Stachelfrost lag auf einem sonnenwarmen Stein am Rand des DonnerClan-Lagers, ihre Augen waren wegen der grellen Sonne zu schmalen Schlitzen verengt. Sie spürte das geschäftige Clan-Leben um sich herum: das Quieken glücklicher, spielender Jungen, die zielstrebigen Pfotenschritte der Krieger, den durchdringenden Geruch des gut gefüllten Frischbeutehaufens.
Es ist alles so friedlich. Und doch … irgendwie fühlt es sich falsch an.
Die Berührung einer rauen Zunge, die ihr über die Schulter leckte, riss sie aus ihren Gedanken. Stachelfrost rollte sich auf den Rücken, schlug die Augen auf und sah ihren Gefährten Wurzelquell neben sich liegen, der sie mit liebevollen, blauen Augen anblinzelte.
Es ist so schön zu wissen, dass er in Sicherheit und alles gut ist. Doch inmitten ihrer Zufriedenheit spürte Stachelfrost einen kalten Windhauch in ihrem Fell. Aber warum bin ich dann so … aufgewühlt?
»Bist du auch am richtigen Ort?«, fragte sie Wurzelquell. »Solltest du nicht woanders sein?«
»Ich bin genau da, wo ich sein will«, schnurrte Wurzelquell beruhigend. »Ich habe mich für den DonnerClan entschieden, weißt du nicht mehr? Ich musste bei dir sein, deshalb habe ich den WolkenClan verlassen.«
Stachelfrosts Unruhe wurde immer größer, trotzdem war es verlockend, sie beiseitezuschieben und die Sonne und ihr Glück über das Leben im DonnerClan mit Wurzelquell zu genießen.
Ich weiß, unser gemeinsames Leben ist schön. Er ist glücklich. Ich bin glücklich. Wo ist das Problem?
Wurzelquells Vater Baum tappte durch das Lager, sein gelber Pelz schimmerte im Sonnenlicht. »Sei gegrüßt, Stachelfrost«, miaute er und setzte sich auf die Kante des Felsens, auf dem sie neben seinem Sohn lag.
»Sei gegrüßt«, murmelte Stachelfrost als Antwort und fragte sich gleichzeitig, was der WolkenClan-Kater im Felsenkessel des DonnerClans zu suchen hatte.
»Habe ich dir nicht gesagt, dass ihr beide zusammengehört?«, fragte Baum voller Zuneigung. »Worüber machst du dir Sorgen? Mein Sohn hat sich für dich entschieden. Hast du dir das nicht immer gewünscht?«
»Ich weiß es immer noch nicht«, gestand Stachelfrost und drang damit an die Wurzel ihrer Unruhe vor. »Ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist, und ich hätte nie gedacht, dass Wurzelquell diese Wahl treffen würde. Ich dachte … ich dachte, wir würden beide unsere Clans zu sehr lieben, um uns zu ändern …« Sie schüttelte den Kopf, es fühlte sich an, als wären ihre Gedanken voller Distelwolle. »Warum kann ich mich nicht erinnern?«
Sie spürte Wurzelquell neben sich liegen, so dicht, dass ihre Pelze sich berührten, und doch war sie fest davon überzeugt, dass er sehr weit weg war. Sie konnte ihn sehen, aber ihre Brust schmerzte vor Furcht, als würde sie nach ihm suchen und könnte ihn nicht finden.
Was geht hier vor? Panik stieg in ihr auf. Warum bin ich so besorgt, so voller Angst, dass mir schon ganz schlecht ist? Warum fühlt sich dieser glückliche Moment an wie etwas, das ich niemals haben werde?
Anstatt die Nähe zu dem Kater, den sie mehr als jede andere Katze liebte, zu genießen, hatte Stachelfrost das Gefühl, ihr Glück wollte sie verspotten, sie hänseln wie ein Feind, der sie einen kurzen Herzschlag lang entkommen ließ, nur um dann doch wieder mit ausgestreckten Krallen nach ihr zu greifen.
Die Angst und die Unruhe in ihr wurden stärker, gleichzeitig verschwand das Sonnenlicht und Stachelfrost spürte keine anderen Katzen mehr um sich herum. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie nicht mehr im Lager war, sondern in einem kalten, dunklen Wald, dessen Bäume sich bedrohlich um sie drängten. Als sie sich nach Wurzelquell und Baum umsah, waren auch sie verschwunden.
Mit einem Schaudern, das sie bis zu den Krallenspitzen erschütterte, erkannte Stachelfrost, dass das ein Traum war. Das glückliche Leben mit Wurzelquell als Gefährte würde niemals Wirklichkeit sein. Stattdessen hatten die Angst um ihn und die Sorge um eine mögliche gemeinsame Zukunft ihr einen Pfad in den Wald der Finsternis gebahnt.
Mottenflügel hatte recht. Stachelfrost erzitterte vor Angst. Ich habe den Wald der Finsternis zu mir gelockt.
»Wurzelquell! Wurzelquell!«, rief sie laut, aber es kam keine Antwort. Stachelfrost hatte sich nicht wirklich ausmalen können, wie der Wald der Finsternis wohl aussah, aber sie hatte ihn sich wie eine Art dunkles Spiegelbild von dem Wald, den sie kannte, vorgestellt. Doch hier war ihr nichts vertraut.
Sie hielt inne, unsicher, was sie nun tun sollte, da hörte sie plötzlich ein verängstigtes, wütendes Jaulen ganz in ihrer Nähe. Der Klang ließ ihr Blut zu Eis gefrieren, trotzdem rannte sie in diese Richtung. Sie duckte sich unter einem Busch hinweg und wich einer dicken Eiche mit knorrigen Wurzeln aus, die sich ihren Pfoten wie Schlingen in den Weg zu legen schienen.
Als sie aus dem Schatten der Eiche auftauchte, fand sie sich am Rand einer kahlen Fläche wieder, die bis zum Ufer eines dunklen Sees reichte. Neben dem Wasser umkreisten sich zwei Katzen mit gesträubtem Fell und peitschenden Schwänzen. Entsetzen durchfuhr Stachelfrost wie ein Blitzschlag, als sie Eichhornschweif und Brombeerstern erkannte, den echten Anführer ihres Clans und seine Gefährtin und Zweite Anführerin. Es sah ganz so aus, als würden sie sich gleich angreifen.
»Oh nein!«, flüsterte sie laut. »Das kann nicht sein!«
Hinter den beiden Katzen ragte eine schlammige Insel in der Mitte des Sees aus dem Wasser. An ihrem Ufer stand eine Reihe von Geistern, die den Kampf mit leeren, gespenstischen Augen beobachteten. Stachelfrosts Entsetzen wurde noch größer, als sie einige von ihnen erkannte.
Ihr erschrockener Blick richtete sich auf einen rot-weißen Kater. Ist das nicht … Zweigblatt? Ihr Herz blieb beinahe stehen, als sie den toten Geist der Katze sah, die sie einst geliebt hatte, ein guter Freund und Clan-Gefährte, der nun an diesem fürchterlichen Ort gefangen war. Auch Rosenblatt war dort; es schmerzte Stachelfrost zutiefst, dass sich ihre frühere Mentorin nicht dem SternenClan anschließen konnte. Außerdem entdeckte sie noch den ehemaligen Zweiten Anführer des Betrügers, Beerennase, und andere Katzen, die zu Lebzeiten tapfere und loyale Krieger gewesen waren. Sie alle waren im Kampf gegen den Betrüger gefallen. Aschenpelz hatte die Clans fast zerstört und nun hielt er die Geister der Toten im Wald der Finsternis gefangen. Was für eine grausame Bestrafung …
Stachelfrost riss ihren Blick von der Insel und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf ihren Clan-Anführer und die Zweite Anführerin. In ihrer Nähe stand noch eine weitere Katze, ein grauer Kater, den sie nie zuvor gesehen hatte, und beobachtete ausdruckslos, wie Brombeerstern sich auf Eichhornschweif stürzte und mit gebleckten Zähnen ihre Kehle anvisierte.
Wer ist diese Katze? Stachelfrost blinzelte verwundert. Es sieht fast so aus, als würde er sie zwingen, gegeneinander zu kämpfen.
Sie sah sich unter den anderen Katzen um. Keine beachtete sie oder reagierte auf ihre Anwesenheit. Heißt das, sie können mich nicht sehen? In den Erzählungen ihrer Mutter über den Wald der Finsternis hatte es so geklungen, als hätte sie sich mit einem einfachen Schwanzschnippen dorthin befördert – sie konnte dort alles tun, was sie auch im echten Leben tat: jagen, kämpfen, sprechen. Stachelfrost dagegen hatte das unheimliche Gefühl, für die anderen unsichtbar zu sein. Aber das ist vielleicht ganz gut so. Es ist bestimmt besser, wenn sie mich nicht bemerken.
Eichhornschweif hatte sich weggeduckt, um Brombeerstern auszuweichen, der ihr die Kehle zerfetzen wollte. Auf einmal stieß die dritte Katze ein erstauntes Jaulen aus und fuhr herum. Eine kleinere Katze schlich an ihn heran, den Bauch dicht am Boden, als würde sie sich an Beute anpirschen.
Schattenhelle! Was macht er da?
Die junge Heilerkatze spannte kampfbereit die Muskeln an, doch bevor er angreifen konnte, schlug der graue Kater mit der Pfote zu und verpasste ihm einen harten Schlag gegen den Kopf.
Sobald die fremde Katze abgelenkt war, stolperte Brombeerstern und hielt mitten in der Bewegung inne. Entsetzt brach er seinen Angriff auf Eichhornschweif ab, als hätte er die Kontrolle über sich zurückerlangt.
Die andere Katze muss Aschenpelz sein … Stachelfrost blinzelte überrascht beim Anblick des Betrügers. In der lebenden Welt hatte sie ihn immer nur in der kräftigen, dunkel getigerten Gestalt von Brombeerstern gesehen.
Bestimmt greift Schattenhelle Aschenpelz an, um Eichhornschweif und Brombeerstern zu retten … Dann bin ich gerade rechtzeitig gekommen! Ich muss Schattenhelle helfen!
Sie holte Luft, um ihm etwas zuzurufen, da drehte Aschenpelz sich um und richtete seinen bösartigen, blauen Blick direkt auf sie. Stachelfrost fuhr erschrocken zusammen. Oh nein. Kann er mich etwa doch sehen?
Wie um ihre Frage zu beantworten, sagte Aschenpelz: »Ja, ich sehe dich, meine treue junge Kriegerin!«
Stachelfrost erschauderte bei der Erinnerung an die Monde, in denen sie ihm erst gedient und später gegen ihn intrigiert hatte, damals, als sie ihn noch für Brombeerstern gehalten hatte. Dann drehte Schattenhelle sich ebenfalls zu ihr, und als ihre Blicke sich trafen, wurde um sie herum alles schwarz.
Stachelfrost schlug die Augen auf und fand sich in der lebenden Welt wieder, neben dem Mondsee, wo sie eingeschlafen war. Die Sonne war aufgegangen, es war ein sonniger, windiger Tag und die Wolken jagten sich über den Himmel.
»Wurzelquell! Schattenhelle!«, rief sie heiser und stemmte sich auf die Pfoten. Einen Moment lang konnte sie nicht glauben, dass sie ihre Verbindung zu diesem trostlosen Wald verloren hatte.
Dann entdeckte sie Baum und Mottenflügel, die sich am Ufer des Mondsees leise unterhielten und dabei besorgte Blicke wechselten. Obwohl sie sich darüber freute, dass sie Schattenhelle helfen konnte, breitete sich eine tiefe Enttäuschung in ihr aus, weil sie die Gelegenheit, Wurzelquell zu retten, vertan hatte. Ich bin dorthin, weil ich mit ihm reden wollte, und ich habe ihn nicht mal gesehen!
Stachelfrost richtete sich auf und tappte zu den anderen Katzen. Geht es Schattenhelle gut? Beim Näherkommen bemerkte sie, dass die Beine des jungen Heilers, der neben den beiden lag, im Schlaf fürchterlich zuckten.
»Ich war im Wald der Finsternis!«, keuchte sie. »Ich habe gesehen, wie er gegen Aschenpelz gekämpft hat.« An Mottenflügel gewandt fügte sie hinzu: »Er ist kein ausgebildeter Krieger. Es war sehr gefährlich für ihn, diesen räudigen Flohpelz anzugreifen. Wird er das überstehen?«
Plötzlich verkrampfte sich Schattenhelles Körper, als würde er von einer unsichtbaren Pranke zerfleischt. Gemeinsam mit Mottenflügel beobachtete Stachelfrost entsetzt, wie lange Risse an Schattenhelles Ohr erschienen, dann öffnete sich eine klaffende Wunde an seinem Bein und Blut strömte auf die Felsen.
Bestürzung blitzte in Mottenflügels Augen auf, doch sie blieb ruhig und streckte nur die Pfote aus, um Schattenhelle an der Schulter festzuhalten, damit er nicht ins Wasser rollte. Im gleichen Moment riss Schattenhelle seine bernsteinfarbenen Augen auf, und sein Maul öffnete sich zu einem gellenden Schmerzensschrei, der laut zwischen den Felsen am Mondsee widerhallte.