Socken, Pflaster, Größenwahn

Hannah

Ich keuchte nicht mehr. Ich lächelte sogar ein bisschen, weil ich lebte und das Auto rauchte. Und weil es meine Errungenschaft war, dass es rauchte. Aber dann sah ich Jarrett und da lächelte ich nicht mehr.

»Hannah, ich …« Er trat auf mich zu und während mein Daumen ruhig war, knetete er nervös die Hände. »Ich wollte nicht, dass du wegrennst. Ich … Oh, verdammt!« Er hatte meine Verletzungen von den umherschießenden Scherben bemerkt. »Bist du okay?!«

Ich blickte auf meine Hände und Arme, auf die blutigen Striemen, die die Glassplitter auf meiner Haut hinterlassen hatten. Mein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber ich spürte eine Wunde auf meiner Wange und falls sie eine Narbe hinterließ, hatte sich das Thema Real Life wohl endgültig erledigt. Ich war also durchaus besorgt, aber ich sagte nicht, was ich dachte, sondern: »Das sind nur Kratzer.« Jarrett gegenüber wollte ich keine Schwäche mehr zeigen.

Stattdessen war endlich einmal er unsicher, wusste weder, was er sagen, noch, was er mit seinen Händen tun sollte. Es war äußerst befriedigend, ihm dabei zuzusehen und mich zur Abwechslung mal überlegen zu fühlen.

»Es tut mir leid, Hannah.« Er machte einen Schritt auf mich zu, steckte eine Hand in die Hosentasche und holte eine Zahnpastatube heraus. »Du konntest nicht wissen, warum ich so versessen aufs Zähneputzen bin.« Diesmal schleuderte er mir das Wort nicht entgegen, sondern sprach es normal, fast schon sanft aus. »Du hast nur gefragt und … eigentlich ist es schön, dass du fragst und wissen willst, warum ich bin, wie ich bin. Es gibt nicht viele Leute, die sich wirklich für mich interessieren. Ich meine, es gab nicht viele. Es ist nur … Da ist so eine Wut in mir drin und wenn sie rauskommt, bringt sie mich dazu, Menschen zu verletzen, die ich eigentlich nicht verletzen will. Es stimmt, Lauren hat mich gebeten, Zeit mit dir zu verbringen, aber sie ist tot und ich hätte dir das überhaupt nicht erzählen sollen, denn es ist überhaupt nicht mehr wichtig. Wir sollten zusammenbleiben, Hannah, und das sage ich nicht, weil Lauren Giddey es gewollt hätte, sondern weil ich es gerne möchte. Und weil dieser Wahnsinn noch nicht vorbei ist.«

Seine Augen waren wie Magnete für mich: Ich konnte mich ihnen einfach nicht entziehen. Und der Ausdruck in ihnen machte mich glauben, dass er seine Worte ernst meinte, was mich nicht kaltließ. Außerdem durfte ich nicht den Fehler machen, in Größenwahn zu verfallen. Ich war jetzt zwar ein Autokiller, aber ich war auch immer noch Hannah Pöltl.

Und trotzdem. Es reichte mir nicht, dass es vernünftig war, der Apokalypse zu zweit zu trotzen. Ich wollte mehr, ich wollte eine Bestätigung, dass es Jarrett bei alldem auch wirklich um mich ging. Selbst wenn das größenwahnsinnig war.

»Wir wissen doch beide, dass ich dir nur lästig bin. Oder warum genau willst du auf einmal, dass ich bei dir bleibe?«

»Du bist nicht lästig, Hannah. Du bist clever, hast gute Ideen und … stellst mir Fragen, die nicht einfach für mich sind, aber viel besser als die, die mir die meisten anderen stellen. Aber du kannst auch witzig sein und außerdem …«

Er brach ab, drückte verlegen auf seiner Zahnpastatube herum. Ich hätte gerne noch gehört, was nach dem »außerdem« gekommen wäre und wenn ich ehrlich war, wünschte ich mir auch, dass es noch irgendetwas Nettes über mein Äußeres gewesen wäre. Dass ich auf meine Art doch hübsch war oder so was. Aber ich wollte auch nicht komplett dem Größenwahn verfallen, was er über meine inneren Werte gesagt hatte, war mehr, als ich je von einem Jungen aus Fleisch und Blut vernommen hatte.

Clever. Witzig. Gute Ideen. Gute Fragen. Hatte er wirklich über Real-Life-Hannah-Pöltl gesprochen? Er hatte. Und als ich mir das vor Augen führte, spürte ich, wie sich irgendwo in mir drin ein Knoten löste.

Es fühlte sich gut und befreiend an und am liebsten wäre ich einfach nur dagestanden und hätte diese ungeahnte Veränderung genossen, aber Jarrett wartete auf so etwas wie eine Antwort.

»Okay«, sagte ich und rieb mit dem Daumen über den Zeigefinger. So überwältigt ich war, ich war auch wieder nervös. Doch diesmal verurteilte ich mich nicht dafür. Wenn einem zum ersten Mal ein Junge sagte, dass man clever, witzig und so weiter war, war es in Ordnung, ein bisschen nervös zu sein, schätzte ich.

»Okay … Heißt das, dass wir gemeinsam weiterziehen?« Kein Wunder, dass Jarrett nachfragte, denn Okay war nicht gerade eine eindeutige und entschiedene Antwort gewesen.

»Ja«, sagte ich und lächelte. Und dann lächelte auch er und alles, was noch fehlte, war ein Feuerwerk.

Doch wir hatten nur das rauchende Auto und Jarrett meinte, wir sollten verschwinden, ehe es zu brennen anfing, denn er hätte keine Ahnung, ob auch Solarmodule brennen konnten und wenn ja, wäre das ziemlich übel für uns. Ich glaubte, dass er das nur sagte, weil er nervös war und ich nicht der einzige Mensch sein konnte, der in diesem Zustand die Kontrolle über sein Mundwerk verlor. Aber selbst wenn – wir hatten keinen Grund hierzubleiben.

Jarrett konnte nicht sonderlich gut auftreten: Eine Scherbe hatte sich durch die Schuhsohle in seine Fußsohle gebohrt. Doch das war nur eine Wunde, wenn auch eine lästige, und ich hatte ein gutes Dutzend. In seinem Rucksack war noch das Desinfektionsspray, aber wir hatten keine Pflaster und er schlug vor, dass wir zum Sunoco-Shop zurückgehen und welche suchen sollten. Doch ich wollte nicht zur Tankstelle zurück, denn es war nicht auszuschließen, dass noch andere heil gebliebene Autos auf der Suche nach Opfern durch Ohio cruisten, und ich glaubte nicht, dass ich noch einen weiteren Autokill in mir hatte. Andererseits gelangte in offene Wunden leicht Dreck und Dreck bedeutete Eiter, Eiter bedeutete schlechte Wundheilung, schlechte Wundheilung klang verdächtig nach Narben und Narben nach einem jähen Ende meines gerade ein wenig in Fahrt gekommenen echten Lebens.

»Vielleicht ist im Kofferraum des Autos ein Verbandskasten«, überlegte ich. »Sind die Pflicht in Ohio?«

Jarrett zuckte mit den Schultern, aber dann lief oder humpelte er schon zum Auto zurück.

»Warte! Was ist, wenn es zu brennen anfängt?«

»Ich beeil mich«, rief er zurück, doch der neue, humpelnde Jarrett war langsamer als der, den ich vom Paketdrohnenbombardement oder dem Sprint zurück zum Jägerstand kannte.

Außerdem wollte ich nicht mehr das abhängige Anhängsel sein. Ja, na ja, ein Teil von mir wollte es schon noch, aber andererseits wollte ich vor Jarrett auch gern so tun, als wäre ich jetzt eine neue, selbstständige und selbstbewusste Hannah. Also gab ich mir einen Ruck und rannte an ihm vorbei.

»Hannah, was …?« Er versuchte, mich einzuholen, aber ich ließ mich nicht einholen und rief, dass ich den Verbandskasten holen würde. Sollte es einen geben.

Aus der Motorhaube des – und das soll jetzt nicht angeberisch klingen – von mir gekillten Autos qualmte es mittlerweile ziemlich heftig.

»Sei vorsichtig!«, schrie Jarrett, woraufhin ich auf den Spitzen meiner Sneakers über den scherbenübersäten Boden stakste, damit es mir nicht wie ihm erging und meine neue läuferische Überlegenheit schon wieder endete.

Das Auto hatte hinten zwei platte Reifen, ansonsten war es an der Heckseite längst nicht so demoliert wie vorn. Die Kofferraumtür ließ sich noch öffnen und auch ohne Licht fand ich auf Anhieb einen Verbandskasten. Eigentlich war es eine Tasche und sie steckte links hinten, genau wie im Wagen meiner Eltern. Ich nahm sie und trippelte wie eine Ballerina, die dringend aufs Klo muss, über die Scherben zurück. Dann gingen wir über den Wartungsweg auf das Zufahrtstor zu, an dem wir mit dem Monstertruck vorbeigefahren waren. Es war verschlossen, also stiegen wir ein paar Meter daneben über den Maschendraht, den Jarrett für mich hinunterdrückte. Auf der anderen Seite angekommen, nahm er seinen Rucksack von der Schulter und räumte den Inhalt aus, bis er das Desinfektionsspray gefunden hatte.

»Streck deine Arme aus«, sagte er und schraubte den Deckel von einer Arrowhead-Flasche. »Zuerst mal müssen wir die Wunden auswaschen.«

Mit wir meinte er wohl sich und eigentlich fand ich den Gedanken, dass Jarrett das übernahm, fürsorglich und prickelnd intim. Aber auf meinen Armen wuchsen Heerscharen von Härchen, also streckte ich immer nur einen aus und goss selbst Wasser darüber. Es brannte ein wenig, aber ich wusste, das Spray würde schlimmer werden.

Jarrett holte ein Tuch aus der Verbandstasche, tropfte Wasser darauf und gab es mir, damit ich meine blutige Wange abtupfen konnte. Als das erledigt war, drückte er mir zwei von den Socken in die Hand, die wir aus einem der Pakete geholt hatten. »Hier, zum Abtrocknen.«

Vor dieser Nacht hatte ich mich noch nie mit Füßlingen abgetrocknet, aber in anderthalb Tagen Apokalypse hatte ich schon seltsamere Dinge getan. Danach sprayte ich mir Desinfektionsmittel auf Hände, Arme und die Wange. Es brannte wie Hölle auf den Wunden und obwohl ich auf die Zähne biss, konnte ich nicht nicht stöhnen.

Ohne dass ich ihn darum bat, übernahm Jarrett das Aufbringen der Pflaster, was praktisch, beängstigend und aufregend war. Praktisch, weil er zwei Hände benutzen konnte. Beängstigend, wegen der Härchen, die er vielleicht noch nicht in ihrer ganzen Bandbreite erfasst hatte, während er jetzt regelrecht mit der Nase darauf stieß, so nah wie er sich über meine Arme beugte. Doch er ließ sich nichts anmerken, schluckte nicht und rollte auch nicht mit den Augen, was mich zum dritten und letzten Punkt bringt. Auch wenn es peinlich ist, das zuzugeben – ja, das Ganze war aufregend für mich, denn bis dahin hatte ich, was Jungenfinger auf meinem Körper anging, nur die Griffel von Alexander Kragler aufzuweisen und auf die konnte ich nicht gerade stolz sein, genauso wenig wie auf den Rest von Alexander Kragler. Da war Jarrett ein ganz anderes Kaliber.

Huuhuu, Erde an größenwahnsinnig gewordene Hannah! Falls du es nicht bemerkt hast: Er klebt nur Pflaster auf deine Wunden. Pflaster. Auf Wunden. Das. Ist. Alles.

War es. Aber trotzdem fühlte es sich weit aufregender an als bei Alexander Kragler, dem es um mehr als Pflaster gegangen war.

Und während Jarrett pflasterte, was er ziemlich geschickt und sanft tat, ging auf dem Trümmerfeld das Auto in Flammen auf. Es war kein Feuerwerk, aber es unterstrich meinen Triumph. In Gedanken reihte ich ein weiteres Mal die drei Worte aneinander, die jetzt untrennbar und für alle Ewigkeiten zusammengehörten. Hannah Pöltl, Autokill–

»Was grinst du so?«

»Nichts, äh, ich …« Ich war froh, dass die Nacht mein rotes Gesicht grau färbte. »Ich bin nur irgendwie stolz, dass ich das Auto geschrottet hab.«

Jetzt lächelte auch Jarrett, nickte und machte weiter. Ich überlegte kurz, ob mein Gesicht nicht lieber pflasterfrei bleiben sollte, schließlich gehörten meine hohen Wangenknochen zu den wenigen Dingen, die ich an mir mochte, aber die Wunde war sicher auch nicht gerade sexy. Und Jarretts Finger fühlten sich gut an auf meiner Wange. Auch wenn er nur pflasterte.

Das Auto stand mittlerweile komplett in Flammen, die Solarmodule nicht. Dem Gestank nach zu urteilen, schmorten sie vor sich hin, doch richtig brennen konnten sie offenbar nicht. Wir zogen weiter, ohne noch einen Abstecher zum Sunoco-Shop zu machen, denn von öffentlichen Orten hatten wir beide genug und außerdem hörte sich ein Rucksack voller Vorräte ziemlich ausreichend an, obwohl wir beide wussten, dass es eigentlich nur fünfeinviertel Flaschen Wasser und ein paar Schokoriegel waren. Doch fürs Erste waren wir satt, nicht mehr durstig und hatten Lust, uns etwas vorzumachen.

Wir liefen über die Wiesen, aber natürlich nicht nach Hatford Dale zurück, sondern in nordwestlicher Richtung, laut Jarrett. Ich hätte ihm auch Südosten abgenommen, denn ich besaß null Orientierungssinn und jetzt in der Nacht rettete mich noch nicht mal der Kinderreim vom Lauf der Sonne. Davon abgesehen war mir die Himmelsrichtung komplett egal, wichtig war nur, dass wir so etwas wie eine nette, einsame Jagdhütte fanden. Die nach Möglichkeit am Rand eines Waldes stand und nicht mitten darin, wo Metallaffen hausten.

Ich merkte, dass Jarrett nicht gut auftreten konnte, doch er thematisierte es nicht. In unserem Rücken erleuchtete das brennende Auto den Nachthimmel, aber nach einer Weile waren wir entweder zu weit weg oder das Feuer aus. Und dann ging plötzlich auch Jarretts Hologramm aus. Wir tauschten einen kurzen Blick, in dem Überraschung und Hoffnung mitschwangen, doch die Ernüchterung folgte sogleich. Denn meine Smartwatch zeigte immer noch die beiden beknackten Sätze an, was wohl bedeutete, dass der Maschinenwahnsinn weiterging und bei Jarretts Smartwatch lediglich der Akku leer war. Kein Wunder nach anderthalb Tagen Dauerhologrammanzeige. Doch vorerst hatten wir noch meine Uhr, um in Sachen Apokalypse auf dem Laufenden zu bleiben.

Es musste mittlerweile weit nach Mitternacht sein und nicht nur ich wurde müde, sondern auch Jarrett, der ja am Nachmittag nicht geschlafen hatte.

Die Jagdhütte aus meinen Träumen wollte und wollte nicht kommen und schließlich hielten wir an einem einsam auf einem Buckel stehenden Baum an. Jarrett ließ den Rucksack auf den Boden plumpsen und ich mich.

»Das ist eine Rosskastanie«, sagte er und setzte sich ein wenig hölzern wegen seinem verletzten Fuß. »Ohios State Tree. Sozusagen ein Wahrzeichen.«

Der Baum war ziemlich mickrig, was ihn nicht gerade wahrzeichenmäßig aussehen ließ, aber mir hatte schon die mutmaßliche Ohioflagge in Hatford Dale nicht imponiert. Gemeinsam tranken wir den Rest unserer ersten Flasche Arrowhead (jetzt hatten wir nur noch fünf), teilten uns einen Butterfinger und putzten uns mit Zahnpastafingern die Zähne, da die Bürsten im Sunoco-Shop auf das Ende der Apokalypse warteten. Ich hatte mir noch nie die Zähne ohne Zahnbürste geputzt, aber es war ganz okay und da es für Jarrett auch das erste Mal war, hatten wir zumindest etwas gemeinsam. Dann verdrückten wir uns nacheinander, um unsere endlich wieder gefüllten Blasen zu entleeren. Ich fragte mich, was ich tun würde, wenn ich irgendwann nicht nur pinkeln musste – auch das war ein Aspekt, den es in der Apokalypse zu bedenken galt.

Als ich zurück war, folgte ich Jarretts Beispiel und rupfte dort, wo ich mein Gesicht abzulegen gedachte, ein paar der längeren Grashalme ab, damit sie mich nicht kitzelten. Wir lagen etwas näher beieinander als im Jägerstand und ich war ein bisschen aufgeregt deshalb, aber natürlich passierte nichts. Jarrett gähnte nur und wünschte mir eine gute Nacht, was ich ihm auch wünschte, und dann drehte ich mich weg, schob meinen vollgepflasterten Arm unter den Kopf und wartete darauf, dass ich einschlief.

Praktischerweise brauchte ich nicht lange zu warten. Blöderweise schlief ich auch nicht lange, denn die Sonne hielt sich sklavisch an den Kinderreim und ging viel zu bald und hell im Osten auf. Ich kann nicht genau sagen, wer von uns zuerst aufwachte, Jarrett oder ich, aber wir regten und streckten uns beide und schließlich sah ich aus dem Augenwinkel, wie er sich aufstützte, und schaute zu ihm rüber.

»Scheiß Sonne, oder?«

Ich nickte und lächelte ein bisschen, woraufhin auch er lächelte. Dann rieb er sich die Augen und stand auf.

»Bin gleich wieder da«, sagte er und ging in die Richtung, in die er schon vor dem Schlafengehen gegangen war. Doch diesmal war es hell und außer der Wahrzeichenkastanie hatte die Wiese keine Bäume oder Büsche zu bieten. Ich meinte, mich zu erinnern, dass Baum- und Buschlosigkeit typische Merkmale einer Steppe waren, aber was viel wichtiger war: Jarrett spürte meinen Blick auf sich. Er entgegnete ihn, woraufhin ich schnell wegsah und mich fürchterlich peinlich fand, weil ich ihm auf seinem Weg zum Pinkeln zugesehen hatte.

Beim eigentlichen Akt sah ich ihm natürlich nicht zu. Ich schaute noch nicht mal auf, als er wieder zurückkam. Ich musste selbst Pipi, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo ich jetzt, im Hellen, gehen sollte. Also blieb ich, wo ich war. Ich trank nur zwei oder drei Schlucke Wasser und lehnte auch ab, als Jarrett mir einen Whatchamacallit hinhielt.

Wir unterhielten uns ein bisschen über unsere Verletzungen, was mich an mein Schulpraktikum im Seniorenheim erinnerte, wo manche der alten Leute ritualsmäßig ihre Zipperlein aufgezählt hatten. Um es einigermaßen kurz zu machen: Jarrett hatte noch feine rote Äderchen in den Augen, ansonsten waren sie wohl wieder wie früher und meine auch. Seine Wunden von der Farmdrohne verheilten, dafür behinderte ihn seine verletzte Fußsohle, vor allem beim Auftreten. Ich für meinen Teil freute mich, dass die vom Pflanzenschutzmittel verursachten Pusteln verschwunden waren und mein Sonnenbrand laut Jarrett nicht schlimm aussah, was vielleicht sogar stimmte, denn er brannte und spannte nicht stärker als am Vortag. Dafür juckte es mich unter sämtlichen Pflastern. Doch ich widerstand dem Drang, sie abzumachen, denn wer auf dem Boden schlief, tat gut daran, das Thema Dreck in Wunden ernst zu nehmen. Außerdem waren unter den Pflastern eine Menge Härchen, weshalb das Abmachen eine schmerzhafte Angelegenheit werden würde.

Also kratzte ich durch die Pflaster hindurch und rutschte auf dem platt gelegenen Gras herum, weil ich mittlerweile dringend Pipi musste. Jarrett bemerkte es wohl, denn er schlug vor, schon mal vorauszugehen. Und was soll ich sagen? Ich nahm sein Angebot an, wartete ein bisschen und tat, was ich tun musste. Der Stamm der Rosskastanie war viel zu dünn und der Buckel, auf dem sie wuchs, viel zu niedrig, um mir Sichtschutz zu geben, aber Jarrett war nicht so peinlich wie ich und drehte sich nicht um.

Ich hatte ihn rasch eingeholt und da er nun lahmte, konnte ich auch in müdem Zustand mit ihm Schritt halten. What a difference a day makes.

Von links, was sicher auch irgendeiner Himmelsrichtung entsprach, rückte uns der Wald auf die Pelle, aber ich konnte an seinem Rand keine Jagdhütte entdecken. Noch nicht einmal einen brauchbaren Jägerstand. Wir sprachen darüber, ob wir in den Wald hineingehen sollten, doch weder Jarrett noch mich zog es so richtig dorthin, was nicht unwesentlich an unserer Begegnung mit den Forstrobotern lag. Gedanklich hielt ich mir die Option jedoch offen, auch weil ich immer noch keine Sonnencreme besaß. Fürs Erste war mir die Sonne aber angenehm, denn meine Arme und Füße waren noch ausgekühlt von der Nacht.

Wir hielten uns in Richtung mehrerer Windräder, die gar nicht so weit weg von uns in den Morgenhimmel wuchsen. In Deutschland gab es dort, wo Windräder standen, keine Häuser und in der am dünnsten besiedelten Gegend Ohios war es sicher nicht anders. Keine Häuser bedeutete ziemlich sicher keine Androiden oder Würgeroboter, aber natürlich mussten wir immer noch mit autonomen Landwirtschaftsmaschinen rechnen.

An meinen Haaren zupfte ein warmer Sonnenwind, doch die Windräder drehten sich nicht und ihre stillstehenden Rotoren warfen starre Schatten auf die Steppe. Sie sahen wie Mercedes-Logos aus, die man in Photoshop verzogen und ihrer Umrandung beraubt hatte. Tja, die Zeiten der Stromerzeugung waren in Ohio fürs Erste vorbei.

Ich fragte mich, ob es eigentlich Sinn machte, dass wir weiterliefen, oder ob wir uns nicht einfach in den Schatten eines Windrads setzen und die Zeit verstreichen lassen sollten. Aber: viereinhalb Flaschen Arrowhead. Nicht nichts, allerdings auch kein Vorrat für die Ewigkeit. Die US-Regierungshacker mussten endlich mal in die Gänge kommen und eine Softwarelösung an den Start bringen, was kein Ding der Unmöglichkeit sein konnte, wenn mit Gott doch alle Dinge möglich waren. Und wir – wir mussten wohl weiterziehen. Neues Wunschziel: Jagdhütte mit Brunnen. Alternativ: Fischerhütte am See.

Ich grübelte mal wieder ein bisschen über die beiden Sätze nach, die vielleicht so etwas wie der Schlüssel für diesen Wahnsinn waren, aber ich hatte keinen Schimmer, wer oder was hinter alldem stecken könnte. Und warum.

»Was machst du eigentlich so im Metaverse?«

Jarretts unerwartete Frage riss mich aus meinen Gedanken. Hatte er beim Marschieren über mich nachgedacht? Nein, natürlich hatte er nur meinen Daumen kreisen sehen. Und jetzt sah er mich rot werden, zum vermutlich hundertachtunddreißigsten Mal. Vielleicht war so ein richtig heftiger Sonnenbrand doch ganz erstrebenswert. Jedenfalls für jemanden wie mich.

»Äh, quatschen. Leute kennenlernen. Tanzen, feiern. Alles eben.«

»Tanzen?«

Klar, warum nicht?, dachte ich. Was ich sagte, war: »Was hast du denn so gemacht?«

»Im Metaverse? Meistens habe ich nur ein bisschen mit meinen Freunden rumgehangen. Meine Pflegeeltern haben meine Onlinezeit beschränkt.«

»Wie viel Zeit hattest du?«

»Eine Stunde am Tag.«

»Eine Stunde?!«

»Na ja, sie wollten, dass ich mich richtig mit meinen Freunden treffe. Nicht online.« Jarrett zuckte mit den Schultern. »Desmond und Jazmine sind was Technik und so angeht ziemlich altmodisch.«

»Aber … eine Stunde?!«

»Ich kann nichts dafür. Und irgendwie konnte ich sie auch verstehen, zumindest anfangs, als ich noch jünger war. Aber später habe ich mich natürlich ausgegrenzt gefühlt.«

Ein Gefühl, das ich nur allzu gut kannte – allerdings aus dem ach so tollen echten Leben, in dem ich keine einzige Freundin mehr hatte. Früher hatte ich eine beste Freundin gehabt, doch in der sechsten Klasse hatten die anderen angefangen, mich zu mobben, und nach einer Weile hatte sich auch meine Freundin beteiligt, wahrscheinlich um nicht selbst ausgegrenzt zu werden. Seitdem bedeutete das Metaverse für mich nicht nur Freiheit, sondern auch Realitätsflucht. Ich konnte dort anonym sein, aber ich war nicht unsichtbar.

Ich gab mir einen Ruck und suchte Jarretts Blick. Es gab nicht viel, was wir gemeinsam hatten, und es gab nicht viel, was ich von ihm wusste. Aber wenn ich seine Bemerkungen und die Tränen gestern richtig deutete, wollte auch er vor einer schmerzhaften Wahrheit fliehen. Es hatte mit seiner Mutter zu tun und mit seinen Pflegeeltern, die er auf eine Art und Weise verletzt haben musste, dass er nun glaubte, kein Zuhause mehr zu haben.

Sein noch frisches Kompliment über meine nicht einfachen, aber wichtigen Fragen ermunterte mich, dieses heikle Thema vorsichtig anzuschneiden.

»Wenn der Logikvirus deaktiviert ist und das alles hier vorbei ist … wohin gehst du dann, Jarrett?«

»Weißt du, warum ich mich für den Ferienjob bei den Giddeys gemeldet hatte?« Er blieb stehen und sah mich an. »Weil er mit Übernachtung war und ich nicht wusste, wo ich hinsollte. Tja, also, ich weiß es noch immer nicht.«

»Kannst du denn nicht zurück zu deinen Pflegeeltern? Zu Desmond und Jazmine?«

»Du weißt nicht, was passiert ist. Und was ich kaputt gemacht habe.«

»Nein. Aber … ich würde es gerne wissen.«

Sein Blick verlor sich im Nichts. »Du würdest es nicht verstehen. Du würdest mich nicht verstehen.«

»Vielleicht ja doch.«

Sein Mund klappte auf und wieder zu. »Das … kann ich nicht in fünf Sätzen erzählen«, sagte er schließlich. »Das ist eine längere Geschichte. Und keine schöne.«

»Ich würde sie trotzdem gern hören«, sagte ich leise. Und dann gab sich Jarrett einen Ruck und erzählte.