Hannah
Der Android besaß Beine und lief zügig auf uns zu. Er hatte auch lange Arme und ziemlich sicher eine größere Reichweite als wir. Außerdem kannten Androiden genau wie Drehstühle keinen Schmerz, verfügten in der Regel aber über hochwertigeren Kunststoff.
Hinzu kam die Tatsache, dass ich grundsätzlich lieber vor Herausforderungen floh, anstatt mich ihnen zu stellen. Eine äußerst bequeme Herangehensweise – hier und jetzt war es für meine Begriffe aber eindeutig die beste. Bloß, wo zum Teufel sollten wir hin? Draußen sirrten noch immer die Drohnen. Blieb eigentlich nur:
»Die Treppe! Schnell!« Jarrett hatte den gleichen Gedanken.
Ich nahm die untersten zwei Stufen auf einmal. Der Muskelkater hielt zur Abwechslung seine verdammte Klappe und oben angekommen, rannte ich hinter Jarrett auf die am weitesten entfernte Tür zu. Keine Ahnung, ob das eine gute Idee war, aber der Android stieg mit rot leuchtenden Augen die Treppe hoch und für eine Tür mussten wir uns ja entscheiden.
Das Zimmer, in das wir stürmten, war nicht ganz so leer wie die Wohnräume unten. Unter dem Fenster stand ein Schreibtisch. An der Wand rechts davon ein Schrank und links ein Bett, auf dem ein Lattenrost, aber keine Matratze lag.
Jarrett pfefferte die Tür ins Schloss. »Hilf mir, sie zu verbarrikadieren!«
Er zog schon am Schreibtisch und ich zog mit, aber der massive Tisch war nicht gerade ein Leichtgewicht.
Wir wanden uns um die Platte herum und schoben von der anderen Seite. Jarretts Arme sahen zwar nicht besonders muskulös aus, aber er hatte entschieden mehr Kraft als ich. Er wuchtete seine Ecke des Tisches gegen das Türblatt, doch meine hinkte hinterher und fatalerweise war meine die, auf die es ankam – die, die unter die Klinke musste. Wir hatten uns nicht gerade clever positioniert und bevor meine Hälfte des Tisches die Tür blockierte, ging sie auf. Nur einen Spalt weit, denn Jarrett hatte seinen Teil getan, aber durch den Spalt drängte und drückte der Android.
Jarrett schrie. Kein Wort, eher ein wild entschlossenes »Rrrrrraaaaahhhh«. Gemeinsam wuchteten wir den Rest des Tisches gegen die Tür. Der Spalt schloss sich, aber leider nicht ganz. Zwischen Türstock und Türblatt steckten die Finger des Androiden. Wir stemmten uns gegen den Tisch, Jarrett und ich, und jeder Mensch hätte geschrien, weil wir ihm die Hand zerquetschten. Aber die klobige weiße Kunststoffhand ließ sich nicht zerquetschen. Und, falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte: Androiden kennen keinen Schmerz.
Der, mit dem wir es hier zu tun hatten, gab nicht auf. Er krallte seine drei Finger um das Türblatt und drückte dagegen. Er bekam die Tür nicht weiter auf, aber Jarrett und ich bekamen sie auch nicht zu.
»Dieser Scheißkerl! Was hat er hier überhaupt verloren? In einem Haus, in dem niemand lebt!«
Ich glaubte, die Antwort zu kennen. Dieser Roboter war hier, um potenziellen Käufern das Haus zu zeigen. Wann immer jemand kam, erwachte er aus dem Standby-Modus und spulte all die Phrasen ab, die ihm die Immobilienfirma einprogrammiert hatte. Bis gestern jedenfalls. Aktuell hatte ich Zweifel, dass der Android nur deshalb so hartnäckig die Tür blockierte, weil er uns von den Vorzügen dieses Kleinods auf dem Lande überzeugen wollte.
Jarrett blickte sich im Zimmer um, wahrscheinlich in der Hoffnung, etwas zu entdecken, was uns helfen konnte. »Sieh im Schrank nach! Ich kann den Androiden allein in Schach halten!«
Was ich nicht bezweifelte, denn ich war keine große Hilfe. Also schlüpfte ich um den Tisch und öffnete die Schranktüren. Nichts. Noch nicht einmal Zwischenbretter, die man dem Androiden zwischen die Sensoren rammen konnte. Aber der Lattenrost hatte Latten. Ich musste sie nur freibekommen. Ich zog, rüttelte und trat, doch die Latten brachen nicht aus dem Rahmen.
Über die dreifingrige Hand des Androiden flog brummend eine Fliege. Ich stieg auf den Lattenrost und fing an zu hüpfen. Es knackte und beim dritten Hüpfer brach die Latte an einer Seite durch. Ich verlor beinahe das Gleichgewicht, war aber dennoch einen Moment lang stolz auf mich. Doch jetzt war die Latte nicht mehr in den Rahmen gespannt und ich konnte nicht mehr hüpfen, um sie auch auf der anderen Seite herauszubrechen. Also trat, riss und ruckelte ich aufs Neue und ich war ein ausgesprochen schlechter Treter, Reißer und Ruckler.
Ich hörte, wie Jarrett hinter mir stöhnte. Mit allem, was ich hatte, ruckelte ich an der Latte, drehte sie nach oben und wieder nach unten und endlich, endlich, endlich brach sie aus dem Rahmen. Erledigt drehte ich mich um und hielt sie Jarrett hin. Natürlich hätte ich sie dem Androiden auch selbst gegen den Latz knallen können. Aber wenn wir damit erreichen wollten, dass der Android nach hinten taumelte und endlich die Tür losließ, war es besser, wenn Jarrett das übernahm.
Er trug mir auf, mit meinem ganzen Gewicht von hinten gegen die Platte zu drücken, nahm die Latte in beide Hände und blies Luft aus. »Ich zähle jetzt bis drei. Bei drei hörst du auf, dich gegen den Tisch zu stemmen. Verstanden?«
Ich nickte ein bisschen.
»Eins.«
Neben meinem Ohr brummte die verdammte Fliege.
»Zwei.«
Jetzt setzte sie sich auch noch auf meinen Arm.
»Drei.«
Ich trat einen halben Schritt zurück und nahm die Hände von der Platte. Sofort bewegte sich die Tür und mit ihr der Tisch. Jarrett nahm gleichzeitig Anlauf, holte mit der Latte aus und rammte sie dem hereindrängenden Androiden gegen die Kunststoffbrust. Die Tür verdeckte meine Sicht und ich erkannte nicht, ob der Androide nur taumelte oder fiel, aber da waren keine Finger mehr am Türblatt und noch während Jarrett »SCHIEB!« brüllte, schob ich. Der Tisch kratzte über die Dielen und rumste gegen die Tür, die krachend ins Schloss fiel.
Die Klinke wurde nach unten gedrückt. Aber ich stemmte mich weiter gegen den Tisch, der jetzt in seiner ganzen Länge vor der Tür stand. Jarrett zog am Bettgestell und ich half ihm, so gut es von meiner Position aus ging. Das Bett war schwer, aber schließlich hatten wir es hinter den Tisch gezerrt und nun konnte der Android drücken, so viel er wollte – die Tür bekam er nicht mehr auf.
Jarrett sank zu Boden und keuchte. Ich stieß eine der Schranktüren zu und lehnte mich gegen das einzige Möbelstück im Zimmer, das noch an seinem ursprünglichen Platz stand. Die Fliege ließ sich wieder auf meinem Arm nieder. Sie fand menschlichen Schweiß wohl so anziehend, dass sie sich auch von Härchen und Pusteln nicht stören ließ.
Der Android drückte noch immer die Klinke herunter und vermutlich drückte er auch nach wie vor gegen die Tür. Aber unsere Tisch-Bett-Kombination war stärker.
»Hoffentlich haben die früheren Bewohner nicht ihre Kettensäge im Keller vergessen«, murmelte ich, woraufhin Jarrett mit einer Hälfte seines Mundes lächelte.
Der Fliege gefiel es auf meinem Arm. Ich hob die Hand und patschte nach ihr. Für Eindringlinge war schließlich kein Platz in diesem Zimmer. Doch natürlich war ich zu langsam.
»Und jetzt?«, fragte ich leise. »Der Android kommt zwar nicht rein, aber wir kommen auch nicht raus. Und es gibt noch nicht mal einen Wasserhahn hier drin.«
»Ja, wir hätten das Badezimmer nehmen sollen.« Jarrett streifte den Rucksack vom Rücken, holte den Bodybuilderdrink heraus und rollte die Flasche unter dem Schreibtisch durch. Sie landete genau zwischen meinen Sneakers. Ich drehte den Verschluss ab und würgte einen Schluck hinunter. Das Zeug war immer noch klebrig und viel zu süß. Ich machte die Flasche wieder zu und rollte sie zu Jarrett zurück, aber natürlich blieb sie an einem der Tischbeine hängen.
Jarrett stand auf und holte sie. »Zumindest haben wir jetzt eine Waffe«, sagte er und deutete auf die Latte. »Und an einer zweiten scheitert es auch nicht.« Er nahm einen Schluck aus der Flasche, stieg auf den Bettrahmen und trat gegen eine der noch im Rost fixierten Latten. Anders als bei mir fiel sie augenblicklich zu Boden. War ja klar.
»Selbst wenn du den Androiden noch mal umhaust«, sagte ich matt, »mit einer Holzlatte – oder mit zweien – werden wir ihn nicht los.«
»Nicht auf Dauer, nein.«
»Angenommen du bringst ihn noch mal zu Fall und wir rennen ins Bad – wer weiß, ob sich die Tür da zusperren lässt? Und ob das den Androiden aufhält? Verrammeln werden wir sie jedenfalls nicht können, denn was soll es in einem Bad schon für Möbel geben? Und außerdem: Vielleicht kommt nicht mal Wasser aus dem Hahn, weil man erst im Keller den Anschluss aufdrehen muss?!«
Statt zu antworten, ging Jarrett zum Fenster und schaute hinaus. Nach einer Weile stellte ich mich neben ihn, aber natürlich nicht dicht neben ihn. Wir hatten uns ein Zimmer mit Stadtblick ausgesucht, aber was ich von der Stadt sah, hätte auch ein Poster oder Standbild sein können. Nichts und niemand dort bewegte sich. Noch nicht einmal das schwebende Warenhaus.
Jarrett starrte abwechselnd auf sein eingefrorenes Hologramm und die eingefrorene Stadt. »Wir müssen uns nicht mit dem Androiden herumschlagen«, sagte er schließlich und senkte die Stimme, damit die Maschine ihn nicht hören konnte, »wir können auch hier raus, Hannah. Durchs Fenster. Und falls du dich nicht traust, ins Gras zu springen, helfe ich dir.«
Ich fragte mich, was Jarrett unter Helfen verstand. Aber bei dieser Aus-dem-Fenster-spring-Nummer gab es auch noch ein anderes Problem.
»Und die Drohnen?« Ich hörte sie noch sirren. Vermutlich kreisten sie nach wie vor um die Eingangstür, aber wenn wir aus dem Fenster sprangen, würden sie uns wieder orten können.
»Ihre Basis ist der Zeppelin über der Stadt. Aber auch er hat eine Basis, er muss eine haben! Und spätestens vor Einbruch der Dunkelheit wird er sie ansteuern. Und dann«, Jarrett flüsterte nun wieder, »ist die Luft rein und wir können verschwinden.«
Die Luft. Und was war mit Maschinen auf dem Boden? Und wie genau sollte ich überhaupt vom Fenster in den Garten gelangen? Aber okay, ich hatte keinen besseren Plan, und über die Details konnten wir auch später noch sprechen. Inzwischen musste es früher Nachmittag sein. Falls der Zeppelin bis zum Abend über der Stadt schweben sollte, hatten wir noch eine Menge Zeit in diesem Zimmer vor uns.
»Meinetwegen«, sagte ich, »einverstanden.« Dann ließ ich mich wieder vor dem Schrank nieder. Die Türklinke war immer noch heruntergedrückt, aber ich machte mir keine allzu großen Sorgen deswegen. Der Android konnte nicht herein und wenn er es trotzdem weiter versuchte, war das zwar lästig, aber das war die brummende Fliege auch, ganz zu schweigen von den Kopfschmerzen, die munter gegen meine Schädeldecke hämmerten.
Mein Körper war inzwischen noch weiter davon entfernt, zu zwei Dritteln aus Wasser zu bestehen, aber noch war ich zu aufgekratzt, um mich auf dem Dielenboden auszustrecken und verpassten Schlaf nachzuholen. Adrenalin schien wie Schweiß zu sein: Der Körper produzierte es sogar dann, wenn es ihm an Flüssigkeit fehlte.
Ich dachte an den Albtraum, der mich heute früh geweckt hatte. Und ans Metaverse, wie es in Wirklichkeit war. Nicht nur mein Daumen vermisste es. Fast 24 Stunden. Wann war ich zuletzt so lange offline gewesen? War ich jemals so lange offline gewesen, seit ich die virtuelle Welt für mich entdeckt hatte? Meine Eltern wären stolz auf mich gewesen: beinahe ein ganzer Tag, an dem ich gar nicht mal so oft ans Metaverse gedacht hatte. Was natürlich nicht an mir lag, sondern an der Apokalypse. Mit Gott gibt es keinen Grund für Technik. Wären meine Eltern gläubig, ich hätte diesen Satz wahrscheinlich täglich zu hören bekommen. Aber meine Schwester und ich waren nicht einmal getauft.
Mara war zehn, gerade erst geworden. Sie durfte noch nicht ins Metaverse und sie traute sich noch nicht, meinen Eltern nicht zu gehorchen – sie meckerte, diskutierte, bockte, aber am Ende gab sie klein bei. Sie war ja auch noch klein, irgendwie. Als ich zehn gewesen war und sie vier, hatten wir noch viel Zeit miteinander verbracht.
Ich sah durch die Tischbeine zu Jarrett, der sich an die Wand gegenüber gesetzt hatte, an der zuvor das Bett gestanden hatte. »Hast du eigentlich Geschwister? Also, ich meine, Stiefgeschwister?« Ich war mir nicht sicher, ob das die richtige Bezeichnung für leibliche Kinder von Pflegeeltern war. Und ob das eine Frage war, die ich stellen sollte.
Aber ich hatte es schon getan und Jarrett schien sie mir nicht übel zu nehmen. »Nein«, antwortete er ziemlich prompt, »Desmond und Jazmine haben keine eigenen Kinder. Und meine ersten Pflegeeltern hatten auch keine.«
Oh Gott, richtig, er hatte ja schon zwei Paar Pflegeeltern durch. »Wie alt warst du überhaupt, als deine Mutter … ich meine, als du zu deinen ersten Pflegeeltern kamst?« Verdammt, ich war so schlecht darin, jemandem beim Reden in die Augen zu schauen.
»Neun.« Für einen Moment begegnete er meinem nervösen Blick, dann starrte er auf den Rucksack am Boden. So wie er da lag, waren Batmans Muskeln ein wenig verzogen. »Ich weiß noch, wie ich von der Schule nach Hause kam und meine Mutter weinte. Das war … neu. Sie weinte sonst nie. Nie. Ein paar Tage später stand ein Typ vom CPS vor unserer Tür.«
»CPS?«
»Child Protective Services. Wir saßen zu dritt auf der Brandflecken-Couch, und nicht meine Mutter saß neben mir, sondern dieser CPS-Typ. Ich verstand nicht alles, was er sagte, aber das Wesentliche schon. Dass meine Mutter krank sei. Zu krank, um für mich sorgen zu können. Und dass ich zu Menschen kommen würde, die nicht krank seien und sich um mich kümmern würden.«
Jarrett verstummte. Die Sonne schien inzwischen direkt durchs Fenster. Da, wo bis zu unserem Möbelverrücken der Schreibtisch gestanden hatte, tanzte nun Staub durch die Luft.
»Es ging keine zwei Monate. Wahrscheinlich dachten meine Pflegeeltern, dass sie einen kleinen Jungen bekämen, den sie nach ihren Vorstellungen formen könnten. Aber es war zu spät dafür. Also kam ich in ein Heim.«
Ich schluckte. »Und dann?«
»Dann?« Er sah mich an und ich schluckte noch einmal. »Dann kamen Desmond und Jazmine. Erst nur für ein paar Minuten, dann länger. Sie unterhielten sich mit mir. Jazmine brachte selbst gebackene Kekse mit, Desmond ein altes Buch. Oliver Twist von Charles Dickens. Es war ein ziemlicher Wälzer und ich hatte vorher noch nie ein gedrucktes Buch gelesen, aber es gefiel mir, und als mich das CPS schließlich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, bei Desmond und Jazmine zu leben, sagte ich Ja. Ich war nicht gern im Heim, hasste es, nie allein sein zu können.« Jarrett sah weg, an seinem Kiefer zuckte ein Muskel. »Als mich die beiden abholten, sagte Desmond, dass ich ab jetzt zur Familie gehörte. Aber das waren nur Worte für mich. Noch nach Monaten war mein Schrank so leer wie der hier.« Jarrett nickte in Richtung des Kleiderschranks hinter mir. »Ich ließ meine Sachen in meiner Tasche, die gepackt unter dem Bett stand. Ich tat auch Essen hinein, das ich heimlich aus dem Kühlschrank holte. Jeden Tag rechnete ich damit, wieder ins Heim zu müssen, was zu meiner Verwunderung nicht passierte. Trotzdem vertraute ich Desmond und Jazmine nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mich wirklich liebten. Also lief ich weg. Ich wollte wissen, ob sie mich suchen würden. Ob sie mich vermissten.«
Ich sah ihn an, nein, wahrscheinlich starrte ich ihn an, hing an seinen Lippen und seinen traurigen Augen. »Und?«
»Sie haben mich gesucht. Und sie haben mich gefunden. Danach hörte ich auf, Essen zu horten. Ich räumte meine Sachen in den Schrank und die Tasche auch. Ich hatte ein Zuhause. Es war nicht wie im Märchen, aber es war ein Zuhause. Mit Menschen, denen ich wichtig war und die sich um mich sorgten.« Um Jarretts Züge spielte ein trauriges Lächeln und für einen Moment blitzte es auch in seinen Augen auf. Dann legte sich ein Schatten über sein Gesicht. »Aber innerhalb eines Tages habe ich alles kaputt gemacht. Und jetzt gibt es kein Zurück mehr.«
Er nahm einen grimmigen Schluck aus der Flasche und rollte sie wieder zu mir. Ich setzte sie an, doch in meinem verödeten Rachen staute sich das Konzentrat wie Nudelwasser in einem verstopften Waschbecken.
»Was war das Schlimmste, was du deinen Eltern angetan hast?«
Eigentlich hätte ich gerne gewusst, was Jarrett getan hatte, aber nun hatte er mir eine Frage gestellt. Und was für eine. Ich zwang das Konzentrat meinen ausgetrockneten Hals herunter und schraubte die Flasche zu, um mir mehr Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Mir fiel nichts Konkretes ein, jedenfalls nicht eine bestimmte Sache, es war mehr eine Kette von Dingen. Endlose Diskussionen. Beschimpfungen. Terror. Immer dann, wenn meine Eltern mich mal wieder nicht ins Metaverse gelassen hatten. Und die Konsequenz dieser wiederkehrenden Konfrontationen, die langfristige, in Wellen verlaufende, aber letztlich unaufhaltsame Entwicklung war:
»Dass ich mich abgekapselt habe«, sagte ich und spürte, wie Hitze mein Gesicht überzog. »Dass ich nur noch neben meinen Eltern her, aber nicht mehr mit ihnen gelebt habe.«
»Das ist besser«, sagte er leise.
»Was ist besser?«, erwiderte ich verwirrt.
»Sich schleichend von seinen Eltern zu entfremden. Nicht abrupt wie bei meinen Pflegeeltern und mir.«
»Und … warum war es so abrupt? Was war der Grund?«
»Ich. Und meine leibliche Mutter.« Jarrett rann eine Träne über die Wange. Er wischte sie weg, doch es kam schon eine neue. Er weinte lautlos und ich sah ihm dabei zu, gebannt, perplex und unfähig, irgendetwas zu sagen oder zu tun.
Niemals hatte ich erwartet, Jarrett weinen zu sehen. Der Erste von uns, der auf diese Weise Schwäche zeigte, hatte eigentlich nur ich sein können. Im Kopf wälzte ich Worte herum, die ich sagen konnte. Mir war bewusst, dass ich nicht unbedingt etwas sagen musste, dass ich mich auch einfach neben ihn setzen und ihm eine Hand auf die Schulter legen konnte. Aber ihn so zu trösten, hätte mehr Mut erfordert, als ich hatte.
Das Ergebnis meiner Überlegungen war, dass ich aufstand, ihm die Plastikflasche hinstellte und sagte: »Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Nein«, entgegnete er und sah zu mir auf. »Das kann ich nur mit mir allein ausmachen.« Seine Stimme wackelte nicht mehr. Die stummen Tränen waren versiegt.
Ich hätte gerne erfahren, wie und vor allem weshalb Jarrett seine Pflegeeltern verletzt hatte und ob er vor ihnen oder vor sich selbst auf die Farm der Giddeys geflohen war. Aber er saß nur da und schien kein Bedürfnis zu haben, sich mir gegenüber noch mehr zu öffnen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es an mir lag. Ich hatte mich sicher nicht mit Ruhm bekleckert, aber ich hatte es auch nicht komplett vermasselt. Vielleicht hatten die Tränen fürs Erste genug Last von seiner Seele genommen. Vielleicht war er auch einfach noch nicht bereit, mich an diesem Teil seiner Vergangenheit, diesem mutmaßlichen Einschnitt, teilhaben zu lassen.
Ich ging um unsere Tisch-Bett-Blockade herum und ließ mich wieder vor dem Schrank nieder. Die Fliege hatte offenbar genug Schweiß getankt und flog brummend gegen die Fensterscheibe. Wieder und wieder, ohne dass sie daraus schlau wurde. Ich gähnte, immer öfter und länger. Das Adrenalin war verpufft.
»Schlaf ruhig ein wenig«, sagte Jarrett. »Ich behalte die Tür im Auge.«
Eine Weile wartete ich vergeblich darauf, dass er noch etwas anderes sagte, doch das passierte nicht und ich beschloss, seiner Aufforderung nachzukommen. Ich war platt und es sah nicht so aus, als ob ich in der Zwischenzeit viel verpassen würde. Die Klinke war zwar noch immer heruntergedrückt, aber auf dieser Seite der Tür waren der Tisch, das Bett und Jarrett.
Also legte ich mich parallel zum Schrank auf den Dielenboden, zog mein T-Shirt lang, damit es über den Bund der Hose reichte, und schob einen Arm unter den Kopf. Schlucken war eine Qual, mein Kopf voller kleiner Hämmer und jetzt, da ich zur Ruhe kam, spürte ich auch wieder, dass meine Augen nach wie vor brannten. Auch meine Haut brannte und spannte, was ich allerdings nicht dem Pflanzenschutzmittel anlastete. Ich tippte stark auf Sonnenbrand, denn ich hatte mich nicht eingecremt (mit was auch?) und ich war Sonne eindeutig nicht gewohnt. Nur gut, dass ich mich nicht selbst sehen musste. Schlecht, dass jemand anders mich so zu Gesicht bekam.
Ich schielte durch die Tischbeine zu Jarrett. Von Geburt an dunkle Haut löste alle Probleme, die im Zusammenhang mit der Farbe Rot standen: Pflanzenschutzmittel. Sonne. Scham. Aber natürlich brachte es andere Probleme mit sich. Auch jetzt noch, hundert Jahre nach Rosa Parks.
Es dauerte noch eine Weile, doch schließlich kamen meine Gedanken zur Ruhe. Ich gähnte, dass mein Kiefergelenk knackte, und wenig später stahl sich der Schlaf über mich.
* * *
Als ich aufwachte, spannte und brannte meine Haut noch immer. Sonnenbrand, definitiv, wenn auch hoffentlich im Anfangsstadium. Die Kopfschmerzen waren ebenfalls noch da und das, was 16 Jahre lang mein Mundraum gewesen war, hatte sich in eine Wüste verwandelt. Ich richtete mich auf, doch das Zimmer drehte sich. Der Tisch, das Bettgestell, Jarrett, der Schrank – alles war in Bewegung. Stöhnend sank ich zu Boden.
Es dauerte, bis ich etwas klarer im Kopf wurde. Ich spürte Hände unter meinen Kniekehlen und als ich die Augen aufriss, sah ich, dass Jarrett mir die Beine nach oben streckte. Mein Gesicht wurde heiß. Hastig stützte ich mich auf die Unterarme.
»Langsam, Hannah. Langsam. Dein Kreislauf ist noch im Keller.«
Und wenn schon. Noch nie hatte jemand, der nicht Pöltl mit Nachnamen hieß, meine Beine hochgehalten. Wie sah mein mickriger Hintern dabei aus? Wie spitz mein Kinn, wenn Jarrett von oben auf mich herabschaute? Ich konnte gar nicht anders, als zu zucken und zu strampeln. Irritiert ließ Jarrett meine Beine los. Scheiße, gerade aufgewacht und schon benahm ich mich wie ein Idiot.
Ich lehnte mich an den Schrank und nahm den Bodybuilderdrink, den Jarrett mir reichte. Ich ließ ein wenig Konzentrat in meinen Mund rinnen, aber erst nach mehreren Anläufen bekam ich es runter. Leider brachte es die Wüstenlandschaft nicht mal im Ansatz zum Erblühen und meinen Kreislauf kein bisschen in Schwung. Was wohl daran lag, dass der Schwindel nicht nur vom plötzlichen Aufstehen rührte, sondern vom Flüssigkeitsmangel.
Es kam mir vor, als ob Jarrett mich musterte, aber ich konnte mich nicht aufraffen, zu ihm hochzuschauen. Geschweige denn aufzustehen. Vielleicht war die Dehydrierung schon zu weit fortgeschritten? Auf der anderen Seite war mein Gehirn noch in der Lage zu denken. Mein Körper musste ebenfalls noch funktionieren, zumindest auf rudimentäre Art.
Ich blickte zur Türklinke. Sie war noch immer heruntergedrückt. Oder wieder, jetzt da der Android Jarrett reden hören hatte. Durchs Fenster fiel längst nicht mehr so helles Licht wie vor meinem Nachmittagsschlaf. Ich erinnerte mich nicht, geträumt zu haben, und wie es schien, hatte ich nicht nur tief, sondern auch lang geschlafen.
»Was meinst du, wie spät es ist?« Auch Reden funktionierte nicht gerade gut.
»Ich schätze, in einer Stunde geht die Sonne unter. Hannah, wir müssen unbedingt Wasser finden.«
Ich nickte, dankbar, dass ich es nicht selbst zu sagen brauchte. In der Tat, wir mussten Wasser finden, dringender als alles andere. Aber ich wusste auch, was das bedeutete. Erstens: Ich musste aufstehen und meinen Körper zum Funktionieren bringen. Zweitens: Ich musste aus dem Fenster springen. Drittens: Wir mussten in die Stadt. Jedenfalls sofern die Drohnen nicht freundlicherweise eine Palette Deer Park in den Garten gestellt hatten.
Ich fing mit erstens an, genauer gesagt mit dem Aufstehen. Ich war 16, aber ich kam schlechter hoch als eine 66-Jährige. Ich wackelte zum Fenster, allerdings nicht, weil ich »zweitens« schnell hinter mich bringen wollte, sondern um zu schauen, was die Stadt, der Zeppelin und die Drohnen machten. Die Stadt war noch immer ein Standbild, abgesehen von der rot untergehenden Sonne, die die Häuser in warmes Licht tauchte. Der Zeppelin war nirgends zu sehen und mit ihm waren offenbar auch die Drohnen verschwunden. Alles war still.
»Das schwebende Warenhaus ist noch nicht lange weg. Aber wie ich gehofft habe – es muss eine Basis haben.« Jarrett stellte sich neben mich. Deutlich dichter, als ich es vor einigen Stunden getan hatte, beinahe Haut an Haut. Sein Hologramm schwebte über dem Fensterbrett, auf dem die Fliege lag. Auf der Scheibe war ein kleiner schmieriger Fleck. Jarrett war nicht so langsam wie ich.
Ich öffnete das Fenster und schaute hinunter. Die Palette Deer Park konnte ich abhaken, da waren nur Unkraut und die Pflanzen mit den violetten Blüten, bei denen es sich wahrscheinlich auch um Unkraut handelte. Uns blieb nicht viel übrig, als in die Stadt zu gehen, zumindest an ihren Rand. Oh Gott, das war nicht gut. Überhaupt nicht gut.
Vorsichtig beugte ich mich aus dem Fenster. Entfernungen zu schätzen war nicht gerade meine Spezialität, aber vom Fensterbrett zum Boden mussten es allemal … Ach, egal, es war hoch. Wie zum Teufel sollte ich ins Gras kommen, ohne mir die Knochen zu brechen?
»Ich weiß nicht, ob ich mich das traue«, sagte ich leise, denn vermutlich war das jetzt der Zeitpunkt, um über Details zu sprechen.
»Lass uns noch warten«, sagte Jarrett. »Bis die Sonne untergegangen und dein Kreislauf in Schwung gekommen ist. Und dann setzt du dich aufs Fensterbrett, hältst dich am Rahmen fest und lässt die Beine herunter. Von deinen Schuhen aus gerechnet sind es vielleicht noch acht Fuß bis zum Boden.«
Ich konnte nicht in Fuß rechnen, wie es Jarrett und die Ohioaner taten, und ich wollte auch gar nicht wissen, wie viele Meter acht Fuß ergaben.
»Du lässt dich einfach auf den Boden fallen. Und wenn du dich nicht traust, bremse oder fange dich.«
Das also hatte er mit Hilfe gemeint. Irgendwie fühlte ich mich geschmeichelt bei dem Gedanken, dass er bereit war, mich aufzufangen. Aber ich sah es schon vor mir, wie ich ihm im Fallen ins Gesicht trat, ihn unter mir begrub und mein spitzes Kinn ihm als Krönung die Zähne ausschlug.
Jarrett holte die Flasche und seinen Rucksack. »Was darf ’s sein? Drink? Nudeln? Frische Socken? Oder ein wenig Desinfektionsspray?«
Ich schüttelte den Kopf, lächelte aber auch ein bisschen. Zum einen, weil das, was wir dabeihatten, so lächerlich war. Zum anderen, weil Jarrett das sehr genau wusste, was bedeutete, dass er mich nur aufheitern wollte. Und das war ein schöner Gedanke.
Wir setzten uns auf den Tisch, stellten die Beine auf das Bettgestell und sahen zu, wie der Himmel über der unbewegten Stadt die Farben wechselte: Von Rot über Rosa zu einem Violett, das ungleich zarter war als das der Blüten im verwilderten Garten. Als das Violett in ein tiefes Blau überging, das sich anschickte, die Häuser der Stadt zu verschlucken, nahm Jarrett den Batmanrucksack, der wie ein winziger Raumteiler zwischen uns auf dem Tisch gestanden hatte.
»Bereit?«
Ich war nicht bereit. Es war ewig her, dass ich der Sonne beim Untergehen zugesehen hatte, ich war nie auf die Idee gekommen, es zu tun. Aber hier und jetzt, irgendwo in Ohio, neben einem Jungen, der so anders war als ich, war es irgendwie schön und stimmungsvoll – und auf einmal schmerzte mich der Gedanke, dass es das letzte Mal gewesen sein könnte. Ich hatte Angst vor dem Sprung ins Gras, vor allem aber vor dem, was danach kommen würde. Wenn wir in diese Stadt gingen, die keinerlei Lebenszeichen von sich gab, würde sich vermutlich noch heute Nacht dasselbe über uns sagen lassen. Wenn wir nicht gingen, würde es länger dauern und friedlicher ablaufen. Aber es würde nichtsdestotrotz zu Ende gehen. Und für das Ende war ich nicht …
»Bereit«, piepste ich.