Der Mond neigte sich schon zum Horizont, als Schattenhelle und Mottenflügel auf den letzten steinigen Hang kletterten und sich durch die Büsche zwängten, um von oben auf den Mondsee hinunterzuschauen. Schattenhelle starrte auf die schimmernde Oberfläche und konnte kaum glauben, dass dieser friedliche Ort erst kürzlich das Zentrum von so viel Schrecken und Leid gewesen war.
Auf dem anstrengenden Weg zu den Hügeln hatten die beiden Katzen kaum gesprochen. Es gab auch nichts zu sagen; stattdessen trat Schattenhelle als Erster auf den gewundenen Pfad und spürte, wie seine Pfoten in die Kerben glitten, die andere Katzen schon vor langer Zeit hinterlassen hatten.
Sobald sie am Ufer angelangt waren, wandte sich Mottenflügel mit schief gelegtem Kopf an Schattenhelle. »Wenn das nicht funktioniert«, miaute sie, »zerfetzt Tigerstern uns beiden das Fell.«
Schattenhelle blinzelte gleichmütig. »Wenn das nicht funktioniert, bin ich sowieso tot«, meinte er. »Und wenn wir es nicht ausprobieren, werden wir nie aus dieser schrecklichen Lage rauskommen. Da können wir den Versuch auch wagen. Ich wünsche dir jedenfalls schon mal viel Glück für dein Gespräch mit Tigerstern, falls ich nicht zurückkomme.«
Bei diesen Worten zwang er sich, selbstbewusst zu klingen, aber seine Nerven kullerten durch seinen Bauch wie ein Wurf kleiner Jungen, die sich spielerisch balgten. Die Gewissheit, die er bei ihrem Aufbruch aus dem Lager noch empfunden hatte, versickerte wie Wasser auf ausgedörrter Erde. Er wusste genau, dass dies die beste Chance für eine Katze war, zum Wald der Finsternis zu kommen und ihn lebend wieder zu verlassen, aber je näher der Moment rückte, desto mehr zweifelte er daran, ob er Eichhornschweif oder auch nur sich selbst tatsächlich retten konnte.
Ich bin eine Heilerkatze, kein ausgebildeter Krieger. Oh, SternenClan, ich möchte ja tapfer sein, aber werde ich auch wissen, was zu tun ist? Er konnte nur noch daran denken, wie unwahrscheinlich ein Erfolg war und wie gefährlich dieses Unterfangen sein würde. Ich darf die Angst nicht die Oberhand gewinnen lassen. Er schüttelte sich entschlossen. Ich muss selbstbewusst sein, wenn ich Aschenpelz überlisten will.
Mottenflügel musterte ihn eingehend, dann sprach sie die Ängste, die er unterdrückte, laut aus. »Auch wenn dein Körper nicht wirklich im Wald der Finsternis ist, wird dein Geist in Gefahr sein. Und je länger du von deinem Körper getrennt bist, umso schwieriger wird es sicherlich sein, wieder in ihn zurückzukehren.«
»Ich weiß«, antwortete Schattenhelle und zwang sich, seine Nervosität nicht zu zeigen. »Dieses Risiko nehme ich auf mich. Eichhornschweif hat mehr als einmal ihr Leben riskiert, um den Clans zu helfen. Da ist es nur fair, wenn ich dieses Mal meins für sie riskiere.«
»Ich bewundere deinen Mut«, sagte Mottenflügel zu ihm, »Aber du hast keine Ahnung, was dich am sternenlosen Ort erwartet. Es kann gut sein, dass sie dich dort nicht sehr freundlich begrüßen werden.«
»Ich bin auf alles gefasst, womit der dunkle Wald aufwartet«, beharrte Schattenhelle und ignorierte das ungute Kribbeln in seinem Bauch.
»Es ist sehr tapfer von dir, dass du auf diesem Vorhaben bestehst, obwohl du es nicht tun müsstest.« Mottenflügel streckte die Schnauze vor und legte die Nase an Schattenhelles Ohr. »Ich gebe zu, ich bin überrascht – und beeindruckt.«
Schattenhelle blinzelte sie an, gerührt, dass seine strengste Kritikerin ihm endlich Respekt erwies. »Danke«, murmelte er.
»Wenn ich das Gefühl habe, dass du in Schwierigkeiten steckst«, miaute Mottenflügel, »werde ich mich bemühen, dich zu wecken und von dort wegzuholen. Nein, keine Widerrede«, fügte sie hinzu, als Schattenhelle protestieren wollte. »Es ist meine Aufgabe, das zu beurteilen – als Heilerkatze.«
»Na gut«, willigte Schattenhelle widerstrebend ein.
»Ich wünsche dir viel Glück«, fuhr Mottenflügel fort. »Du wirst es brauchen. Und du solltest wirklich alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen treffen, damit dich die Katzen, die dort möglicherweise herumlungern, nicht sehen. Der Wald der Finsternis steckt voller skrupelloser Katzengeister – wenn sie gute Katzen wären, wären sie schließlich nicht dort.«
»Ich weiß«, miaute Schattenhelle. Seine Schnurrhaare zuckten ungeduldig, weil er aufbrechen wollte.
Mottenflügel ignorierte die Unterbrechung. »Du wirst nicht wissen, wem du vertrauen kannst und wem nicht«, fuhr sie fort. »Auch wenn die Katzen dort nicht auf Aschenpelz’ Seite kämpfen, sind sie doch alle von den Ohren bis zur Schwanzspitze voller Niedertracht. Sie könnten dich angreifen oder quälen, einfach nur zum Spaß. Wenn du es lebend wieder herausschaffen willst, wirst du dich wie ein Geist bewegen müssen. Schaffst du das?«
Schattenhelle stieß ein leises, belustigtes Schnauben aus. »Ich bin dort sowieso ein Geist«, meinte er. »Das dürfte also nicht schwierig sein.«
Mottenflügel machte einen Schritt auf ihn zu und stieß ihm unsanft mit der Pfote gegen die Brust. »Du gibst dir gefälligst Mühe, dass du da lebend wieder rauskommst, verstanden? Wenn nicht, brauchst du dir wegen Aschenpelz keine Sorgen mehr zu machen – aber wegen mir!«
Trotz der schroffen Worte lag ihr bernsteinfarbener Blick warm auf ihm, und Schattenhelle wurde klar, dass sie nur deshalb so streng klang, weil sie sich um ihn sorgte. Aus irgendeinem Grund verflog seine Angst; plötzlich fiel es ihm nicht mehr schwer, einen klaren Kopf zu bekommen und die Last aus Furcht und Unsicherheit von sich abzuschütteln.
Er setzte sich auf die Hinterbeine und konzentrierte sich auf sein Ziel. Dazu suchte er nach möglichst finsteren Gedanken; er dachte an die vielen Male, die er von Aschenpelz getäuscht worden war, an die Verachtung, die der Kater für ihn gezeigt und wie er Schattenhelle manipuliert hatte. Mit einem leisen Knurren in der Kehle erinnerte er sich wieder und wieder daran zurück. Ich komme und finde dich.
Bald schon spürte Schattenhelle ein Ziehen an seinem Pelz, als würde ein starker Wind an ihm zerren. Gleich darauf folgte ein Gefühl von Leichtigkeit, er fühlte sich frei und gleichzeitig auch ungeschützt. Und es ist so kalt …
Wie erwartet zog erneut dichter Nebel vor seinen Augen auf. Mit ihm kamen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die sämtliche Zuversicht und jeden Tatendrang in ihm vertrieben und sein Selbstvertrauen und seinen Mut niederrangen.
In dem Moment, als Schattenhelle meinte, die Beklemmung keinen Herzschlag länger ertragen zu können, lichtete sich der Nebel und enthüllte den Wald der Finsternis: Er sah genauso trostlos und bedrohlich aus, wie er ihn von seinem letzten kurzen Besuch in Erinnerung hatte. Der Anblick war so furchtbar, dass er sich am liebsten nicht länger auf die Vision und die Angst und die Selbstzweifel, die sie hervorrief, konzentriert hätte.
Er stellte sich vor, wie Aschenpelz irgendwo in der Nähe lauerte, und zwang sich, fest daran zu glauben, dass es so war, um die Verbindung zum dunklen Wald nicht gleich wieder zu verlieren. Es musste sein; schließlich konnte Eichhornschweif nur gerettet werden konnte, wenn er Aschenpelz ein für alle Mal besiegte.
Und das werde ich auch.
Schattenhelle konzentrierte sich mit aller Kraft, er hielt sich an all dem Abscheulichen um ihn herum fest: Aschenpelz, seine Umgebung, das schwammartige Gefühl des schleimigen Waldbodens. Er wusste, dass er das ferne Gefühl der echten Welt unter seinen Hinterbeinen ignorieren musste, die Felsen am Mondsee, auf denen er dort saß, direkt neben …
Nein!
Die Vision um Schattenhelle herum schimmerte und verblich; bestimmt, weil er an eine Katze aus der echten Welt gedacht hatte. Er musste in Gedanken immer hierbleiben, in diesem grausigen Territorium. Eichhornschweif, Brombeerstern … alle Clans waren darauf angewiesen, dass er jetzt keinen Fehler machte.
Aber es nützte nichts. Der Wald der Finsternis verflog wie Morgennebel unter der heißen Blattgrüne-Sonne und er fand sich am Mondsee wieder. Mottenflügel schaute besorgt auf ihn herab.
»Hat es nicht funktioniert?«, fragte sie.
Schattenhelle seufzte tief und frustriert. »Doch, schon«, erwiderte er. »Ich war da – aber ich konnte nicht bleiben. Ich habe die Konzentration verloren und war auf einmal wieder hier.«
»Hast du Aschenpelz gesehen?« Mottenflügel starrte ihn eindringlich an.
»Nein«, sagte Schattenhelle. »Ich konnte ihn spüren, aber … das kann auch nur Einbildung gewesen sein.«
Mottenflügel nickte. »Gut.« Sie wirkte schon weniger angespannt. »Er hat also nicht auf dich gewartet wie bei Maulbeerglanz.«
»Nein«, erwiderte Schattenhelle. Er erinnerte sich daran, was er seinen Eltern erzählt hatte … dass er zu viel über Aschenpelz wusste, um einfach so beseitigt zu werden wie Maulbeerglanz. Davon war er auch jetzt noch überzeugt, obwohl er keine Ahnung hatte, warum es so war.
Aschenpelz hatte schon jede Menge Gelegenheiten gehabt, ihn zu töten. Was auch immer der böse Kater mit Schattenhelle vorhatte, es würde kein schneller Tod sein.
Er erschauderte und richtete die Gedanken wieder auf die Gegenwart. Seine Krallen scharrten am felsigen Untergrund des Seeufers; sein Versagen schmeckte so bitter wie ein Bissen Reisekräuter. »Irgendwie schaffe ich es nicht, im Wald der Finsternis zu bleiben. Die anderen Katzen damals vor dem Großen Kampf konnten das alle. Warum ich nicht?«
»Du kannst das auch«, erwiderte Mottenflügel. »Du hast es schon bewiesen. Vielleicht brauchst du nur ein bisschen mehr Übung. Leg dich hin, entspann dich und versuche es noch mal.«
»Vielleicht …« Schattenhelle kauerte sich auf die Felsen, rollte sich zusammen und schloss die Augen, als würde er sich schlafen legen. Er spürte, wie Mottenflügels Schwanz ihm beruhigend über das Fell strich.
Wieder konzentrierte sich der junge Kater, sammelte all seinen Hass und alle Furcht vor Aschenpelz und achtete nicht auf den Drang, in der echten Welt zu bleiben.
Was macht das nur mit mir?, fragte er sich, als die Dunkelheit über ihn schwappte wie ein Regenguss, der seinen Pelz durchnässte.
Werde ich wie Aschenpelz? Verliere ich einen Teil von mir?
Doch diese Sorge musste er von sich wegschieben. Er brauchte seinen ganzen Mut, um gegen das Elend und die Verzweiflung anzukämpfen, die ihn mit dem Nebel überkamen, bis der entsetzliche Anblick des dunklen Walds erneut vor seinen Augen erschien. Er nahm sich fest vor, diesmal dort zu bleiben.
Pfotenschritt für Pfotenschritt schlich er tiefer in den Wald und prägte sich jeden Baum ein, dem er auswich, oder die Stellen, wo er über einen Graben springen musste, um später wieder den Weg zurück zu finden. Er bog um einen schmalen Felsvorsprung, schob sich durch ein Rankendickicht und in einen modrigen, feuchten Sumpf, wo stinkendes Wasser um seine Pfoten quoll. Auf der anderen Seite entdeckte er ein ausgetrocknetes Flussbett und dahinter eine Felswand, an deren Fuß mehrere dunkle Löcher klafften.
Mit ängstlich gesträubtem Pelz trat Schattenhelle vor und spähte in die Dunkelheit der ersten Höhle. Er spitzte ein Ohr und schnupperte, konnte aber keine Spur von Eichhornschweif oder Aschenpelz wittern, obwohl er die Anwesenheit des bösen Katers immer stärker zu spüren meinte.
Die zweite Höhle, die er absuchte, fühlte sich so bedrückend an, dass er den fast unkontrollierbaren Drang verspürte, sie sofort wieder zu verlassen, aber als er zurück zum Eingang tappte, waren direkt davor laute, unbeholfene Pfotenschritte zu hören.
Instinktiv wich Schattenhelle zurück. Er wusste nicht, wer diese Katze war oder ob man ihr trauen konnte, aber ihm fiel wieder ein, was Mottenflügel gesagt hatte: dass eine Katze, die im Wald der Finsternis gelandet war, nur böse sein konnte.
Ich darf nicht gesehen werden. Ich will auf keinen Fall an diesem grauenhaften Ort erwischt werden.
Durch den Gedanken an Mottenflügel und den Wunsch, dem dunklen Wald zu entfliehen, verschwamm Schattenhelles Umgebung auf einmal, als würde er sie durch Wasser betrachten. Er erhaschte einen Blick auf Mottenflügel, die mit gespitzten Ohren vor dem heller werden Morgenhimmel saß.
Nicht jetzt! Schattenhelle konzentrierte sich verzweifelt auf Aschenpelz und zu seiner Erleichterung nahm der Wald der Finsternis wieder feste Gestalt an. Die Pfotenschritte verklangen in der Ferne.
Schattenhelle streckte den Kopf aus der Höhle und sah eine schlanke, graue Kätzin zwischen den Bäumen verschwinden. Er kannte sie nicht und sie hatte ihn nicht gesehen. Doch gerade, als er erleichtert aufatmen wollte, blieb die Katze stehen und drehte sich um.
Oh nein! Sie hat mich entdeckt.
Ein paar Herzschläge lang war Schattenhelle wie erstarrt, er wusste nicht, ob er in den Wald rennen sollte, um dieser Katze zu entkommen, oder ob er sich in die unheimlichen Tiefen der Höhle zurückziehen sollte. Während er noch unentschlossen dastand, hörte er plötzlich das Wasser rauschen, das in den Mondsee strömte. Seine Umgebung flackerte wieder und begann zu verblassen. Die echte Welt zupfte an ihm und er verlor die Verbindung zu Aschenpelz.
Schattenhelle bemühte sich, die Konzentration auf den bösen Kater wiederzufinden, schaffte es aber nicht; Panik blitzte in ihm auf und er starrte die Kätzin an. Wer ist sie? Wenn sie mir wehtun will, könnte ich hier getötet werden, und dann wäre ich für immer verschwunden …
Da stellte er zu seiner Überraschung fest, dass seine Umgebung wieder deutlicher wurde. Das Geräusch des Wasserfalls verklang. Natürlich! Nun begriff er. Nichts kann mich besser hier festhalten als meine Angst vor diesem schrecklichen Wald!
Erleichtert darüber, nun wieder sicher in der dunklen Welt verankert zu sein, spähte Schattenhelle zu der grauen Kätzin, die nun, nachdem sie ein paar Herzschläge gewartet hatte, davonlief. Sobald sie verschwunden war, verließ er die Höhle. Er wollte schon anfangen, das schreckliche Territorium weiter zu erforschen, als er ein angstvolles Jaulen in der Ferne hörte. Der Widerhall ließ die kahlen Zweige der Bäume erzittern.
Das ist Eichhornschweif!
Schattenhelle vergaß seine Angst davor, entdeckt zu werden, und rannte los.