Hatford Dale

Hannah

Jarrett zog den Batmanrucksack an und schmiss unsere Latten aus dem Fenster. Wortlos setzte er sich aufs Fensterbrett, drehte sich herum und ließ die Füße herunter, während er sich mit den Händen unten am Rahmen festhielt. Dann ließ er los und sprang.

Ich beugte mich aus dem Fenster und sah nach unten. Jarrett stand schon wieder. Aufmunternd nickte er mir zu und genau wie er gesagt hatte: Es war einfach, sich aufs Fensterbrett zu setzen. Aber dann kam auch schon der schwierige Teil. Ich drehte mich auf den Bauch, krallte die Finger um die Holzleiste des Rahmens und ließ meine Beine herunter. Ich war genauso groß wie Jarrett, was hieß, dass meine Füße dem Boden jetzt genau so nah waren wie seine vorher. Nur leider war ich längst nicht so mutig wie er, was in direktem Zusammenhang mit der Tatsache stand, dass ich mich viel, viel ungeschickter anstellte.

Ich traute mich nicht, und wenn ich gekonnt hätte – ich hätte noch lange dort gehangen. Aber meine Finger verließ schon die Kraft. Ich sträubte mich gegen den Sturz in den Garten, aber ich konnte mich nicht mehr am Rahmen festkrallen, verlor den Halt, rutschte und fiel. Keine Ahnung, ob ich einfach auf dem Boden aufgeschlagen wäre oder ob ich zumindest versucht hätte, mich abzufangen. Es kam nicht dazu, denn auf einmal waren da Hände, schlossen sich um meine Taille und fingen mich.

Jarrett setzte mich ab und ließ mich los. Mit wackligen Knien stand ich inmitten von Unkraut und wusste nicht, was ich sagen sollte. Er hatte mich aus der Luft gefangen. Was ebenfalls noch nie jemand getan hatte, der nicht mit Nachnamen Pöltl hieß.

Ich drehte mich zu ihm um, hauchte »Danke« und schaffte es für den Bruchteil einer Sekunde, ihm in die Augen zu schauen.

Er nickte, hob die Latten auf und hielt mir eine hin. Ich nahm sie und folgte ihm durch den mit Unkraut bewachsenen Garten. Das Herz schlug mir bis zum ausgetrockneten Hals, mein Kreislauf war jetzt in Fahrt, der Schwindel Vergangenheit und die Kopfschmerzen zur Nebensache verkommen. Denn meine Adrenalinproduktion lief auf Hochtouren.

Wir sprachen nicht, liefen stumm über den Kiesweg, der vom Haus zur Stadt führte. Hinter uns war alles ruhig, der Androide schien nicht bemerkt zu haben, dass wir das Kleinod auf dem Lande verlassen hatten. Auch vor uns war alles ruhig, aber mit jedem Schritt kamen die Häuser näher und Jarrett fing an, die Latte wie einen Baseballschläger zu halten. Ich machte es genauso. An irgendetwas musste ich mich festhalten. Und mein Daumen konnte seine Kreise auch auf die Latte malen.

Ich versuchte, gleichmäßig zu atmen. Die Drohnen waren weg und wir brauchten nur einen Wasserhahn. Wir mussten die Stadt nicht durchqueren.

Ein Stück vor uns mündete der Weg in eine Straße. Die Laternen funktionierten und warfen warmes, gelbes Licht auf den Asphalt. Es sah einladend, regelrecht freundlich aus. In den Häusern brannte nirgendwo Licht. War es sämtlichen Bewohnern dieser Stadt wie Lauren Giddey ergangen? Oder gab es Überlebende, die in dunklen Kellern oder Dachböden ausharrten, bis irgendwann alles wieder normal war? Es musste sie geben, aber würden wir sie finden? Würde uns das Schicksal ins richtige Haus führen oder in eine tödliche Falle?

Es waren große Häuser, die auf großen, gepflegten Grundstücken standen, mit breiten Einfahrten, Doppel- und Dreifachgaragen. Es war offensichtlich, dass die Leute in dieser Straße Geld hatten, und wer Geld hatte, gab es gerne für Komfort, Technik und Sicherheit aus. Gestern jedoch hatte sich das alles ins Gegenteil verkehrt und Autos, Haushalts- und Wachandroiden waren zum Risiko geworden. Zur Todesursache Nummer eins.

Unsere Sneakers knirschten über den Kies. Die Straße rückte näher, doch die ersten Gärten grenzten schon an den Weg und sie waren nicht umzäunt.

Jarrett deutete auf das Grundstück links von uns. Ich nickte und betete, dass es dort eine dunkle Ecke mit einem Wasserhahn oder von mir aus auch einen Rasensprinkler gab.

Das Gras schluckte unsere Schritte. Es war kurz gemäht, machte aber stellenweise einen ziemlich vertrockneten Eindruck. Einen Sprinkler konnte ich mir abschminken, aber einen außen liegenden Wasseranschluss musste es doch geben. Gehörte so etwas nicht zur Grundausrüstung von Häusern?

Aus der Dunkelheit löste sich ein Schatten. Hätte meine Blase Flüssigkeit enthalten, ich hätte mir vor Angst in die Hose gemacht. Doch was da auf uns zurollte, war nur ein Mähroboter. Ziemlich groß, aber keine wirkliche Gefahr, sofern wir ihn nicht über unsere Füße rollen und unsere Sneakers zerhäckseln ließen.

Jarrett nahm eine Hand von seinem Prügel und legte einen kleinen Sprint ein. Er rannte in den angrenzenden Garten und ich schaffte es halbwegs, mit ihm Schritt zu halten, trotz meiner verkaterten, entwässerten Muskeln. Einen Moment lang hoffte ich, dass zumindest der Roboter stehen bleiben würde, weil unter der Grasnarbe ein Begrenzungskabel lag. Wenn dem so war, dann definierte es nicht länger seinen Bewegungsradius. Der Roboter war frei, die Welt zu sehen, doch sein sehnlichster Wunsch war es offenbar, die Kappen unserer Turnschuhe abzusäbeln. Er blieb uns auf den Fersen und aus dem Dunkel klackerte ein weiterer Mähroboter heran. Jarrett stöhnte, aber es klang nicht verängstigt, sondern genervt.

Aus dem nächsten Garten grüßten zwei beleuchtete Fahnenmasten. An dem einen baumelte träge die US-Flagge, an dem anderen etwas, von dem ich nicht sicher war, ob es eine Flagge oder ein horizontaler Wimpel war. Auch hier prangten Sterne und Streifen auf dem Stoff, aber die Anordnung war anders als auf der Amerikaflagge und außerdem war da noch ein Kreis. Oder war es ein O? Ein O für Ohio? Wenn das so etwas wie ein Bundesstaatswappen sein sollte, war es ganz schön hässlich.

Wir hielten uns fern von den beleuchteten Masten, doch unter ihnen rollte ein weiterer Roboter heran. Jarrett, der inzwischen an meiner Seite joggte, rollte mit den Augen.

Im darauffolgenden Garten reagierte ein Bewegungsmelder, obwohl wir alles andere als nah an der Terrasse vorbeiliefen. Strahler gingen an und beleuchteten Rasen und Wände. Im Haus selbst glimmten zwei kleine rote Punkte auf. Sie wuchsen und während ich vor Schreck zu laufen aufhörte, sprangen die roten Punkte aus der offen stehenden Terrassentür. Die Wandstrahler ließen ihnen einen Körper wachsen, der über die Terrasse und den Rasen auf uns zuwieselte. Ein Roboterhund. Ein Spielzeug für Kinder oder vielleicht auch ein Gefährte für einsame alte Damen. Das Ding fletschte seine kleinen Plastikzähnchen, doch Jarrett trat nach ihm. Einmal, zweimal, dann hielt nur noch ein Kabel den Kopf am Rumpf. Als Jarrett es abriss, hörten die Beinchen schlagartig zu strampeln auf. Die roten Augen erloschen.

»Lass uns von hier verschwinden!«, zischte Jarrett. Ich nickte, denn mir gruselte davor, was in diesem Haus sonst noch lauern konnte.

Das nächste Grundstück war umzäunt. Der Zaun überragte uns, was Jarrett vermutlich nicht aufgehalten hätte, für mich jedoch war er ein nahezu unüberwindbares Hindernis. Unentschlossen schaute Jarrett sich um. Nach vorne zum Zaun. Nach hinten, wo die Mähroboter heranrollten. Nach links, wo nach dem Garten freies, dunkles Feld begann. Und nach rechts, wo die beleuchtete Straße lag.

Ich wusste, was er dachte. Über den Zaun konnte er mir nicht helfen und zurück wollten wir nicht. Aufs Feld und raus aus der Stadt konnten wir erst, nachdem wir an Wasser gekommen waren, und damit blieb nur eine Option. Die Straße.

Wir verlangsamten unsere Schritte erst, als wir sie erreicht hatten. Ich legte eine Hand auf mein T-Shirt und rieb mein galoppierendes Herz. Wenn es weiter so wild pochte, würde das die Ursache meines Todes sein und nicht die Maschinen. Mein Blick flog über die Häuser auf der anderen Straßenseite. Überall standen die Türen offen. Ich machte Jarrett darauf aufmerksam, doch wir wagten nicht, Worte darüber zu verlieren. Vor allem aber wagten wir es nicht, die Häuser oder die Grundstücke zu betreten. Also gingen wir weiter, vorbei an verwaisten Hofeinfahrten, leeren Garagen und sich langsam drehenden Gartenwindrädern.

Die Wohnsiedlung für Betuchte endete mit unbebauten Wiesenflächen beidseits der Straße. Auf der linken Seite schloss eine asphaltierte Fläche an, die einem Autohandel zu gehören schien. Melton Cars stand auf einem beleuchteten Werbeschild, das auf der Ladefläche eines alten, aufgemotzten Pick-ups mit übergroßen Reifen angebracht war – dem einzigen Fahrzeug auf dem Gelände. Ich hatte mehr als eine Ahnung, wo die richtigen Autos abgeblieben waren, aber im Augenblick gab es Wichtigeres. Die Leuchtreklame bezog ihren Strom mutmaßlich von den Solarzellen auf dem Dach des Verkaufscontainers – und wo es Strom gab und jemand Autos verkaufte, gab es vielleicht auch einen Kühlschrank mit Getränken. Vielleicht auch nicht, aber irgendwo mussten wir unser Glück ja versuchen.

Also gingen wir auf den Container zu, dessen Tür offen stand, was praktisch, aber auch unheimlich unheimlich war. An der Längswand des Containers waren Reifen gestapelt. Gewöhnliche, nicht so riesige, wie man sie an den alten Pick-up montiert hatte. In einem Versuch, mich zu beruhigen, las ich, was außer dem Firmennamen noch auf dem Werbeschild stand. Der Ort, an dem mein Leben enden würde, hieß Hatford Dale.

Der Container besaß ein Fenster und nachdem Jarrett hineingesehen hatte, traute auch ich mich. Aber ich konnte nicht viel sehen. Eine Schrankwand versperrte die Sicht. Zu hören war nichts. Alles war still. Gespenstisch still. Jarrett schlich zur Tür, ich hinterher. Sie war nicht ins Schloss gezogen und bis jemand sie reparierte, würde sie auch nicht mehr geschlossen werden können, denn irgendjemand hatte sie gewaltsam aufgebrochen. Oder eher: ein nichtmenschliches Etwas.

Auf meinen Armen stellten sich Heerscharen von Härchen auf. Jarrett umklammerte die Holzlatte und schob mit dem Fuß die Tür weiter auf. Auf seinen Händen traten die Sehnen hervor. Er machte einen kleinen Schritt, dann drehte er sich ruckartig um die eigene Achse, blickte umher und nahm schließlich den Prügel runter.

»Es ist niemand hier.«

Meine Härchen legten sich wieder. Da nun auch Feiglinge und Memmen den Container betreten durften, ging ich hinein. Es gab keinen Kühlschrank. Noch nicht einmal eine geöffnete Dose Dr. Pepper und leider auch keinen Wasseranschluss.

Enttäuscht, aber lebendig ging ich wieder hinaus. Wir liefen weiter. Auf der anderen Straßenseite beleuchteten die Laternen eine noch nicht ganz abgerissene Lagerhalle. Auf unserer Seite schloss sich an Melton Cars eine namenlose Tankstelle an, die sechs Ladestationen und Bezahlautomaten, aber kein Gebäude und damit auch keinen Shop besaß. Einen Moment lang fragte ich mich, was ich getan hätte, wenn es einen Autowaschplatz gegeben hätte. War ich schon derart verzweifelt, dass ich mir mit einem Hochdruckreiniger Wasser zweifelhafter Beschaffenheit in den Mund gespritzt hätte? Was für eine Frage. Natürlich hätte ich es getan. Und ich hätte nicht einmal mit der Wimper gezuckt.

Nach der Tankstelle folgte ein Anhängerverleih. Mit Anhängern. Die nicht selbst fahren konnten. Doch gleich danach kam eine Straße und die Autos waren so gezielt ineinandergekracht, als hätten sie die Kreuzung mit einem Autoscooter auf dem Rummel verwechselt.

In die größte Karambolage war auch ein Lastwagen mit der Aufschrift Hyland Home Care verwickelt. Die Ladebordwand war abgesenkt. Oder heruntergekracht. Unter dem Lastwagen waren Beine zu sehen. Verdrehte, verrenkte menschliche Beine. Mir wurde übel. Jarrett nickte mich vorwärts.

Auch auf dem Bürgersteig lag ein Mensch. Er rührte sich nicht, aber er schien nicht überfahren worden zu sein und da war auch kein Blut. Es gab noch Hoffnung, einen Funken zumindest. Während wir auf ihn zugingen, nahm ich eine Hand von der Latte und rieb erneut mein hämmerndes Herz. Mein Daumen rieb über meinen Zeigefinger. Er war sein eigener Herr.

Es war ein Mann, der da rücklings auf dem Gehsteig lag, nicht alt, vielleicht Mitte dreißig. Er schien nicht überfahren worden zu sein und abgesehen von Malen an seinem Hals waren da auch keine Wunden an seinem Körper. Trotzdem sah er verdammt tot aus und roch auch so. Ich drehte mich weg. In meiner verödeten Kehle schmeckte ich Galle.

»Hannah! Da!« Jarrett starrte die Straße runter. Im kalten weißen Licht einer Straßenlampe waren Gestalten zu sehen. Roboter.

Zielstrebig bewegten sie sich auf uns zu und instinktiv rannten wir in die entgegengesetzte Richtung. Aber schon nach ein paar Metern mussten wir abrupt bremsen. Auch hier näherten sich Roboter. Wir schossen herum, sprinteten auf die Kreuzung zurück und nun hielt Jarrett sich nach rechts, doch auch das war keine Option mehr. Genauso wenig wie links. Von allen Seiten kamen sie. Alles dieselben Modelle, mit weißem Kunststoff verkleidet, nur die Gelenke blau. Die Augen jedoch leuchteten rot.

»Wo kommen die auf einmal alle her?!«, quietschte ich.

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich kommunizieren sie miteinander!«

Wie die Paketdrohnen. Doch diesmal konnten wir nicht einfach wegrennen. Die Roboter näherten sich von allen Seiten. Und wir – wir standen mitten auf der gottverdammten Kreuzung und wussten nicht, wohin.

Sie umzingelten uns. Die vordersten streckten ihre Kunststofffinger wie Klauen in unsere Richtung, und als ich das sah, wusste ich, weshalb der Mann auf dem Bürgersteig tot war. Hyland Home Care. Ein Lastwagen voller Pflegeroboter. Aber jetzt pflegten die Maschinen keine Menschen mehr. Jetzt erwürgten sie sie.

Um uns schloss sich der Kreis. Verzweifelt sah ich zu Jarrett.

»Wir schlagen uns durch«, sagte er leise. »Wir müssen es zumindest versuchen.« Er drehte sich um die eigene Achse, doch wohin er auch schaute: Überall waren Roboter. Und sosehr ich auch darauf hoffte – da war keine Zuversicht in seinen Augen. Nur Angst.

»Okay.« Jarrett blies Luft aus. »Okay.« Dann reckte er seine Holzlatte, machte einen Satz nach vorn und schwang sie.

Sein Hologramm malte Schlieren in den Abendhimmel. Die Latte traf den Roboter am Arm, Zentimeter über der ausgestreckten Klauenhand. Der mit Kunststoff verkleidete Arm schlug gegen den anderen und in einer fließenden Bewegung riss Jarrett die Latte wieder herum und knallte sie der Maschine gegen den Schädel. Die roten Sensoraugen flackerten, doch der Roboter wankte kaum. Jarrett stöhnte, drosch die Latte gegen das blaue Kniegelenk und fällte die verdammte Maschine.

Doch die anderen Roboter zeigten sich kein bisschen beeindruckt, dass da einer von ihnen auf dem Asphalt lag. Und da waren so viele, die nachdrängten. Nicht nur von vorn, wo sich die aufgerissene Lücke schon wieder schloss, von überall. Und Jarrett konnte nicht überall sein. Ich musste ihm helfen. Ich, die so wenig Kraft in den Armen hatte, dass ich kaum eine Latte aus dem Lattenrost hatte brechen können. Und jetzt musste ich sie schwingen.

Ich schwang sie. Mit allem, was ich hatte. Todesangst verleiht Flügel. Ein bisschen zumindest. Dem ersten Roboter schlug ich zuerst gegen die Klauenhände, dann gegen die Knie. Doch seine Hände waren nicht die einzigen, die meinem Hals bedrohlich nahe kamen. Ich fuhr herum und traf eine weitere Maschine an der Hüfte. Aber nicht sie verlor das Gleichgewicht, sondern ich. Ich konnte keinen Gegenschwung folgen lassen und schon waren die Kunststoffhände meinem Hals näher als meine eigenen. Ich riss die Latte hoch, stieß sie von unten gegen die ausgestreckten Arme und trat gleichzeitig nach einem blauen Knie. Der Roboter knickte ein, kippte ein Stück nach vorn und mit einem tiefen Schwung gab ich ihm den Rest.

Nach Luft schnappend schoss ich herum und drosch auf den nächsten Hyland-Roboter ein. Wir sprachen uns nicht ab, Jarrett und ich, aber irgendwie fügte es sich, dass wir Rücken an Rücken kämpften. Doch wofür? Die Roboter, die zu Boden gingen, kamen wieder hoch. Steif und ungelenk, aber dem Anschein nach unversehrt. Ich schlug hoch, tief, von der Seite, frontal, doch die Kunststoffschale hielt jeden Schaden von der dahinter befindlichen Technik ab.

»Das führt zu nichts!«, keuchte ich, was im Grunde nicht stimmte, denn genau genommen führte das alles schon zu etwas. Nämlich zu Atemlosigkeit, völliger Erschöpfung, langsamen Reflexen, schwächlichen Schlägen und letztlich zum Tod durch Erwürgen.

»Wir müssen uns eine Schneise schlagen!«, keuchte Jarrett zurück. »Du gibst die Richtung vor! Ich halte uns den Rücken frei!«

Scheiße. Wahrscheinlich hatte Jarrett recht und es war besser, wenn er sich im Rückwärtsgehen gegen die Roboter zu behaupten versuchte. Aber kämpfend die Richtung vorgeben war nicht gerade eine Aufgabe, die nach Hannah Pöltl schrie.

Ich visierte blaue Kniekehlen und weiße Arme an. Schwang die Latte, trat und kickte. Dazwischen ging ich vorwärts, machte kleine Schritte und einen großen Satz über einen zu Boden gegangenen Roboter. Längst nicht alle fielen auf den Asphalt. Manche schwankten nur. Wieder andere wackelten nicht einmal. Die Abwärtsspirale hatte begonnen.

Immerhin kamen Jarrett und ich vom Fleck, wenn auch nur langsam. Meist blieb er hinter mir, manchmal war er auch neben mir. Wir bewegten uns, waren jetzt wieder in der Straße, aus der wir gekommen waren, aber die Robotermeute bewegte sich mit uns. Ich hatte kaum noch Luft, meine Schläge wurden immer kraftloser, meine Reflexe langsamer. Die Abwärtsspirale drehte sich immer schneller.

Und dann war ich endgültig zu langsam. Einer der Roboter bekam meine Latte zu packen und so verzweifelt ich auch an ihr zerrte – ich schaffte es nicht, sie seinem Klammergriff zu entreißen. Der Roboter war stärker. Viel stärker, was kein Wunder war bei einem Modell, das dafür gebaut war, bettlägerige Menschen zu mobilisieren. Er wand die Latte aus meinen Händen und da er offenbar ein kluges Kerlchen war, schwang er sie nun selbst. Er schwang sie hoch und ich schaffte es im letzten Moment, mich zu ducken.

Ich hörte, wie Jarrett aufstöhnte. Die Latte, die mich verfehlt hatte, war ihm ins Kreuz gefahren, und diesen Moment der Schwäche nutzte ein anderer Roboter, um Jarrett seine Latte zu entreißen. Jetzt konnten wir uns nicht mal mehr wehren.

Jarretts Roboter schlug hoch, doch Jarrett tauchte unter der Latte durch und wand sich um seinen Gegner herum. Mein Roboter schlug tief und ich sprang, als wäre ich wieder sieben und die Latte ein Springseil. Und damit fällte der tief schlagende Roboter seinen Kollegen, um den Jarrett sich herumgewunden hatte. Jarrett entriss ihm seine Latte und teilte krachend aus.

Jetzt war auch meine Latte wieder frei, und so schnell ich konnte, hob ich sie auf und schwang sie gegen die nachrückenden Maschinen. Ich weiß nicht, ob es der Schreck und die Flut an Adrenalin waren oder ob ich irgendwo in meinem Körper eine noch nicht angezapfte Energiereserve fand – jedenfalls zeigten meine Schläge wieder Wirkung. Es reichte nur selten, um die Roboter zu Fall zu bringen, aber fürs Erste konnte ich sie mir zumindest vom Leib halten.

Wir waren wieder in Bewegung, hatten den Anhängerverleih passiert und befanden uns nun neben der Tankstelle ohne Tankstellengebäude. Doch die Hyland-Armee vermochte jedes Loch zu stopfen, das wir vorübergehend in sie hineinrissen, und marschierte im Gleichschritt mit uns mit. Manche der Roboter, die außer unserer Reichweite waren, schoben sich an ihren Kameraden vorbei und schnitten uns von vorne den Weg ab, sodass sich der Pulk vor uns einfach nicht lichtete. Die Schneise, die wir in das weiß-blaue Kunststoffmeer schlugen, war kein Fluchtweg, sondern eine Sackgasse.

»Das bringt nichts!«, kreischte ich, denn genau so war es. Die Roboter würden uns bedrängen, bis ihnen der Strom ausging und ihnen nichts übrig blieb, als sich an von der Sonne befeuerten Ladestationen anzustöpseln – und bis es so weit war, konnten noch Stunden vergehen.

Trotzdem. Eine andere Chance hatten wir nicht. Wir mussten irgendwo ausharren und darauf hoffen, dass wir länger durchhielten als die Roboter. Aber wo? Wo konnten wir die ganze Sache aussitzen, ohne uns permanent verteidigen zu müssen?

Die Lösung fing mit M an und hörte mit elton Cars auf.

Schwingend, schlagend und tretend nahm ich Kurs auf den Verkaufscontainer. Ich wusste, dass die Tür kaputt war (vermutlich ein Werk der Roboter), aber ich wollte auch nicht in den Container, ich wollte auf ihn. Und dank der Reifen, die in unterschiedlich hohen Stapeln daneben lagen, glaubte ich auch, dorthin kommen zu können.

Ich hechelte inzwischen wie der Border Collie, den Mara zu ihrem achten Geburtstag bekommen hatte. Aber so atemlos ich auch war, ich musste Jarrett einweihen, denn wir hatten den Container erreicht.

»Jarrett – wir – müssen – aufs – Dach!«, presste ich hervor. Den kläglichen Rest meiner Luft brauchte ich, um auf die Reifen zu klettern und mir die Roboter vom Leib zu halten.

Endlich einmal war ich im Vorteil, denn mit dem Steigen auf wacklige Gummireifen hatten diese Mistkerle größere Probleme als ich. Ich schaffte es, den Roboter, der mir von der Seite auf die Pelle rückte, zurückzudrängen, und zog mich auf einen hohen Stapel. Um die Latte zu schwingen, war ich schon zu hoch, also warf ich sie aufs Dach und trat nach dem Roboter. Jarrett war neben mir. Sein Reifenstapel war niedriger, aber ich zweifelte nicht daran, dass er es von dort auf den Container schaffen konnte. Ich trat noch einmal, dann versuchte ich es von meinem erhöhten Standpunkt aus. Nannte man das Klimmzug? Ich hing an der Containerkante, meine Beine baumelten über Reifen und Robotern und plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich es nur auf den Heuballen geschafft hatte, weil Jarrett mich geschoben hatte. Hatte er mich am Hintern gepackt? Er hatte mich am Hintern gepackt. Mann, wie peinlich.

Das Mondlicht tilgte die mutmaßlich stoppschildrote Farbe meiner Wangen, aber nicht die Hitze, die sie überzog. Diesmal würde ich es alleine schaffen, nahm ich mir vor, und obwohl ich in den letzten Jahren nicht viele Vorsätze in die Tat umgesetzt hatte (nicht im realen Leben jedenfalls) – dieses eine Mal klappte es. Zu meinem grenzenlosen Erstaunen wuchtete ich mich aufs Dach des Containers. Zweifellos alles andere als elegant, aber trotzdem. Trotzdem.

Keine zwei Sekunden später war Jarrett neben mir. Unter uns reckten die Hyland-Roboter ihre Würgehände, aber sie kamen nicht hoch genug.

Zwei versuchten, über die Reifenstapel aufs Dach zu gelangen, aber einer fiel rücklings auf den Asphalt, der andere rutschte in die Reifen und blieb darin stecken. Nur die Arme und der Kopf schauten noch heraus und in meinen Gehirnwindungen ploppte das Bild dieses Werbemännchens auf, dessen Körper aus nichts als Reifen bestand. Ich kam nicht auf den Namen, aber Hauptsache, die Roboter kamen nicht auf den Container. Ganz offensichtlich waren sie nicht zum Klettern und Springen konstruiert.

Japsend, aber erleichtert ließ ich mich auf eine freie Stelle des Dachs sinken, auf dem mehrere Solarzellen aufgestellt waren. Am Himmel leuchteten eine Menge Sterne, was hübsch war und sich irgendwie exklusiv anfühlte, denn vielleicht gab es ja nur noch Jarrett und mich auf der Welt. Oder zumindest in Hatford Dale. Gut, einige der Einwohner mussten sich rechtzeitig im Keller oder auf dem Dachboden verbarrikadiert haben, doch da würden sie auch bleiben, bis die Maschinen nicht mehr verrücktspielten. Und Jarrett und ich, wir würden auf diesem Dach bleiben müssen, bis die Hyland-Home-Care-Armee abzog oder energielos zusammenklappte.

Wartend auf einem Containerdach zu liegen, war nicht das Übelste auf der Welt, aber wir waren immer noch dehydriert und das schlimmer als zuvor. Mein Körper bestand inzwischen wahrscheinlich nur noch zu einem Bruchteil aus Wasser, meine Kopfschmerzen meldeten sich mit Karacho zurück und – Achtung, neu! – in meinem linken Bein und meinem rechten Arm bekam ich Krämpfe. Immerhin erst jetzt, nicht mitten im Gefecht. Aber schmerzhaft war es trotzdem. Tja, sich eine Schlacht mit Robotern zu liefern, war der Aufrechterhaltung von Körperfunktionen nicht gerade zuträglich. Aber hey, noch lebten wir.

»Dieses Dach war unsere Rettung«, brach Jarrett das Schweigen, das eindeutig auch an einem Mangel an Flüssigkeit lag. Er nahm den Batmanrucksack vom Rücken, holte die Flasche mit dem Bodybuilder-Konzentrat heraus und hielt sie mir hin. Ich rappelte mich auf und setzte sie an meine zerklüfteten Lippen an. Mit Müh und Not brachte ich einen Schluck herunter.

Wir tranken abwechselnd, lauter kleine Schlucke, bis die Flasche leer war. Dann warf Jarrett sie einem der Roboter an den Kopf. Weiches Plastik traf auf hartes. Ich fragte mich, ob der Roboter überhaupt etwas gemerkt hatte.

»Jetzt haben wir nur noch ungekochte Nudeln, Socken, ein Taschenmesser und das Spray«, sagte Jarrett und zog den Reißverschluss des Rucksacks zu.

»Meinst du, wir kommen hier jemals wieder runter?«

Er zuckte verhalten mit den Schultern. Immer noch besser, als da unten zu sterben, schien sein Blick zu besagen.

Und er hatte recht damit. Lieber dehydriert als erwürgt. Schätzte ich.

»Das ist ein Monstertruck, oder?« Er meinte den alten, zum Werbehingucker umfunktionierten Pick-up. Das einzige Fahrzeug, das noch auf dem Verkaufsgelände stand.

»Was ist ein Monstertruck?«

»Ein für Shows hergerichtetes Auto mit riesigen Reifen. Riesig, damit man auf alte Schrottautos fahren und sie plattmachen konnte. Früher mal.« Jarrett raffte sich auf, nahm eine unserer Latten und ging zum Rand des Dachs. Wo er ausholte und die Latte auf die Ladefläche des Pick-ups warf. Dann ging er an mir vorbei zum anderen Ende des Containerdachs, holte kurz Luft und rannte los.

»Was …?« Die Worte blieben mir in der vertrockneten Kehle stecken.

Das Containerdach dröhnte, während Jarrett an mir vorbeisprintete und von null auf Was-weiß-ich beschleunigte. Dann sprang er und mit einem Mal war alles still. Er sprang über die nach oben gereckten Arme der Roboter und wie gesagt – ich war nicht gut darin, Entfernungen zu schätzen, aber vom Containerrand zum Monstertruck war es viel zu weit.

Doch offenbar nicht für Jarrett. Er kam auf einem der riesigen Räder auf, genauer gesagt auf dem rechts hinten, schaffte es, nicht gegen die Seitenwand der Ladefläche zu krachen, und hielt sich an ihr fest, bis er sein Gleichgewicht wiederhatte. Bevor die Roboter seine Füße zu greifen bekamen, zog er sich auf die Ladefläche.

Ich war vor Aufregung hochgeschossen. Sicher, ich war froh, dass er es geschafft hatte, aber irgendwie war ich gleichzeitig auch wütend. Was war das für ein verrückter Sprung! Und wozu überhaupt?

»Warum hast du das gemacht?!«

Er antwortete nicht. Stattdessen beugte er sich nach vorn zur Fahrerkabine und betätigte den Türöffner. Ohne Erfolg. Die Tür war abgeschlossen. Doch Jarrett hob die Holzlatte auf und schwang sie. Klirrend zerbarst die Scheibe. Er bugsierte die scharfkantigen Glasreste aus dem Rahmen, machte sich lang und entriegelte von innen die Tür. Dann stieg er über die begierig ihre Klauen reckenden Roboter in die Kabine, wo er sich umsah und ausgiebige Blicke in Türfächer und Konsole warf.

Ich glaubte mittlerweile zu wissen, was ihn ritt, aber dieser Monstertruck war nicht mehr als eine Werbefläche, ein Hingucker für den Handel mit richtigen, zeitgemäßen Autos. Er war definitiv nicht Little John. Und selbst wenn er noch fahrtüchtig sein sollte (ein verdammt großes Wenn): Wir hatten nicht einmal einen Schlüssel.

»Schau mal, was ich im Handschuhfach gefunden habe!« Jarrett beugte sich aus der offenen Tür. In seiner Hand baumelte … »Ein Ersatzschlüssel, Hannah!«

Jarrett strahlte, aber ich lächelte nicht mal. Ein Schlüssel, wirklich cool, aber das hieß noch lange nicht, dass der Pickup auch ansprang. Was ich gerade zur Sprache bringen wollte, aber Jarrett war schon auf den Fahrersitz gerutscht, hantierte mit dem Schlüssel und wahrscheinlich drückte er auch irgendwelche Pedale.

Scheppernd sprang der Motor an. Er war laut, abartig laut, aber das war so was von egal. Wichtig war nur, dass ich mich gründlich geirrt hatte. Das da drüben war Little John 2.0, mit noch größeren Reifen, anderer Lackierung und Werbeschild auf der Ladefläche. Aber verdammte Kacke, das Ding funktionierte noch! Und was immer Jarrett da tat – er hielt den Motor am Laufen. Seit den holprigen Startversuchen von Little John the Original hatte er eindeutig dazugelernt.

»Die Tankanzeige ist im roten Bereich. Aber es reicht hoffentlich, um uns hier rauszubringen!«

Das wär der Wahnsinn, Jarrett, wirklich. Nur … ich, äh, kann nicht so weit springen wie –

»Ich hol dich ab, Hannah!«, rief er und dann fuhr er tatsächlich los. Die Roboter setzten ihm nach, während er am Lenkrad kurbelte und in einer lang gezogenen Kurve wieder auf den Container zuhielt. Auf die roboterfreie Seite, wo er so abrupt bremste, dass sein Kopf beinahe aufs Lenkrad knallte.

»Komm, Hannah! Jetzt!«

Es war nicht weit vom Dach zur Ladefläche, aber ich war nun mal nicht Jarrett. Gleichzeitig konnte ich aber auch nicht von ihm erwarten, dass er den Truck noch näher an den Container heranmanövrierte. Ich musste meinen hageren Arsch schon selbst retten.

Also nahm ich Anlauf. Das Containerdach dröhnte ein bisschen unter meinen Schritten und dann war ich auch schon am Rand und musste springen. Ich schloss die Augen, schwebte für eine geschätzte Viertelsekunde durch die Luft, dann landete ich unsanft. Aber nicht auf dem Asphalt, auf der Ladefläche.

Jarrett drehte sich zu mir um. »Magst du erst mal hintenbleiben?«

Ich mochte, denn ich war mir alles andere als sicher, ob ich es von der Ladefläche in die Kabine schaffen würde. Außerdem hatten die Roboter den Pick-up umringt. Auf einmal musste ich an den Androiden der Giddeys denken, der mit seinem Barbecuespieß gegen die Felge des Traktorrades gestochen hatte. Die Hyland-Modelle hatten keine Spieße, aber auch sie besaßen eine künstliche Intelligenz. Und die Reifen des Monstertrucks Ventile.

»Jarrett, fahr los! Schnell!«

Die Reifen quietschten. Die Roboter an den Seiten wurden weggeschleudert, die vor der Motorhaube überfahren. Knackend wie die Schalen von Haselnüssen brachen ihre Kunststoffpanzer auf. Es holperte und ich fiel rücklings auf die Ladefläche. Aber scheiße nochmal, wir hatten es den Hyland-Würgern gezeigt!

Jarrett lenkte eine wilde Kurve und ich beeilte mich, meine Arme um eine der Werbeschildstangen zu winden, die auf der Ladefläche verschweißt waren. Wir rumpelten auf die Straße und ich blickte zurück zum Autohandel der Meltons, denen wir das letzte verbliebene Fahrzeug und ihren Eyecatcher geklaut hatten. Als Gegenleistung hatten wir ein Dutzend zermalmter Pflegeroboter zurückgelassen. Die, die nicht unter die Räder gekommen waren, liefen uns auf die Straße nach, aber sie hatten nicht den Hauch einer Chance, mit uns Schritt zu halten.

Jarrett drückte aufs Gas. Am Anhängerverleih und der kleinen Tankstelle vorbei rasten wir auf den Schrottplatz zu, der bis gestern eine Straßenkreuzung gewesen war.

»Halt dich fest!«, rief Jarrett und als wäre das hier eine dieser Monstertruck-Shows von früher, fuhren wir über eine ausgebrannte Limousine und plätteten sie. Ich schrie, aber es war ein Schrei wie in der Achterbahn. Und nach all dem Schrecken war das nicht nur eine willkommene Abwechslung, es war auch eine Befreiung.