Kapitel 1

München, Altstadt

Die Drohne surrte wie ein gieriger Zahnarztbohrer über die Münchner Altstadt. Zielstrebig bewegte sie sich über den Hausdächern Richtung Hotel Bayerischer Hof. Dort fand die jährliche Münchner Sicherheitskonferenz statt, auf der Politiker und Vertreter aus Wirtschaft und Militär über Weltpolitik verhandelten. Diesmal sollte es anders kommen: Die Bombe war scharf, die Leitung gehackt und das Ziel in Sichtweite.

Die Drohne manövrierte über die kahlen Bäume am Promenadeplatz, verharrte für einen Moment in der Luft und hielt dann auf die Fassade des Bayerischen Hofs zu. Die rote LED auf der Unterseite blinkte hektisch.


Danny Erichsen konnte das Gerede der Versammelten nicht mehr hören. Er musste aufs Klo, hatte Hunger, seine Beine brannten vom stundenlangen Stehen, und er schwitzte unter der kugelsicheren Weste. Die Heizung war aber auch auf höchste Stufe aufgedreht, damit diese wichtigen Menschen ja nicht froren. Das hätten sie auch ohne Heizung und mit offenen Fenstern nicht getan; die zwölf Teilnehmer debattierten so hitzig miteinander, dass Danny immer wieder irritiert aufblickte, wenn jemand mit der Faust auf den Tisch schlug. Es ging seit Stunden um Energiesicherheit, um die Gefahr, dass Europa weiter ins energiepolitische Abseits schlitterte. Man diskutierte über die geopolitischen Turbulenzen zwischen den USA und Iran, um die Zusammenarbeit zwischen Teheran und China, über Flüssiggas aus dem Persischen Golf, um den Protektionismus der Chinesen, ihr Doppelspiel mit den Japanern und die Rolle Russlands als Ordnungsmacht im GUS-Raum.

Hans-Peter Schneider, irgendein Vorstand eines Energieversorgerkonglomerats, sagte zum gefühlt fünfzigsten Mal, dass mit der energiepolitischen Inkohärenz in der EU endlich Schluss sein müsse. Man verlöre die Attraktivität als Handelspartner, was wiederum das Wachstum hemme.

Danny unterdrückte ein Seufzen. Er hatte sich nie für Außenpolitik interessiert, schon gar nicht für Energie- und Klimapolitik. Dabei ging es immer nur um Gewinn, Gewinn, Gewinn und nicht ums Klima. Jeder wollte nur das Beste für sich. Klar, für ihn als fünfunddreißigjährigen Beamten beim Mobilen Einsatzkommando zählte auch nur, welche Partei die Beamtenbesoldungen anhob und mehr Personal einstellte, um endlich Schluss mit dem immensen Berg an Überstunden zu machen, aber es änderte sich seit Jahren nichts. Immerzu hörte er nur leere Versprechungen. Wenn es nach ihm ginge, könnte man alle Politiker in einen Sack stecken und mit einem Knüppel draufhauen; man träfe immer die Richtigen.

Schneider sagte: »Die Inkohärenz, meine Damen und Herren! Die EU muss geschlossen auftreten! Ich wiederhole noch einmal: Lasst uns eine Allianz mit Japan schmieden, um auf den Weltenergiemarkt einzuwirken. Lasst uns …«

»Japan?!«, ging ein Politiker namens Moran dazwischen. »Das ist nicht Ihr Ernst? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, Herr Schneider, was dann los ist?«

»Sehr wohl.«

»Ich glaube nicht. Wie soll uns eine Zusammenarbeit mit Japan stärken? Die aktuelle Regierung zeigt offen ihre Ablehnung gegenüber China. Forcieren wir eine Kooperation mit einem Feind , rutschen wir sofort auf Chinas Abschussliste.«

Schneider funkelte grimmig über den runden Tisch. »Haben Sie eine bessere Idee, Herr Moran?«

Danny schaltete wieder auf Durchzug und suchte Jennys Blick. Seine Kollegin lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand auf der anderen Seite des Konferenzraums, die Daumen in den Gürtel gehakt. Er beneidete sie, jede Gelegenheit zum Dösen nutzen zu können. Zwar hätte er sie wegen dieser Nachlässigkeit als ihr direkter Vorgesetzter ermahnen müssen, aber was sollte hier schon passieren? Das Hotel Bayerischer Hof glich in den Tagen der MSC einer Festung. Da kam niemand unkontrolliert rein oder raus. Jede Person, jede Aktentasche, jeder Brief wurde untersucht und durchleuchtet. Dass das MEK während der Verhandlungen zusätzlich für Sicherheit sorgte, war eine Farce, damit sich der Herr Innenminister hinterher mit vor Stolz breiter Brust vor die Presse stellen und verkünden konnte, wie erstklassig seine Beamten doch alles im Griff gehabt hatten. Der Innenminister, der alte Hengst. Konnte nicht mal für Dienstausweishüllen und Handfesseltaschen sorgen, geschweige denn bequeme Dienstunterwäsche, in der man nicht schwitzte wie ein Schwein, aber ja … lief doch!

Danny ging die paar Schritte zum Fenster, um etwas Bewegung in seine tauben Beine zu bekommen. Draußen dämmerte es. Der Wind trieb einzelne Schneeflocken über den Promenadeplatz. Liegen blieben sie nicht, für Februar war es viel zu warm. Danny war diesen Winter kein einziges Mal beim Boarden gewesen. Eine Schande. Aber dafür würde er die Motorradsaison schon früh einläuten. Dann konnte er seine Honda aus dem Winterschlaf erwecken und losdüsen. Die erste Tour würde ihn zum Felchenessen nach Lindau am Bodensee führen, und dann weiter die Silvretta-Hochalpenstraße hinauf. Vierunddreißig schlaglochfreie Kehren inmitten herrlicher Bergkulisse mit Blick auf den Piz Buin. Das war Freiheit. Was Besseres gab es nicht.

Was nicht ganz stimmte. In drei Monaten wurde Danny Vater. Das war das Beste, was ihm passieren konnte; er freute sich wahnsinnig auf das Kind mit Rike. Er liebte sie über alles, sie waren seit fast zehn Jahren ein Paar. Da war der Nachwuchs überfällig, und doch … eine leise Stimme wisperte Danny Zweifel ins Ohr: Dann ist Schluss mit deiner Freiheit. Dann war’s das mit Motorradtouren, mit Boarden, mit Klettern, mit Alpenüberquerungen und langen Nächten in den Münchner Bars und Clubs. Dann heißt es, um sieben das Baby ins Bett bringen und danach Wäsche waschen, vorkochen, putzen, bis du hundemüde ins Bett fällst, nur um am Morgen wieder zu deinem langweiligen Bürojob zu fahren. Ja, dann ist da nichts mehr mit MEK und waghalsigen Einsätzen. Dann heißt es Sesselfurzen im Innendienst. Kripo oder so. Dann ist dein Leben vorbei, Danny Erichsen. Dann war’s das.

Danny erschauderte. Diese Gedanken waren ihm nicht fremd. Er hatte einige Bücher und Blogs über das Elternwerden gelesen, darunter auch einen sehr kritischen Blog einer Mutter. Sie berichtete schonungslos, wie drastisch sich das Leben veränderte. Alles drehte sich nur noch um das Kind, die Partnerschaft blieb da meist auf der Strecke. Wann auch Zweisamkeit genießen? Mit dem Kind quer im Bett? Kurz zwischen Zahnseide und Schlafanzug am Waschbecken? Mit blutigen Brustwarzen und monatelang schmerzenden Narben von den Geburtsverletzungen? Danny musste sich eingestehen, dass er sich einerseits wahnsinnig auf das Kleine freute, andererseits richtig Schiss vor der Veränderung hatte.

Hans-Peter Schneiders polternde Stimme riss Danny aus seinen Gedanken: »Verdammt noch mal! Wir brauchen politische Stabilität in den Produzenten- und Transitregionen. Wie soll das sonst gehen? Was Sie sagen, ist inkohärent! Inkohärent! «

Und ich bald inkontinent, wenn ich noch länger rumstehe. Danny überlegte, wie er Jennys Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte, um sich für einen Toilettengang abzumelden, als er draußen eine Bewegung wahrnahm. Eine dieser dreisten Krähen flog direkt auf das Fenster im sechsten Stock zu. Verfluchte Biester. Doch halt, warum flog das Ding so zielstrebig?

Das war kein Vogel, sondern eine Drohne mit einer seltsamen Kugel auf der Unterseite. Sie blieb keinen Meter von Danny entfernt in der Luft stehen. Die Schneeflocken wirbelten um die Rotoren. Eine rote LED blinkte hektisch.

»Scheiße!«, sagte er mehr zu sich selbst, dann schrie er: »In Deckung! Alle auf den Boden! RUNTER!«

Noch im Sturz aktivierte er das Funkheadset. »607 an Zentrale, 607 an Zentrale! Mutmaßlicher Drohnenangriff auf Zimmer …«

Vor dem Fenster blitzte es tiefrot auf, und Danny wappnete sich für die Explosion. Die Scheiben der Sprossenfenster würden bersten und die Scherben wie Rasierklingen ins Zimmer regnen. Wahrscheinlich war es eine Splittergranate, dann würden noch tödliche Metallsplitter hinzukommen. Ein hässlicher Tod.

Doch die Scheiben barsten nicht. Sie klirrten nicht einmal. Nur die Lichter im Saal gingen flackernd aus, und Danny spürte ein mittelstarkes Schmerzempfinden auf der Haut, als hätte er für einen Moment starken Sonnenbrand.

Hans-Peter Schneider jammerte: »Mama!«

Eine Frau wimmerte.

Danny richtete sich wieder auf, seine SIG in der Hand. Er spähte hinaus in die Abenddämmerung, doch von der Drohne war nichts mehr zu sehen. Nach und nach erhoben sich die Teilnehmer der Runde vom Boden und setzten sich verwirrt zurück an den runden Tisch.

Es knackte im hotelinternen Intercom. Aus dem Deckenlautsprecher drang ein Knistern wie von einer alten Schallplatte. Dann folgte Musik.

Im ersten Moment fühlte sich Danny an Pink Floyds Welthit »Another Brick in the Wall« erinnert, doch die Musik war anders, disharmonisch, traurig, hatte einen seltsamen Rhythmus, klang irgendwie synthetisch.

Jemand fragte: »Was soll das?«

Das interessierte Danny auch. Irgendwas ging vor sich, er spürte es tief in sich drin. Da war etwas, das …

Er schüttelte sich wie ein nasser Hund und aktivierte erneut die Funkübertragung, aber es drang nur monotones Rauschen aus dem Ohrhörer. Er klopfte auf das Gerät, vielleicht waren die Akkus durch den Sturz verrutscht, als er das charakteristische Knacken einer SIG hörte, die geladen wurde.

Er wandte sich zu Jenny um. Seine Kollegin lehnte immer noch an der Wand. Im schummrigen Licht erkannte er, dass sie ihre Pistole in der Hand hielt. Sie betrachtete sie wie einen Fremdkörper, dann steckte sie sich den Lauf in den Mund.

Danny riss die Augen auf. »Jenny!?«

Ihr Blick flatterte zu ihm, seltsam entrückt, dann drückte sie ab. Ihr Gesicht verschwand hinter einer fahlen Sonne, und Blut und Gehirn spritzten gegen die Wand.

Danny stockte das Herz. Da trat Hans-Peter Schneider vor ihn, mit dem gleichen Ausdruck in den Augen wie Jenny. Er öffnete das Fenster und stieg aufs Sims.

»Hey! Was wird das?« Danny war völlig entgeistert.

Schneider gab ihm keine Antwort. Sein Kehlkopf hüpfte auf und ab, dann sprang er hinaus. Danny griff noch nach ihm, doch seine Finger glitten am edlen Zwirn des Anzugs ab. Der Vorstand verschwand lautlos in der Tiefe. Es klatschte dumpf.

»Nein!«, wisperte Danny. »Nein, nein, nein!« Er fuhr sich durch die schweißnassen Haare und wandte sich den restlichen Versammelten zu. Was ging hier vor?

Immer noch lief diese komische Musik, und mit einer Wucht übermannte Danny eine Woge abgrundtiefer Sinnlosigkeit. Was machte er hier? Wofür bitte lebte er? Warum sollte er seine Freiheit opfern? Warum ein Kind in diese beschissene Welt mit beschissenen Perspektiven setzen? Wozu war das alles gut?

Er sah, wie eine Frau auf Jennys Leichnam zukroch und ihr die Pistole aus der Hand nahm. Dann verfolgte er ein drittes Mal, wie sich jemand selbst liquidierte, diesmal mit einem Schuss in die Schläfe. Niemand schien davon Notiz zu nehmen.

Moran kletterte wie Schneider aufs Fenstersims und sprang, wobei die Krawatte wie ein Kometenschweif über seinem Kopf flatterte.

Danny konnte gar nicht so schnell reagieren, war wie in Trance. Wieder ein anderer knüpfte sich aus seiner Krawatte einen Strick und band ihn am Türgriff fest. Daran ließ er sich zu Boden sinken. Die gestreifte Krawatte spannte sich, zog sich fest um den Hals des Mannes, dem die Augen aus dem Schädel quollen.

Und immer noch lief dieses Lied.

Danny kamen die Tränen. Es war alles so sinnlos. Was machte er hier? Warum passte er auf Vollidioten auf? Warum freute er sich auf eine Motorradfahrt durch die Berge? Das war alles so unbedeutend, so kindisch, so dumm. Jeder Atemzug verschwendete Mühe. Und warum eigentlich ein Kind kriegen? Was konnte er denn bitte einem Kind bieten? Er war ein einfacher Polizist, und Rike …

Danny fand sich auf dem Fenstersims wieder. Der Wind zerrte an seiner Uniform. Schneeflocken schmolzen auf seinen Wangen.

Seine Finger glitten über den Fensterrahmen, als er sich ins Freie schob. Das äußere Sims aus Titanzink knirschte unter seinen einhundert Kilo. Sechs Stockwerke unter ihm lagen Schneider und Moran auf dem feucht schimmernden Fußweg. Unter Schneider breitete sich eine Blutlache aus, und Morans Kopf war so unnatürlich zur Seite geknickt, dass er wie eine Puppe aussah, der ein zorniges Kind den Kopf umgedreht hatte. Zwischen ihnen erspähte Danny die Überreste der Drohne.

Sie war der Grund für diesen Wahnsinn. Was für eine Drohne war das gewesen? Eine fliegende Bombe, nur ohne Explosion? Und dann dieses Brennen auf der Haut. War das eine E-Bomb gewesen, ein starker elektromagnetischer Impuls, um Elektrotechnik auszuschalten? War deswegen das Licht ausgegangen?

Fragen über Fragen, aber eigentlich war es ihm gerade völlig egal. Sein Leben war ihm völlig egal. Dass er Vater wurde, war völlig egal. Alles war egal. Scheißegal.

Danny sah noch einmal die sechs Stockwerke hinab, dann stürzte er sich kopfüber aus dem Fenster.