einem großen, roten Fleck auf ihrer Wange herein, als wäre sie übel gefallen. Kurz dachte ich: Die hat so lange ihre Wange geschrubbt, bis die Haut ab war. Ich kenne das, ich habe das selbst mal als Kind gemacht. In der Grundschule. Ein Rotzbengel hatte mir eine Ohrfeige verpasst, und ich wollte, dass er dafür gnadenlos eine Tracht Prügel kassieren würde. Rachsüchtig bin ich also auch. Was ist schlimmer: ein rachsüchtiges Kind oder eine Kindfrau?
Die Kindfrau scheint mit sich selbst unheimlich zufrieden zu sein. (»So bin ich eben, ich will für jeden da sein.«) Ich kann meine Klappe mal wieder nicht halten. Ich sage: Du bist ganz schön zufrieden mit dir, was? Prompt füllen sich ihre Augen bis zum Anschlag mit Tränen. Sofortige Reue meinerseits.
Bei der Morgengymnastik sehe ich die Kindfrau und eine gertenschlanke große Frau aus Groningen (ich nenne sie Jans Pommerans, aber sie kennt den Namen nicht) schluchzend nebeneinanderher traben, mit triefnassen Gesichtern, Hand in Hand, und doch ohne jegliche Verbindung.