Kapitel 45

Berlin, Charité

Die Welt ist nicht untergegangen. Aber so langsam zeichnet sich das Ausmaß der Katastrophe ab, auch wenn wir noch immer keinen vollumfänglichen Kontakt zu all unseren Korrespondentinnen und Korrespondenten haben. Sicher scheint, dass nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Bevölkerung Suizid beging. Das sogenannte Wiegenlied wurde zum Teil über die ANOD-App ausgestrahlt, allerdings störten eine Agentin und ein Agent des Bundesnachrichtendienstes die Übertragung. Durch ihre Schreie und Interventionen wurde das Wiegenlied derart gestört, dass sich die suizidäre Wirkung nicht vollumfänglich entfalten konnte. Trotzdem bewegt sich die Zahl der Toten allein in Deutschland im fünfstelligen Bereich.

Weltweit kam es zu Plünderungen, Bränden, Zerstörungen. Hinter mir sehen Sie die Berliner Charité; dort stellt sich langsam wieder Normalbetrieb ein. Die Bundeswehr ist mit schwerem Gerät im Einsatz und hilft bei der Räumung von Verkehrsknotenpunkten. Die Kanzlerin hat einen Krisenstab eingerichtet. Unbürokratische Soforthilfen in Milliardenhöhe wurden in Aussicht gestellt.

Wie der Bundesnachrichtendienst bestätigte, starben die Initiatoren von ANOD allesamt im Zuge der Veröffentlichung der App. Eine Sondereinsatzgruppe wurde beauftragt, die Vorgänge aufzuklären.

Eines hat der Anschlag deutlich gezeigt: Von einer globalen Einigung in Sachen Klimaschutz und dem respektvollen Umgang mit dem Leben generell sind wir weit entfernt. Die Ergebnisse des Klimagipfels sind ernüchternd.

Paula Gellert, Tagesschau

»Und wir sind off!« Das rote Aufnahmelicht an der Kamera erlosch.

Paula atmete tief durch, strich sich durchs Haar und steckte das Mikrofon weg. »Danke, Thorsten.«

Er lächelte müde, während er die Kamera sinken ließ. Sie verstauten ihre Ausrüstung im Kleinbus. Danach liefen sie schweigend über den Vorplatz durch den gläsernen Haupteingang des Klinikums. Immer noch herrschten chaotische Zustände. Etliche Patienten waren aus dem Krankenhaus geflohen und standen jetzt Schlange bei der Anmeldung.

Paula sah blasse Gesichter, müde Gesichter, mit Schrammen überzogene Gesichter, blutige Gesichter. Sie sah Menschen mit provisorischen Krücken, hinkende und humpelnde und weinende Menschen. Seelsorger liefen hierhin und dorthin. Auch sie und Thorsten wurden gefragt, ob sie Hilfe brauchten, aber sie lehnten dankend ab.

Im Obergeschoss war ein Flur von Polizisten in Kampfmontur abgeriegelt. Paula und Thorsten durften passieren. Sie fanden Adrienne und Oliver auf Wartestühlen. Adrienne mit der dicken Lippe stand auf und lächelte. »Er ist endlich wach.«

»Zum Glück.«

»Erichsen«, sagte Oliver kopfschüttelnd. »Daniel Erichsen. Also mir hat sein Deckname besser gefallen. Strelow.«

Adrienne pfiff und winkte ab. »Kommt.«

Sie führte sie in ein Behandlungszimmer. Darin stand ein einziges Bett. Darauf saß Rike neben Danny. Er hatte den Kopf einbandagiert und sah beinahe wie eine Mumie aus. Eine lächelnde Mumie. »Das ist aber eine Überraschung!«

Alle vier traten an seine Seite, und Paula sagte: »Wie geht es dir?«

»Geht schon.« Er drückte mit den Fingerspitzen gegen den Verband. »Beim letzten Mal war’s schlimmer, aber eine fette Narbe wird’s geben.«

»Es war ein Wangendurchschuss«, erklärte Rike ernst. »Wäre Alma nicht gewesen …«

»Wo ist sie eigentlich?«

»Schon abgereist. Zusammen mit ihrer Bekannten.«

»Und wohin? Ich hätte sie gern interviewt.«

»Kannst du dir sparen«, sagte Danny. »Alma steht für nichts mehr zur Verfügung. Sie hat gesagt: Das war’s endgültig

»Kann ich verstehen«, warf Oliver ein. »Und bei dir? Was hast du vor, wenn du hier rauskommst?«

»Tom Schneider besuchen. Und danach einen Waldspaziergang machen.« Der Hacker hatte tatsächlich überlebt und lag in Hamburg auf der Intensivstation. Dort würde er noch eine Weile bleiben müssen, war aber außer Lebensgefahr. Wie es mit ihm weiterging, stand auf einem anderen Blatt. Dazu würde die Staatsanwaltschaft ermitteln und …

»Einen Waldspaziergang?«, fragte Oliver erstaunt. »Also mir fiele etwas Besseres ein.«

Danny lachte. »Das glaube ich sofort, aber ich werde mir Ruhe gönnen. Viel Ruhe.«

»Wie wäre es mit grillen?«, schlug Adrienne vor. »Ein Abschiedsessen oder so. Wir alle zusammen.«

»Wenn meine Wange verheilt ist, dann gern. Aber mir gefällt das Wort Abschied nicht.«

»Wirst du im Dienst bleiben?«

»Keine Ahnung«, gestand Danny. »Mir reicht’s eigentlich. Ab sofort dürfen andere die Menschheit retten.«

Alle lachten.

Sie scherzten noch ein wenig, bis sich Oliver verabschiedete. Auch Adrienne ging gleich mit.

»Hab ich was verpasst?«, fragte Danny verwirrt, nachdem die beiden gegangen waren.

»Keine Ahnung«, sagte Paula. »Wie ist es mit dir und einem Interview? Nicht heute, aber in ein paar Tagen? Die Leute wollen ihre Heldinnen und Helden feiern.«

»Sollen sie machen, aber ohne mich.«

»Wirklich nicht?«

»Ganz sicher. Das eine Interview hat mir gereicht. Ihr habt die Wachen gesehen. Die mussten hier den Flügel sperren, weil zu viele zu mir wollten, um sich zu bedanken.«

»Sieh es positiv«, sagte Thorsten, »du könntest damit auf Tour gehen. Du könntest ein Buch schreiben und viel Geld verdienen.«

»Ich scheiß aufs Geld.« Dannys Hände fanden die von Rike. »Ich hab schon alles, was ich brauche.«

»Ach, Danny.«

Lächelnd schloss er die Augen. »Und so nett es ist, mit euch zu plaudern, würde ich dann doch um Ruhe bitten. Meine Wange brennt wieder, und ich bin müde. Die Schmerzmittel. Die pumpen mich voll wie eine Weihnachtsgans mit Gemüse.«

Alle lachten. Hände wurden noch einmal gedrückt, dann gingen auch Paula und Thorsten.

Rike und Danny blieben allein zurück.

»Ich seh dann mal nach Leonie.«

»Ich dachte, sie ist in guten Händen?«

»Ist sie auch, aber …«

Danny zog sie näher ans Bett. »Komm. Leg dich bitte zu mir.«

»Ernsthaft?«

»Solange du auf den Schlauch von der Infusion aufpasst. Ja, so. Ah.« Er seufzte, als Rike sich an ihn kuschelte. »So könnt ich es ewig aushalten.«

Sie tippte ihm neckend mit dem Finger in die Seite. »Schwachkopf. Spätestens nach einer Stunde wird dir das zu langweilig. Dann musst du raus und springen. Also unter normalen Umständen.«

Er grinste, die Augen geschlossen, ihren Kopf an seiner Schulter. »Ist es echt so schlimm mit mir?«

»Manchmal.«

»Hey! Aber sag, was hältst du von einer Motorradfahrt nach Lindau zum Felchenessen und dann weiter zum Silvretta-Stausee? Vierunddreißig schlaglochfreie Kehren inmitten herrlicher Bergkulisse mit Blick auf den Piz Buin.«

Rike hob den Kopf. »Ich wusste es! Du verschlagener Schlingel!«

Er schob seine Hand ohne Zugang tiefer und zwickte sie in den Po. »Schlingel also.«

»Und was für einer!« Sie lachte und gab ihm einen ganz vorsichtigen Kuss. Trotzdem zuckte Danny und sagte »Au!«

Und sie sagte: »Geschieht dir gescheit recht.« Dann lachte sie und bettete ihren Kopf wieder an seine Seite.

Keine zwei Minuten später war er eingeschlafen.

Rike hörte es an seinen rhythmischen, ruhigen Atemzügen.

Sie stemmte sich ganz vorsichtig hoch und betrachtete Danny. Ganz entspannt sah er aus, fast so, als würde er lächeln.