Kapitel 15

Berlin, Konradshöhe
35:31:20

Bei Gott! Ich dachte, unsere Welt geht unter. Meine Kinder weinen immer noch.

@Beatrice182, Twitter


Der Jüngste Tag bricht an! Rettet euch!

@HolgerMay, Twitter


So eine abgefahrene Story hätte ich mir nicht ausdenken können.

@TimoLeibig, Twitter

Ella Kotaskas Herz hämmerte. Mit zitternden Fingern unterbrach sie den Videostream und stoppte den Gesichtsfake. Mithilfe einer auf deep learning basierenden App, die sie entwickelt hatte, wurde aus jedem x-beliebigen Gesicht ANOD. Früher hatte sie an neuronalen Netzen gearbeitet und mit ihren Software-Applikationen für Computer dabei geholfen, Gesichter digital zu rekonstruieren und zum Leben zu erwecken. Ihre Hauptabnehmer waren Filmstudios gewesen, bis die Technik dank leistungsstarker Handys Einzug in den Mainstream gehalten hatte. Leider waren ihre Apps dann missbraucht worden; man hatte Gesichtsfotos prominenter Frauen genommen und damit Pornos neu gerendert. Plötzlich trieben es Emma Watson, Angelina Jolie und Angela Merkel ungehemmt vor der Kamera. Ella war damals zutiefst schockiert gewesen, dass man ihre Arbeit so missbrauchte. Es war ein Schlag ins Gesicht gewesen, mit einem gewaltigen Hammer.

Mit BlueSkys Tod hatte sie auch nicht gerechnet. Wieder zitterten ihre Finger, und in ihrer Brust breitete sich eine Enge aus, die bis in den Hals ausstrahlte. Sie stieß keuchend die Luft aus, drückte sich am Kehlkopf herum. »Bleib ruhig!«, krähte sie. »Bleib ganz ruhig!«

Sie rollte samt Bürostuhl zurück zu ihrer Workstation und rief den abgesicherten ANOD-Chat auf. Dort schrieb sie mit zitternden Fingern: Habt ihr das Foto gesehen? Was war das? Rio? Sky? SKY!

Sky antwortete nicht, und für einen Moment bekam Ella Panik, sie könnten alle tot sein. Sie atmete schwer, räusperte sich und bemerkte dann, dass Ramsay eine Antwort tippte. Gleichzeitig jaulte das Signal für eine eingehende Videokonferenz los. Anrufer: deejayy .

Ella nahm den Videocall entgegen. »Tom! Fuck! Hast du das eben gesehen?«

Tom war auch kreidebleich, und es lag nicht an der miesen Beleuchtung. »Klar! Können wir das verifizieren?«

»Keine Ahnung.«

Ramsays Nachricht ploppte auf: Habe versucht, Sky zu erreichen. Negativ. Kann ihn nicht mal anpingen. Er ist seit circa sechs Stunden offline, war davor nur ganz kurz im Knoten.

»Wie es die Journalistin gesagt hat.« Ella spürte, wie ihr wieder der Brustkorb eng wurde, sodass sie kaum Luft bekam. »Und jetzt?«, krähte sie. »Tom? Was machen wir jetzt?«

»Erst mal ruhig bleiben. Wir wissen zu wenig. Es ist wahrscheinlich nur ein Versuch der Regierungen, uns zu verunsichern. Weißt du, wie Sky aussieht? Ich weiß es nicht, ich wusste bis eben nicht mal, wie er mit richtigem Namen heißt. Und selbst wenn: Die Leiche könnte jeder sein.« Er tippte gleichzeitig eine Nachricht in den Chat: Können wir Skys Tod verifizieren?

Selina antwortete darauf: Ich scanne schon die Nachrichtenportale. Dauert.

»Tom?«

»Ja.«

»Was, wenn sie uns schon auf die Schliche gekommen sind?«

»Dazu müssten sie unsere Identitäten kennen! Und die kennt niemand.«

@Ramsay: Wurde ANOD angegriffen?

Ramsay: Nein. Keine Angriffe, keine Exploits, keine Interrupts, keine Anomalien, nichts. ANOD ist safe.

»Siehst du«, sagte Tom über den Videochat. »Du brauchst dir keine Sorgen machen, wahrscheinlich ist es ein Fake. Die wollen nur, dass wir etwas Unüberlegtes tun.«

Ella war nicht so überzeugt. »Du hast leicht reden in deinem Bunker.«

Tom verzog den Mund. »Willst du rüberkommen? Platz hätte ich genug und Lebensmittel auch.«

»Und meine Workstation?«

»Kannst du hier anschließen. Glasfaserstandleitung. Reicht für uns beide.«

Ella tippte mit den Fingern auf der Tastatur herum. Der Gedanke war verlockend. Tom und sie kannten sich seit Jahren, waren sich bei einem Treffen des Chaos Computer Clubs in Berlin über den Weg gelaufen. Seitdem pflegten sie eine angenehme Freundschaft, die aus zwei- bis dreimal pro Jahr essen gehen und regelmäßigen Telefonaten bestand. Und ab und zu einem Clubabend, wo Tom auflegte. Ella war sich auch sicher, dass Tom mehr wollte, aber dazu war er ihr zu sprunghaft. Heute fand er die Blonde gut, morgen die Brünette, übermorgen die Schwarzhaarige.

»Du kannst echt kommen«, versicherte er. »Hier sind wir safe. Übrigens: Du warst spitze auf der Konferenz. Ich hab hier nebenbei auch die Suchtrends offen. Wir sind mittlerweile weltweit auf Platz eins. Überall Ausreißer. Bald kennt jeder ANOD, und dann geht’s ab. Dann kommen die Pisser nicht mehr an einem neuen Klimaschutzabkommen vorbei. Die Revolution läuft, Ella!«

Ella spürte wenig Begeisterung. Vor ihrem inneren Auge sah sie immer noch die grausige Brandleiche mit dem zu einem angsterfüllten Schrei verzerrten Mund. »Ich glaub, ich fahre wirklich rüber.«

»Mach das. Echt kein Ding.«

Ein Geräusch drang aus dem Flur, und Ella fuhr auf ihrem Drehstuhl zur Tür herum.

Tom war sofort alarmiert. »Was ist?«

»Ich weiß nicht. Hab was gehört.«

»Bei dir im Haus?«

»Ich glaub schon.« Ella stand langsam auf. Ihr Bürostuhl knarrte.

»Was machst du?«, fragte Tom. »Wo gehst du hin?«

»Nachsehen, verdammt! Wahrscheinlich ist es nur wieder Toni.«

»Die Nachbarskatze?«

»Jo. Seit ich ihm einmal Sahne hingestellt habe, kommt er jeden Tag. Bleib bitte dran, Tom. Nur für den Fall.«

»Geht klar!«

Ella erreichte die Tür ihres Büros im Erdgeschoss. Das Klirren von Glas schnitt durch die Stille des Einfamilienhauses. Es kam von der Kellertreppe am Ende des Flurs. Ella wandte sich noch einmal ihrer Workstation zu und signalisierte in die Webcam, dass sie den Raum verließ und dass Tom leise sein sollte. Sein blasses Gesicht auf dem Monitor nickte.

Ella holte sich in der Küche ein Messer, zwanzig Zentimeter japanischer Spezialklingenstahl. Mit der Waffe in der Hand schob sie sich Schritt für Schritt über das Parkett zur Kellertür. Die Nachbarskatze war tatsächlich schon mal durch ein gekipptes Kellerfenster hereingeschlüpft und hatte Vorratsgläser von einem Regal geworfen.

Ella erreichte die Tür zum Wohnzimmer. Dort waren die Rollläden nicht heruntergelassen, und so fiel ein silbrig goldener Streifen Morgenlicht über dem Bambus im Garten herein, der die Tatami-Matten und den Kotatsu in helles Licht tauchte. Oft lag sie unter der Matte des beheizten Tisches und blickte hinaus in den Himmel. Ella hatte sich mit dem Haus und dem japanischen Wohnzimmer ihre Oase des Friedens geschaffen. Dort hatte sie auch entschieden, bei ANOD zu partizipieren. Die Welt könnte ein so wundervoller Ort des Friedens sein, wenn der Mensch nur im Einklang mit ihr leben würde.

Das Quietschen des Kellertürgriffs fuhr Ella durch Mark und Bein. Sie blieb keine zwei Meter von der Tür entfernt stehen, das Messer stoßbereit erhoben, und beobachtete, wie sie langsam aufgedrückt wurde.

Ella hätte beinahe vor Panik losgeschrien, bekam sich aber in den Griff. Geräuschlos schlich sie zurück. Sie musste ins Büro, die massive Eichentüre versperren, dann konnte sie Hilfe rufen.

Sie war auf Höhe der Küche, als ein Schatten aus dem Keller in den Flur trat. Die schlanke Frau trug einen schwarzen Mantel. Der Lauf einer Pistole richtete sich auf Ella.

Die fragte verwirrt: »Selina?«

Als Antwort erblühte der Lauf der Waffe.