Berlin, Chausseestraße
18:33:34
München. Die Polizei hat zum Angriff geblasen. Auslöser war ein faustgroßer Stein mit der Aufschrift KLIMA. Er traf einen Polizisten an der Schulter, woraufhin seine Kollegen losstürmten. Aktuell ist die Lage unübersichtlich. Es droht eine unerbittliche Straßenschlacht. Flaschen fliegen, Autos brennen, Wasserwerfer und Schlagstöcke sind im Dauereinsatz. Die Bilder lassen einem den Atem stocken. Die Polizei spricht von einer »nicht mehr beherrschbaren Lage«. Mit einer Entspannung der Lage ist vorerst nicht zu rechnen, im Gegenteil: Auch London, Köln und Dublin melden erste Zusammenstöße.
Olaf Kraus, RTL aktuell
»Ramsay?« Valerie musterte abwechselnd den Computer, Alma und die mit Silber bedampfte Coladose. Nach der griff sie schließlich und suchte das Mindesthaltbarkeitsdatum. Es war auf den unbedampften Boden aufgedruckt und lag drei Monate in der Zukunft. »Woher hast du die bitte gezaubert?«
Aus Peters Haus, hätte sie sagen wollen, doch stattdessen antwortete sie: »Du willst es nicht wissen.«
»Das glaub ich auch!« Valerie stand auf, strich sich durch die Haare. »Alma!«
»Bleib ruhig.« Sie stand ebenfalls auf, steckte die Dose in ihre Jackentasche und kappte Klingenbergs Rechner den Strom. »Du weißt von nichts, okay?«
Valerie rollte mit den Augen, und als Alma den PC abgestöpselt hatte, berührte die Technikerin sie sanft am Arm. »Woher?«
Ihre Augen waren voller Wärme und etwas anderem, das Alma nicht sehen wollte, was sie vor zehn Jahren schon nicht hatte sehen wollen. Aber Valeries Gefühle für sie hatten auch etwas Gutes: Sie würde Alma nicht verraten und konnte ihr noch mehr helfen. Alma hasste sich zwar für das Kalkül, trotzdem spürte sie die Vibrationen im Hals, als sie sagte: »Von Klingenberg.«
Die Verwirrung war vollkommen. »Von Peter Klingenberg?«
»Aus seinem Haus.«
Valerie konnte nur den Kopf schütteln und auf Almas Smartphone zeigen, damit sie die Transkription aktivierte. Aus seinem Haus?, erschien auf dem Display.
»Die Dose lag in seinem Homeoffice im Mülleimer. Bis vor Kurzem existierte dort ein zweiter Arbeitsplatz.« Sie zeigte ihr sogar ein Foto.
Valerie blähte die Wangen auf. Ramsay bei Peter Klingenberg zu Hause. Du weißt, welche Brisanz das in Verbindung mit ANOD hat?
Mehr als du dir vorstellen kannst, dachte Alma und nickte. Die Angelegenheit ging noch viel tiefer. Plötzlich passte alles zusammen, der abgebaute Arbeitsplatz, das viele Geld, die Luxusvilla, die Scharade um Ramsay, die Einträge in den Akten. Alma hätte es nur viel früher begreifen müssen!
Ramsay und Peter mussten ein Paar sein!
Der Gedanke rastete hörbar in ihrem Geist ein, und die Konstellation passte von den Details her! Gabriel Dubois hatte bei seiner Festnahme 2005 schon mit seinem Partner Adam Bleiderer in Frankfurt zusammengelebt; wie hatte sie das übersehen können? Wie hatte sie nie auf die Idee kommen können, dass es um Liebe ging? Hatte Peter deswegen keine Frau und Kinder? Sie hatte immer gedacht, dass es wegen der Karriere war, wie bei allen Agenten, aber nie in Betracht gezogen, dass es wegen seiner sexuellen Präferenz sein könnte. Aber als schwuler Agent wäre er beim BND vermutlich nicht weit gekommen, nicht zur damaligen Zeit und, wenn sie ehrlich war, wohl auch heute nicht. Er hatte seine sexuelle Orientierung also unter Verschluss halten müssen. Und dann hatten sich die beiden im Zuge von Juicenet kennengelernt und ineinander verliebt.
Ob dann der Verrat am Iran auf Ramsays oder Peters Konto ging, war zweitrangig. Sie hatten eine Menge Geld kassiert, und Peter hatte Ramsay zur Flucht verholfen. Das bestätigte Almas Vermutung, dass Ramsay professionelle Hilfe gehabt hatte – Peters Hilfe. Wahrscheinlich lebten die beiden seit zehn Jahren ein Doppelleben in Berlin, und nachdem Alma, die Einzige, die ihnen konkret gefährlich werden konnte, endgültig aus dem Dienst ausgeschieden war, hatten sie über Peters Agentennamen die Villa mit dem Geld aus dem Iran gekauft und seitdem zusammen dort gelebt.
Valerie wedelte mit den Armen und sagte etwas.
Alma brauchte eine Sekunde, um aus ihren Überlegungen aufzutauchen, und las ihre gesprochenen Worte: Und wie geht’s jetzt weiter?
Das war eine sehr gute Frage.
Alma schaltete auf ihrem Handy auf die Abhörsoftware mit integrierter Ortung. Peter hielt sich laut den Daten immer noch in dem Hamburger Krankenhaus auf. Was tat er dort seit Stunden?
Viel spannender war die Frage, wo Ramsay steckte. In der Coladose war noch ein letzter Rest gewesen. Er war maximal seit einigen Tagen ausgeflogen. Mit dem Start von ANOD? Egal. Die Frage war: Wohin würde jemand wie Klingenberg die Liebe seines Lebens, the love of his life , bringen? In Sicherheit. Nur wo gab es noch Sicherheit?
Die Antwort lag auf der Hand. Es war wie mit dem Sperrvermerk auf dem Fingerabdruck: Peter Klingenberg hatte Ramsay vermutlich in einer Agentenwohnung untergebracht, über die er als Abteilungsleiter frei verfügen konnte. So würde das niemand kontrollieren, da Peter die Kontrollinstanz war.
»Ich weiß, wie es weitergeht«, sagte Alma.
Valerie musterte sie neugierig. »Und wie?«
»Ich befürchte, ich brauche dazu noch einmal deine Hilfe.«
Ein grimmiges Lächeln trat auf Valeries Gesicht. »Die sollst du kriegen.« Ohne dich war der Job hier nichts weiter als ein Job.
Die Worte versetzten Alma einen weiteren Stich ins Herz, und ihre Hand fand Vallis Schulter. »Bist du dir sicher?«
»Zu einhundert Prozent, meine Liebe.«