Kapitel 37

Berlin, Kreuzberg
14:21:02

In Hamburg kam es zum Angriff auf das Polizeipräsidium. Demonstranten warfen Scheiben ein, zerstörten mehrere Polizeiwagen. Die Einsatzkräfte haben mehrere Gewaltbereite festgenommen.

Olaf Kraus, RTL aktuell

Schritte wehten auf der neunten Etage im Zentrum Kreuzberg den Korridor entlang. Entschiedene Schritte, aber zugleich luftig und leicht. Die Schritte einer Frau, die wusste, was sie wollte.

Almas Finger schlossen sich um die silberne Halskette mit dem blutbespritzten USB-Stick. Beides würde sie Peter Klingenberg vor die Füße werfen. Sie wollte sehen, wie sich seine Augen weiteten, wenn er begriff. Sie wollte seine Panik riechen, seine Hoffnungslosigkeit schmecken, seine stummen Schreie sehen.

Peter und Ramsay. Zwei von Ideologie gebeutelte Männer, die mit ihrem Platz in der Welt nicht klarkamen. Die die Schuld auf die Welt abluden, aber die Welt war nur eine Bühne, auf der die Menschen ihr Schauspiel absolvierten, das hatte Alma längst begriffen. Die beiden hatten sich ihr Elend ganz allein selbst zuzuschreiben.

Alma erreichte den Aufzug und drückte den Knopf. Sekunden später kroch der Lichtstreifen zwischen den Türflügeln empor.

Peter und Ramsay. Was für ein Duo.

Im mattierten Metall der sich öffnenden Türen registrierte sie die Bewegung zu spät.

Ein Schlag traf sie am Hinterkopf und ließ sie vorwärts in den Aufzug taumeln. In der verspiegelten Kabine sah sie die Angreiferin: eine rassige Frau mit wallender Mähne. Selina Moreno trat ihr in die Kniekehlen und schickte Alma auf den Boden. Im Fallen zog Alma ihre Pistole und wirbelte herum.

Moreno war schneller. Ein Tritt traf Almas Handgelenk, die Pistole flog davon, und dann küsste der Lauf einer Beretta ihre Stirn.

Moreno atmete hart und sagte etwas. Mit dem Fuß kickte sie Almas Waffe hinter sich aus dem Fahrstuhl. Keine Sekunde später schlossen sich die Aufzugtüren.

Alma hob ganz langsam die Hände. Die Kette mit dem USB-Stick baumelte herab.

Wieder bellte Moreno etwas, wobei ihre Sehnen am Hals deutlich hervortraten, für Alma war da aber nur Stille. »Ich bin taub«, sagte sie. »Kann dich nicht verstehen.«

Moreno schloss den Mund. Ihr Blick flatterte zum Bedienfeld, und sie drückte wahllos auf den Knopf für die Tiefgarage.

Alma schätzte ihre Chancen ab, ob sie die Pistole wegschlagen und in die andere Richtung ausweichen konnte, doch der Abstand war zu gering. Löste sich ein Schuss, blies es ihr das Hirn weg wie Ramsay. Sie sagte: »Ich weiß, wer du bist: Selina Moreno.« Der Aufzug setzte sich in Bewegung.

Moreno antwortete zu schnell, um es von den Lippen lesen zu können.

»Langsamer, bitte.«

Die Wiederholung verstand sie: »Wer bist du?«

»Alma Nordtveit. Ex-BND.«

Moreno hatte sich erstaunlich gut unter Kontrolle; nur ein leichtes Beben ging durch ihre Hände, zu spüren am Lauf der Pistole. »Was wolltest du von Ramsay?« Ihr Blick flitzte immer wieder zur Silberkette und zur Etagenanzeige. Die wechselte gerade von sieben auf sechs.

Alma lächelte kalt. »Seinen Tod. Ramsay hat mein Leben versaut – und ich seines. Und jetzt ist noch sein Freund dran.«

»Ramsay ist tot?« Die Hackerin wollte es nicht glauben.

»Aber so was von. Was wolltest du von ihm? Seinen Part?«

Moreno bekam noch größere Augen.

»Dann hast du wohl Glück. Der wird vermutlich hier drauf sein.« Alma ließ die Kette sachte an ihrem Handgelenk schwingen. »Du kannst ihn haben. Mir bedeutet er nichts.«

Die Verwirrung bei Moreno wuchs und wuchs. »Ich … verstehe nicht …«

»Wie auch. Mir geht es nur um Rache. Der Rest ist mir egal, die Menschen sind mir egal! Du kannst den Part haben – wenn du mich gehen lässt. Ich muss nämlich noch jemandem meine besten Grüße bestellen.«

Moreno wollte etwas erwidern, doch der Aufzug erreichte die unterste Etage. Die Türen glitten auseinander.

Ein älterer Herr wich beim Anblick der beiden Frauen zurück.

War das die Chance? Alma spannte sich, und Moreno schrie etwas und schlug wieder auf einen Etagenknopf, doch die Pistole rückte keinen Millimeter von ihrer Stirn.

Die Türen glitten wieder zu.

Alma entspannte sich wieder, während Moreno gehetzt fragte: »Und das ist sein Part?«

»Er trug die Kette um den Hals. Was soll sonst drauf sein?«

Moreno zögerte, doch dann riss sie Alma den USB-Stick aus der Hand. Wieder bellte die Hackerin etwas, das Alma nicht verstand, und dann doch: »Dein Handy! Langsam!«

»In Ordnung.« Ganz langsam ließ Alma die Hand sinken und zog das Diensthandy des BND aus der Jackentasche. Sie hielt es der Hackerin hin, die es an sich nahm.

Wieder hielt der Aufzug, diesmal im zweiten Stock.

Moreno, mit Handy und USB-Stick in einer Hand, der Beretta in der anderen, wollte etwas sagen, tat es aber nicht, und trat stattdessen rückwärts aus der Kabine.

Alma sah ihr dabei zu, den Blick auf die Finger gerichtet, die sich um den Abzug krümmten. Mit jedem Meter vergrößerte sich die Chance, dass sie sich zur Seite werfen konnte, sollte die Hackerin abdrücken. Dabei kam es auf jede Hundertstelsekunde an.

Die Hackerin wusste allerdings nicht, was sie tun sollte. In ihrem Gesicht fochten verschiedene Gefühle miteinander: Unglaube, dass sie den Stick bekommen hatte, Zweifel, dass darauf der Rest des Wiegenlieds war, Unentschlossenheit, ob sie die Agentin wirklich laufen lassen sollte.

Die Technik zwang sie zur Entscheidung, denn die Türen des Aufzugs schlossen sich.

Alma atmete tief ein. Vielleicht noch drei Sekunden, um aus der Schusslinie zu kommen.

Zwei.

Eine.

Und dann drückte Moreno doch noch ab, und die Hackerin verschwand hinter den sich schließenden Türen, während Alma Nordtveit in einer Eruption aus Blut zu Boden stürzte.