Im SchattenClan-Lager kauerte Schattenhelle unglücklich im Bau des Anführers. Sein Vater Tigerstern und seine Mutter Taubenflug hatten ihn in ihre Mitte genommen und schmiegten sich eng an ihn. Er konnte ihren Herzschlag spüren, ihr Angstgeruch kitzelte ihn in der Nase.
Die ganze Nacht hatten sie ihn befragt und waren schließlich mit dem Morgenlicht, das allmählich in den Bau drang, verstummt. Schattenhelle wusste, dass sie mit dem, was er ihnen erzählt hatte, nicht zufrieden waren. Sie verbargen weder ihre Besorgnis noch, wie enttäuscht sie von ihm waren.
Draußen im Lager ertönten zornige Stimmen, sie kamen von seinen eigenen Clan-Gefährten und von den wenigen Kriegern aus den anderen Clans, die zurückgeblieben waren, um ihn zu bewachen. Er brauchte sich nichts vormachen: Ihre Wut richtete sich gegen ihn. Sogar Pfützenglanz, sein Mentor und Freund, war erstaunt und entsetzt gewesen, als er von Schattenhelles Tat erfahren hatte.
»Ich habe euch doch gesagt, was passiert ist«, fing er erneut an, in einem letzten Versuch, seine Eltern davon zu überzeugen, dass er die Wahrheit sagte. »Aschenpelz hat mir gezeigt, dass Brombeerstern nicht tot ist. Und Brombeerstern hat mir später gesagt, dass er endgültig sterben würde, wenn wir seinen Körper umbringen. Und Piekhelle habe ich auch gesehen«, fuhr er verzweifelt fort, weil weder Tigerstern noch Taubenflug etwas sagten. »Ich glaube, er wollte mir etwas mitteilen … nämlich, dass Aschenpelz es irgendwie fertiggebracht hat, noch viel mehr Katzengeister einzusperren. Wir müssen sie befreien – nur, wie soll das gehen, wenn Aschenpelz tot ist und uns nicht mehr verraten kann, wohin er sie gebracht hat? Wie hätte ich zulassen können, dass Aschenpelz getötet wird, wenn dadurch noch viel mehr Katzen sterben oder leiden?«
Schattenhelle schaute von Tigerstern zu seiner Mutter. Er sah die Angst in ihren Augen, und ihm wurde klar, dass seine flehentliche Bitte sie nicht weiter beeindruckte.
»Nun wirst du die Katze sein, die sterben oder leiden muss«, miaute Tigerstern schroff.
Taubenflug rieb ihre Schnauze an Schattenhelles Wange. »Die anderen Clan-Anführer kommen, um dich zu befragen«, erklärte sie. »Wir wollen nicht, dass du das durchmachen musst. Ich denke, du solltest fliehen, und zwar schnell, bevor sie hier eintreffen.«
»Ich soll meinen Clan verlassen?«, rief Schattenhelle so geschockt, als wäre ein dicker Ast auf ihn herabgefallen. »Nie–«
»Ja«, erwiderte Tigerstern. »Die anderen Clans – selbst deine eigenen Clan-Gefährten – sind sehr wütend über Aschenpelz’ Flucht. Im Moment sind sie sich noch nicht sicher, ob es wirklich deine Schuld war. Aber wenn sie zu dem Schluss kommen, dass du tatsächlich dafür verantwortlich warst, werden sie dir das Fell zerfetzen, egal, welche Gründe du anführst. Du darfst auf keinen Fall zugeben, dass du etwas damit zu tun hattest, oder den anderen Anführern sagen, was Aschenpelz dir gezeigt hat.«
»Vermutlich war das sowieso nur ein gemeiner Trick von ihm«, fügte Taubenflug bekümmert hinzu.
»Ich weiß, was ich gesehen habe«, widersprach Schattenhelle. »Mir ist egal, was mit mir geschieht, solange wir das alles irgendwie in Ordnung bringen können. Und ich werde die anderen Clans ganz sicher nicht anlügen. Was Aschenpelz mir zeigte, war kein Trick. Es waren wirklich Brombeerstern und Piekhelle und ich muss den anderen Anführern die Wahrheit sagen. Nur so kann ich sie daran hindern, einen schrecklichen Fehler zu begehen.«
Tigerstern und Taubenflug schauten sich über Schattenhelles Kopf hinweg an. Stolz lag in ihrem Blick, der jedoch sofort von Trauer abgelöst wurde. Tigerstern seufzte leise. »Damit wirst du keinen Erfolg haben«, miaute er.
»Bitte!«, flehte Schattenhelle. »Ich habe so lange geglaubt, ich hätte Brombeerstern ermordet, weil ich den DonnerClan-Katzen gesagt habe, dass sie ihn in der Schneehöhle auf dem Moor erfrieren lassen sollen. Wenn ich jetzt nicht alles daransetze, Brombeersterns Körper zu retten, werde ich das nie wiedergutmachen machen können. Ja, damals habe ich mich geirrt: Ich dachte, ich würde für den SternenClan sprechen, dabei habe ich damit nur Aschenpelz ermöglicht, zurückzukommen und die Clans zu terrorisieren. Ich muss das wieder in Ordnung bringen.«
»Das verstehe ich«, sagte Taubenflug zu ihm. »Aber die Katzen sind alle so wütend über das, was Aschenpelz getan hat – keine wird bereit sein, dich anzuhören, ganz zu schweigen davon, dir zu glauben.«
»Wenn du nicht verbannt oder sogar getötet werden willst, ist Lügen deine einzige Chance«, erklärte Tigerstern.
»Nein«, protestierte Schattenhelle. »Ich habe euch doch schon gesagt, dass ich das nicht tun werde.«
»Dann verschwinde, bevor sie dich befragen können!«, drängte Tigerstern.
»Aber wie soll das gehen?«, fragte Schattenhelle hoffnungslos. »Wohin sollte ich fliehen? Und wieso ist es besser, davonzulaufen, als verbannt zu werden?«
Tigerstern stand auf und streckte den Kopf aus dem Bau. »Bernsteinpelz!«, rief er leise.
Sogleich schlüpfte die schildpattfarbene Kätzin herein. Offensichtlich hatte sie draußen auf den Ruf ihres Sohns gewartet. »Dann ist es so weit?«, fragte sie Tigerstern.
Der SchattenClan-Anführer nickte und wandte sich wieder an Schattenhelle. »Ich wusste, dass du nicht bereit sein würdest zu lügen, deshalb habe ich mich mit Bernsteinpelz beratschlagt. Wir haben entschieden, dass sie mit dir zum Stamm des eilenden Wassers gehen soll.«
»Weißt du noch, wie wir zusammen dort waren, als du ein Junges warst?«, miaute Bernsteinpelz. Schattenhelle starrte sie entsetzt an. »Steinsager wird dich bestimmt gerne aufnehmen. Wir schleichen uns aus dem Lager, bevor die Clan-Anführer hier sind.«
Schattenhelle hatte nur noch schwache Erinnerungen an seine Zeit beim Stamm. Er versuchte, sich an die Katze namens Steinsager zu erinnern, die seine Mutter immer als so gütig beschrieb. Doch er entsann sich nur an Bilder von glitzerndem, herabfallendem Wasser … wunderschön und geheimnisvoll. Einen Moment lang lockte ihn die Aussicht, mit Bernsteinpelz zu fliehen und Zuflucht bei den Bergkatzen zu suchen, weit weg von Aschenpelz und dem Ärger mit ihm.
Doch dann schob er die Versuchung entschlossen von sich. »Aber wenn ich die anderen Anführer dazu bringen kann, mich anzuhören«, miaute er, »weil mich die anderen SchattenClan-Katzen unterstützen, dann kann ich ihnen in Ruhe alles erklären und sie davon überzeugen, dass sie Aschenpelz am Leben lassen müssen. Und dann können wir überlegen, wie wir seine Macht über Brombeerstern und die anderen Geisterkatzen brechen.«
Die drei Krieger im Bau sahen sich an, Fragen huschten wortlos zwischen ihnen hin und her, so lange, dass Schattenhelle schon hoffte, er hätte sie überzeugt. Doch schließlich schüttelte Tigerstern den Kopf und ihm sank das Herz in die Pfoten. Keiner von ihnen glaubte, dass der restliche Clan ihn unterstützen würde. Sind meine eigenen Clan-Gefährten genauso erpicht darauf, mich bestraft zu sehen, wie der DonnerClan?
»Manchmal kannst du dich nicht mal auf deine eigenen Clan-Gefährten verlassen«, versicherte Tigerstern ihm ernst. »Dann zählt nur noch die Familie.«
Schattenhelle konnte sein Entsetzen über diese Worte nicht verbergen. Wie kann ein Clan-Anführer nur so etwas sagen?
Taubenflug streckte den Schwanz aus und strich ihm tröstend über die Flanke. »Geh mit Bernsteinpelz«, miaute sie, »und ich verspreche, dass dein Vater und ich den Clan überreden werden, sich deine Gründe anzuhören. Und wenn sich alles wieder beruhigt hat, kannst du zurück nach Hause kommen.«
In den sanften Augen seiner Mutter lag nichts als Liebe. Schattenhelle holte tief Luft. »Gut, dann werde ich weggehen«, sagte er. Vielleicht hört der Clan ja wirklich auf seinen Anführer und auf Taubenflug – vermutlich eher als auf mich. Dennoch durchströmte ihn ein Gefühl tiefster Verzweiflung. Ich frage mich, ob ich je wieder nach Hause kommen kann.
»Dann sollten wir aufbrechen«, miaute Bernsteinpelz. »Kopf hoch, Schattenhelle. Das wird ein richtig tolles Abenteuer!«
Schattenhelle bezweifelte, dass er je wieder so etwas wie Freude empfinden würde. Zögernd stand er auf und folgte Bernsteinpelz aus dem Bau. Tigerstern trat nach ihnen auf die Lichtung und jaulte einen lauten Befehl.
»Alle Katzen, die alt genug sind, Beute zu machen, fordere ich auf, sich zu einem Clan-Treffen zu versammeln.«
Sogleich scharten sich sämtliche Clan-Katzen um ihren Anführer, sodass Bernsteinpelz und Schattenhelle unbeobachtet am Rand des Lagers entlangschleichen konnten. Schattenhelle bemerkte, dass seine Wurfgefährten Lichtsprung und Springschritt ihre Clan-Gefährten zu den anderen scheuchten und sie von ihm und Bernsteinpelz ablenkten.
Dann sind sie also auch in den Plan eingeweiht. Ob sie wohl ebenso an mir zweifeln wie die anderen?
Tigerstern sprang auf einen Ast, der über seinem Bau herausragte, und erklärte seinen Katzen, welches Verhalten er von ihnen erwartete, wenn die anderen Anführer eintrafen. Vor dem Tunnel, der durch das Brombeerdickicht aus dem Lager führte, drehte Schattenhelle sich ein letztes Mal zu seinen Clan-Gefährten um, die alle zu ihrem Anführer aufblickten.
Bernsteinpelz gab dem zögernden Kater einen Stoß. »Nicht trödeln«, miaute sie forsch. »Wir haben einen weiten Weg vor uns.«
Doch bevor sie in den Tunnel schlüpfen konnten, erstarrte Schattenhelle vor Schreck. Entschlossene Pfotenschritte donnerten bedrohlich durch die Dornen und näherten sich rasch. Dann tauchte Löwenglut aus dem Gestrüpp auf und blieb Schnauze an Schnauze vor Bernsteinpelz stehen, bis sie zögernd beiseitetrat und ihn ins Lager ließ.
Hasenstern und Nebelstern folgten, zusammen mit einer ganzen Schar an Kriegern. Nur der WolkenClan fehlte. Schattenhelle fühlte sich auf einmal so umzingelt, als hätten sie ihn in das Brombeergehege geworfen, in dem Aschenpelz gefangen gehalten wurde.
»Oh, verstehe …«, knurrte Löwenglut und funkelte Bernsteinpelz und Schattenhelle aus seinen bernsteinfarbenen Augen wütend an. »Ihr zwei wolltet fliehen, bevor die Clans der Sache auf den Grund gehen können … oder täusche ich mich?«
Bevor Bernsteinpelz oder Schattenhelle reagieren konnten, sprang Tigerstern von seinem Ast, rannte herbei und schob sich zwischen seinen Sohn und die Besucher. »Für wen hältst du dich?«, fauchte er mit gesträubtem Schulterfell. »Kommst in mein Lager und beschuldigst –«
»Ich bin die Katze, die das Chaos wieder in Ordnung bringt, das dein Sohn angerichtet hat«, gab Löwenglut zurück und zeigte drohend die Zähne.
Bei diesen Worten fingen sämtliche Katzen im Lager an zu knurren und zu fauchen. Beleidigungen und Anschuldigungen flogen hin und her wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel. Selbst Schattenhelles Clan-Gefährten, die eigentlich wütend auf ihn waren, rannten herbei, um ihren Clan vor den Eindringlingen zu verteidigen. Nur die Heilerkatzen des DonnerClans, Erlenherz und Häherfeder, versuchten, den Streit zu beschwichtigen, aber keine Katze hörte auf sie.
»Du gehst also wieder mal deinen eigenen Weg«, fauchte Hasenstern an Tigerstern gewandt. »Du beschützt dein Junges, obwohl er unsere einzige Hoffnung ist, Aschenpelz aufzuspüren.«
»Genau«, stimmte Nebelstern zu und baute sich mit gebleckten Zähnen vor Tigerstern auf. »Ich dachte, du wärst ebenso erpicht darauf wie wir, diesen vom SternenClan verfluchten Betrüger endlich loszuwerden. Aber nein – du stellst das Wohl deiner Familie über das der Clans!«
»Was soll man von diesen räudigen SchattenClan-Pelzen auch anderes erwarten?«, fügte Löwenglut hinzu.
Beide Seiten rückten mit ausgefahrenen Krallen immer näher aufeinander zu. Bernsteinpelz schob sich neben Tigerstern, um gemeinsam mit ihm Schattenhelle zu beschützen. Der junge Heiler spürte, dass ein Angriff kurz bevorstand.
»Aufhören!« Eigentlich hätte das wie ein Befehl klingen sollen, stattdessen ähnelte es eher dem Wimmern eines verängstigten Jungen. Dennoch erzielte Schattenhelles Ruf die beabsichtigte Wirkung: Die zornigen Katzen wichen zurück, sie drehten sich zu ihm und ihr anklagendes Jaulen verstummte innerhalb weniger Herzschläge fast gänzlich.
»Es ist nicht nötig, dass wegen mir SchattenClan-Blut vergossen wird«, fuhr der junge Heiler fort. »Ich ergebe mich freiwillig.«
Tigerstern, dessen Fell immer noch vor Wut gesträubt war, legte seinem Sohn den Schwanz über die Schultern. Schattenhelles Mut sank, als er von seinem Vater zu dem Brombeergehege geführt wurde, in dem auch Aschenpelz eingesperrt gewesen war. Am Eingang zögerte der Heiler kurz: Der Geruch des Betrügers war alt, aber noch stark und legte sich nun auf ihn – eine eindringliche Erinnerung daran, wie er getäuscht und manipuliert worden war. Tigerstern schob seinen Sohn in das Gestrüpp.
Löwenglut und die beiden anderen Anführer folgten ihnen. »Pflaumenstein, Hummelstreif«, befahl der Zweite Anführer des DonnerClans und winkte die beiden Katzen mit dem Schwanz zu sich. »Ihr haltet hier Wache, während wir auf Blattstern und den WolkenClan warten. Dann können wir alle gemeinsam beschließen, was zu tun ist.«
Schattenhelle spähte aus seinem Gefängnis und sah, wie Löwenglut zu Tigerstern herumfuhr. »Du nicht!«, knurrte er. »Du wirst bei dem Gespräch nicht dabei sein, weil wir dir offensichtlich nicht trauen können.«
Beim SternenClan! Schattenhelle war verzweifelt. Das ist alles nur meine Schuld, weil mein Vater mir helfen wollte. Was würde Tigerstern noch alles verlieren, außer dem Vertrauen der anderen Anführer?
Tigerstern legte die Ohren an und fuhr die Krallen aus. Schattenhelle fürchtete schon, sein Vater würde Löwenglut angreifen. Doch nach einem kurzen Moment machte er kehrt und stolzierte zu seinem Bau davon.
»Ihr macht einen großen Fehler«, rief der SchattenClan-Anführer noch über die Schulter hinweg. »In vielen Monden werden sich die Clans fragen, wie eine Katze so flohhirnig sein konnte – wenn es dann überhaupt noch Clans gibt, die sich daran erinnern könnten.«
Schattenhelle kauerte allein in seinem Brombeergefängnis. Für den Moment war der Kampf vertagt, aber es würde nicht viel brauchen, damit die Katzen ihre Krallen wieder ausfuhren.
Alles wird immer nur schlimmer. Er blinzelte unglücklich. Ob die Katzen mich jetzt noch anhören werden?