Stachelfrost starrte in den Mondsee, bis in die Krallenspitzen von Entsetzen erfüllt. Sie konnte nicht glauben, was sie soeben mit eigenen Augen gesehen hatte. Wurzelquell war plötzlich zum See gestürzt und hineingesprungen, gleichzeitig hatte es den Eindruck gemacht, er wäre dazu gezwungen worden. Sein Hals war seltsam gekrümmt gewesen, als hätte ihn eine andere Katze, die sie nicht sehen konnte, ins Wasser gezerrt. Außerdem hatte er voller Panik »Ich kann nicht schwimmen!« gejault.
Nachdem der erste Schock verflogen war, zögerte Stachelfrost nicht länger. Sie kletterte über die Steine am Rand des Mondsees und sprang ins Wasser, ohne auf die erschrockenen Rufe der anderen Katzen zu achten.
Strampelnd und spritzend paddelte Stachelfrost auf dem Wasser hin und her, suchte verzweifelt nach Wurzelquell, fand aber keine Spur von ihm. Ist er untergegangen? Sie erinnerte sich daran, wie sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Er war als Schüler in den See gefallen und sie hatte ihn gerettet. Damals hat er solche Angst gehabt … oh, Wurzelquell! Ihr Herz zersprang fast bei der Vorstellung, wie er litt oder sich fürchtete.
Doch Stachelfrost war selbst keine gute Schwimmerin, und bald spürte sie, wie sie immer tiefer im kalten Wasser des Mondsees versank. Wer hätte gedacht, dass er so tief ist? Noch immer hatte sie Wurzelquell nicht gefunden, und nach ein paar Herzschlägen merkte sie, wie ihr die Luft ausging und wie weit entfernt die Oberfläche war.
Entsetzen packte wie eine riesige Kralle nach ihr. Sie strampelte wild und versuchte so, sich nach oben zu schieben, doch das Licht um sie herum wurde immer schwächer und das Leben sickerte aus ihr heraus.
Wird es so enden? Oh nein … was für ein sinnloser Tod, nach allem, was ich durchgemacht habe.
Plötzlich platschte eine dunkle Gestalt neben ihr ins Wasser. Etwas zerrte heftig an Stachelfrosts Genick; es war eine andere Katze, die ihren Körper zur Wasseroberfläche schleppte. Die Katze hievte Stachelfrost aus dem Mondsee und ließ sie unsanft auf dem felsigen Ufer fallen. Der Aufprall katapultierte das Wasser aus ihren Lungen.
Keuchend und prustend drehte sie den Kopf und sah Mottenflügel hinter sich aus dem Wasser springen.
»Ihr dummen Landpfoten«, murmelte sie. »Eine Katze, die nicht schwimmen kann, sollte lieber nicht ins Wasser.«
Mit kräftigen Pfoten drückte die Heilerkatze mehrmals auf Stachelfrosts Brust, worauf die junge Kätzin noch mehr Wasser erbrach.
Schließlich trat Mottenflügel zurück. »Kannst du dich aufsetzen?«
»Ich denke schon.« Stachelfrost stemmte sich trotz ihrer Benommenheit auf die Pfoten, Wasser strömte aus ihrem dichten, grauen Pelz. »Danke, Mottenflügel«, krächzte sie. »Hast du Wurzelquell im Wasser gesehen?«
Mottenflügel schüttelte den Kopf, ihre Augen waren ernst. »Nein«, erwiderte sie. »Da war keine Spur von ihm. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.«
»Genau wie Eichhornschweif!«
Das war Häherfeder. Nun erst bemerkte Stachelfrost, dass sich alle Katzen mit besorgten Mienen um sie versammelt hatten. Sogar Nebelstern und Löwenglut waren dabei; die beiden mussten hier eingetroffen sein, als sie geschlafen hatte.
»Aber Eichhornschweif ist von Aschenpelz ins Wasser gezogen worden«, miaute Blattstern. »Zumindest hat Wurzelquell das erzählt.«
»Wurzelquell ist auch reingezogen worden«, erklärte Stachelfrost. »Jedenfalls glaube ich das. Es sah aus, als würde er gezwungen, ins Wasser zu springen. Und er stritt mit einer Katze – oder mit was auch immer.«
Keine Katze schien zu wissen, was nun zu tun war. Während sie darüber beratschlagten, schüttelte Stachelfrost sich ausgiebig, um ihr Fell zu trocknen. Mit jedem Herzschlag kehrte ihre Kraft zurück, und sie fühlte sich bereit, alles zu tun, um Wurzelquell zu finden – wenn ihr nur jemand sagen würde, was das sein könnte.
Sie kauerte am Rand der Gruppe und lauschte der Diskussion, bis sich die Zweige oberhalb der Senke bewegten. Hasenstern schlüpfte aus dem Gestrüpp, gefolgt von Baum. Blattstern bemerkte die beiden und ging ihnen entgegen.
»Baum, ich muss dir etwas sagen«, fing sie mit sorgenvoller Stimme an.
Beunruhigt sah Baum sich um. »Es geht um Wurzelquell, nicht wahr?«, miaute er sofort. »Wo ist er?«
Bekümmert erklärte Blattstern dem Kater, wie sein Sohn in den Mondsee gezerrt worden und verschwunden war.
Stachelfrost schmerzte es zu sehen, wie sich die Angst und die Verwirrung in den Augen des gelben Katers ausbreitete.
»Ich habe noch nie davon gehört, dass ein Geist zu so etwas fähig wäre«, erwiderte Baum, sobald Blattstern geendet hatte. »Wir wissen alle, was mit Eichhornschweif passiert ist, aber kein Geist war bisher in der Lage, mich zu berühren, ganz zu schweigen davon, mich zu etwas zu zwingen.« Er hielt inne und fügte dann zögernd hinzu: »Ich erinnere mich allerdings, wie zornig die Katzengeister bei der Zeremonie waren, mit der wir Brombeerstern finden wollten. Es war wirklich beängstigend. Wenn einer dieser Geister Wurzelquell in seine Pfoten bekommen hat …«
Ihn schauderte. In seinen Augen stand echte Angst.
Blattstern legte ihren Schwanz kurz auf Baums Schulter, dann schüttelte sie ihr Fell. »Jetzt, wo alle Anführer anwesend sind«, miaute sie forsch, »können wir besprechen, ob wir die Schwestern um Hilfe bitten.«
»Ich finde, das ist ein guter Plan«, stimmte Baum sofort zu, seine Stimme brach fast vor Furcht und Kummer. »Vermutlich sind die Schwestern die einzigen Katzen, die uns jetzt helfen können. Immerhin sind sie mit Wurzelquell verwandt.«
Blattstern nickte. »Außerdem kennen sie Eichhornschweif, weil sie mit Blattsee einige Zeit bei ihnen verbracht hat. Aber weiß eine Katze, wo wir sie finden können?«
»Der DonnerClan müsste wissen, wo sie sind«, erwiderte Graustreif, »weil Minka eine Weile bei ihnen gelebt hat.« Wegen der überraschten Ausrufe, die auf diese Worte folgten, fügte er hinzu: »Das ist eine lange Geschichte, dafür haben wir jetzt keine Zeit. Die Schwestern haben ihr Lager direkt hinter der DonnerClan-Grenze aufgeschlagen. In einer Senke inmitten von Ginster- und Holundersträuchern, wo eine Quelle zwischen zwei Felsen entspringt.«
»Ich glaube, ich weiß, wo das ist«, antwortete Blattstern. »Ich werde hingehen und mit ihnen reden. Die Schwestern kennen mich und vertrauen mir.«
»Gut.« Graustreif wandte sich an Löwenglut. »Du begleitest sie besser – vielleicht hilft es, wenn eine Katze aus Eichhornschweifs Clan dabei ist.«
Die beiden Katzen liefen sofort los. Löwenglut rief den anderen noch schnell über die Schulter zu: »Wir gehen beim DonnerClan-Lager vorbei und holen Mausbart. Er ist damals mit Minka zum Lager der Schwestern gegangen; er weiß genau, wo es liegt.«
Graustreif nickte zustimmend, während Löwenglut Blattstern den gewundenen Pfad hinauf folgte.
Die Sonne war untergegangen und aus der Dämmerung wurde dunkle Nacht. Ein ganzer Tag war bereits vergangen, seit Stachelfrost und die anderen zum Mondsee gewandert waren, trotzdem waren sie ihrem Ziel, ihre Clan-Gefährten zu retten, keinen Schritt näher gekommen. Schattenhelle lag immer noch schlafend am Ufer des Mondsees, neben ihm saß Mottenflügel, die Aufmerksamkeit unverwandt auf seine reglose Gestalt gerichtet.
Hoffentlich geht es ihm gut. Stachelfrost betrachtete den Kater. Er ist jetzt schon so lange im Wald der Finsternis. Wenn die Ältesten uns von den Katzen erzählt haben, die früher zum dunklen Wald gegangen sind, klang es immer so, als wären sie nur über Nacht dort gewesen. Aber das geht jetzt schon so lange. Und Wurzelquell … Es war ihr unerträglich, darüber nachzudenken, was er in diesem Moment vielleicht durchmachen musste.
Die übrigen Katzen diskutierten immer noch darüber, was sie tun sollten, obwohl ganz offenkundig war, dass sie nichts unternehmen konnten – zumindest nicht, bevor die Schwestern eintrafen.
»Wir verschwenden hier nur unsere Zeit«, meinte Graustreif schließlich. »Es ist spät und wir können nicht alle hier am Mondsee schlafen. Vielleicht sollten wir zurück in unsere Lager gehen und uns ausruhen. Morgen werden wir dann schon klarer sehen.«
Zustimmendes Murmeln ertönte. Die meisten Katzen waren sichtlich erleichtert, dass der Kater laut ausgesprochen hatte, was die anderen dachten.
»Ich muss hierbleiben und auf Schattenhelle aufpassen«, wandte Mottenflügel ein.
»Und wir werden ganz sicher nicht von hier weggehen«, fügte Tigerstern hinzu und schlang den Schwanz um Taubenflugs Schultern. »Wir bleiben so lange, bis wir wissen, dass unser Sohn in Sicherheit ist.«
Baum nickte. »Das gilt auch für mich.«
Graustreif erhob sich auf die Pfoten und machte sich bereit, die übrigen Katzen aus der Senke zu führen. Stachelfrost erstarrte, sie fürchtete schon, der graue Krieger würde ihr befehlen, mit ihnen zu kommen. Doch er sagte nur zu ihr: »Du bleibst ebenfalls. Ich möchte, dass auch eine DonnerClan-Katze hier ist.«
»Danke, Graustreif.« Erleichterung durchströmte sie. Es wäre ihr sehr schwergefallen, den Mondsee zu verlassen, solange Wurzelquell in dieser tödlichen Gefahr schwebte. Außerdem könnte Schattenhelle jeden Moment wieder aufwachen und das wollte sie auf keinen Fall verpassen.
»Ich bin froh, dass du hier bist, Tigerstern«, miaute Baum, nachdem die anderen Katzen verschwunden waren. »Und du auch, Taubenflug. Für Eltern ist es nun mal am wichtigsten, ihre Jungen zu schützen.«
»Das stimmt«, pflichtete Tigerstern ihm bei. Seine Stimme klang viel freundlicher, als wäre er Baum freundlicher gesonnen, seit sie beide ein Junges im Wald der Finsternis hatten. »Ich muss zugeben, dass ich mir große Sorgen mache«, fuhr der SchattenClan-Anführer fort, »aber ich muss akzeptieren, was Mottenflügel gesagt hat: dass Schattenhelle auf jeden Fall einen Weg in den Wald der Finsternis gefunden hätte. Er war fest entschlossen, das zu tun.«
»Den Dickkopf hat er von seinem Vater«, murmelte Taubenflug.
»Und welche Katze hat sogar ihren Clan verlassen, um bei dem Kater zu sein, den sie liebt?«, gab Tigerstern zurück.
Die beiden SchattenClan-Katzen sahen sich liebevoll an. Stachelfrost fragte sich, ob sie sich gegenseitig trösten wollten, sich ablenken von der verzweifelten Angst um ihren Sohn. Neid regte sich in ihrem Herzen: Die beiden Katzen waren in verschiedenen Clans geboren worden, so wie Wurzelquell und sie, aber am Ende hatten sie trotzdem zusammengefunden.
Ob das bei uns auch so sein wird?
»Ich vertraue Wurzelquell«, fuhr Baum fort. »Er ist klug und tapfer, und er wird alles tun, um Eichhornschweif und Schattenhelle an diesem grausigen Ort zu helfen. Wenn es sein muss, wird er auch kämpfen – ich hoffe nur, dass das nicht nötig ist.«
»Oh, das hoffe ich auch!«, stimmte Stachelfrost inbrünstig zu und Baum blinzelte sie verständnisvoll an. Vermutlich konnte er die Liebe in ihren Augen sehen.
In diesem Moment wurde sie von einem Rascheln oben an der Senke aufgeschreckt. Mehrere Katzen tauchten nacheinander zwischen den Sträuchern auf. Stachelfrost erkannte die kräftigen Körper und die gesunden, glänzenden Pelze sofort. Ihre Pfoten kribbelten vor Hoffnung bei dem Gedanken, dass endlich die ersten Pfotenschritte zu Wurzelquells und Eichhornschweifs Rettung getan würden.
»Da sind die Schwestern«, rief sie.
Eine der Neuankömmlinge trat auf den Pfad, der zum Wasser führte. Stachelfrost erkannte Schnee, eine große, weiße Kätzin mit blauen Augen.
Die Schwester neigte respektvoll den Kopf. »Darf ich zu euch hinunterkommen?«, fragte sie höflich.
Mottenflügel, die nach wie vor über Schattenhelle wachte, hob den Kopf. »Ja, seid willkommen.«
Schnee tappte den gewundenen Pfad hinunter. Baum erhob sich, um sie zu begrüßen. »Schnee, du musst uns helfen«, miaute er verzweifelt. »Mein Sohn ist in der Geisterwelt verloren. Und Tigersterns Junges auch. Wir haben keine Ahnung, was wir tun können, um sie zurückzuholen.«
Tigerstern musterte die Schwestern mit einem zweifelnden Blick und machte keine Anstalten, Schnee entgegenzugehen. Am liebsten hätte Stachelfrost ihm die Ohren gezaust, aber das durfte sie sich bei einem Clan-Anführer natürlich nicht erlauben, noch dazu bei dem Anführer eines fremden Clans. Dennoch verbarg sie ihre Gereiztheit nicht, als sie vor ihn trat.
»Wurzelquell und Schattenhelle sind meine Freunde«, fing sie an, »und im Moment stehen nur noch sie zwischen uns und Aschenpelz’ finsteren Plänen. Sollten wir da nicht jede Möglichkeit nutzen, um sie zu retten? Selbst wenn wir dazu den Schwestern vertrauen müssen?«
Der zweifelnde Ausdruck in Tigersterns Augen verwandelte sich in Verwirrung, als wüsste er nicht mehr, was er denken sollte. »Na schön!«, fauchte er schließlich. »Aber ich werde sie wie ein Habicht beobachten, darauf kannst du dich verlassen!«
»Du musst dich ausruhen«, meinte Taubenflug sanft und rieb ihre Schnauze an seiner Schulter. »Warum gehen wir nicht zurück zum SchattenClan und erzählen den anderen Katzen, was vor sich geht?«
»Zurückgehen?«, wiederholte Tigerstern. »Du willst Schattenhelle allein hier zurücklassen?«
»Schattenhelle wird bestmöglich umsorgt«, wandte Taubenflug ein. »Mottenflügel wird bleiben und über ihn wachen. Und auch wenn ich Kleefuß voll und ganz vertraue und sie sich bestimmt gut um alles kümmert, fragen sich unsere Clan-Gefährten bestimmt, wo ihr Anführer steckt und was mit Schattenhelle ist.«
Tigerstern war sichtlich hin- und hergerissen zwischen der Erkenntnis, dass seine Gefährtin recht hatte, und dem Wunsch, bei seinem Sohn zu bleiben. »Ich kann ja die Botin sein«, schlug Stachelfrost vor. »Sobald etwas mit Schattenhelle oder Wurzelquell sein sollte, renne ich los und gebe euch Bescheid.«
»Das ist eine gute Idee«, miaute Mottenflügel. Sie verließ ihren Platz neben Schattenhelle und tappte zu ihnen. »Ich schicke Stachelfrost, wenn es Neuigkeiten gibt. Im Moment gibt es keinen Grund für euch zu bleiben.«
Immer noch unsicher, schaute Tigerstern erneut zu den Schwestern hinauf, die sich auf der Kuppe oberhalb der Senke drängten. »Der Mondsee ist ein heiliger Ort«, knurrte er. »Wollen wir wirklich zulassen, dass eine Bande von Streunern ihn betritt?«
Beim Wort »Streuner« sträubte sich Schnees Fell leicht, doch sie sagte nichts dazu.
»Was das betrifft«, meinte Mottenflügel nur trocken, »gab es schließlich auch mal eine Zeit, zu der dir der Zugang verwehrt gewesen wäre.«
»Wir schlagen unser Lager ein Stück entfernt auf«, versicherte Schnee dem SchattenClan-Anführer. »Wir respektieren die heiligen Orte der Clans. Außerdem wird es eine Weile dauern, bis wir Kontakt zu den Geistern aufnehmen und herausfinden können, was zu tun ist.«
»Also komm.« Taubenflug gab Tigerstern einen Stoß. »Alles wird gut.«
Widerstrebend stand er auf und folgte Taubenflug, Schnee tappte hinterher. Nachdem die SchattenClan-Katzen zwischen den Büschen verschwunden waren, zogen sich auch die Schwestern zurück und ließen Stachelfrost mit Mottenflügel und Baum allein. Ohne groß nachzudenken, ließ Stachelfrost sich von ihren Pfoten zum Rand des Mondsees führen und starrte in seine Tiefen. Ich frage mich, was dort unten vor sich geht.
Sie wünschte, sie könnte etwas spüren, irgendeinen Hauch davon, ob es Wurzelquell gut ging, wohin auch immer er verschwunden war. Doch die ruhige Oberfläche, die im Licht des Monds und der Sterne schimmerte, gab nichts preis. Stachelfrost blieb nichts anderes übrig, als weiter zu hoffen, dass Wurzelquell und Schattenhelle unversehrt waren.