Hannah
Eigentlich hätte ich gerne Jarretts Geschichte verdaut oder es zumindest versuchen wollen, aber da waren diese kleine, irgendwie aus der Zeit gefallene Farm und dieses Kind. Nein, da waren zwei Kinder, die eindeutig lebten und eindeutig keine Androiden waren, denn Androiden tapsten nicht ziellos über Stoppelfelder und kauerten sich auch nicht hinter Getreidewigwams, so wie dieses kleine Mädchen und der nicht viel größere Junge, die unschuldig Verstecken spielten, während der noch atmende Rest Ohios sich tatsächlich versteckte. Oder es endlich tun wollte, so wie Jarrett und ich.
»Weißt du, was das hier ist, Hannah?«
Ich wusste, was es nicht war. Nämlich kein Wunschtraum und Hirngespinst wie die einsame Jagdhütte oder die Fischerhütte am See. Diese Farm war real und mit ihr die Tiere und Kinder, die nicht verwahrlost oder verzweifelt wirkten, weshalb es auch irgendwo Erwachsene geben musste. Und als ich das verstanden hatte, wusste ich auch, was die Farm für uns sein konnte.
»Wenn die Menschen hier nett sind, Jarrett, dann ist das der Ort, an dem wir bleiben, bis der Wahnsinn vorbei ist!«
Wir liefen den Hang hinunter und anfangs hatte ich Angst, dass dieser wahr gewordene Traum wie eine Seifenblase zerplatzen könnte. Wir gingen an Apfelbäumen vorbei, an gackernden Hühnern und der nach Scheune riechenden Scheune und nichts davon zerstob oder zerplatzte vor meinen Augen. Erst als wir den Kindern so nahe waren, dass ich einen genauen Blick auf ihre Kleidung werfen konnte, bekam ich wieder Zweifel. Der Junge trug ein kurzes Hemd, eine Stoffhose mit am Rücken überkreuzten Hosenträgern und jetzt zog er hinter einem der Getreidewigwams auch noch einen Strohhut hervor. Das Mädchen hatte ein Kleid an, aber es besaß keinen Aufdruck, keine Pailletten und noch nicht einmal ein Muster, nur ein paar Knöpfe am Rücken, das war alles – und diese einfache, altertümlich wirkende Kleidung ließ mich stutzen. Waren Jarrett und ich vielleicht durch irgendein unsichtbares Wurmloch geschritten oder auf andere Weise in der Zeit zurückgereist? Weit in der Zeit, denn noch nicht einmal meine Eltern sahen auf ihren Kinderfotos so altmodisch aus.
Ich war nicht gut darin, das Alter von Kindern anhand ihres Aussehens zu schätzen, aber die beiden hier waren noch klein, und mit klein meine ich, richtig klein, nicht so wie meine Schwester Mara. Sie waren auch barfuß, obwohl sie sich über ein Stoppelfeld bewegten, und allein beim Zuschauen konnte ich das Piksen der Stoppeln spüren. Die Kinder aber schien es nicht zu stören.
Wir waren nun schon in Hörweite. Das Mädchen beklagte sich, dass der Junge sie zu schnell gefunden hatte, und auch wenn ich es nicht glauben konnte: Das Mädchen tat es nicht in amerikanischem Englisch. Und der Junge rechtfertigte sich auch nicht auf Englisch.
»Jarrett, sie reden Deutsch!«
»Das ist Deutsch?«
»Ja. Nein. Ich meine … es ist schon Deutsch. Aber ein komisches.« Ich war verwirrt, denn die Kinder sprachen irgendeinen seltsamen Dialekt. Sie verschluckten Konsonanten, vertauschten Vokale und benutzten komische Wörter. Aber das meiste konnte ich verstehen.
»Hannah, wenn das wirklich Deutsch ist, dann … weiß ich, warum es hier keine Maschinen gibt und warum die Kinder aussehen, als hätten sie ihre Kleidung aus einem Museum!«
Jarrett kam nicht dazu, mir zu erklären, was hier seiner Meinung nach los war, denn die beiden Kinder hatten uns bemerkt. Sie waren wohl Geschwister, denn auch wenn das Mädchen blonde Haare hatte und unter dem Strohhut des Jungen braune hervorschauten, sahen sie sich irgendwie ähnlich. Das Mädchen versteckte sich hinter ihrem Bruder, spitzelte aber pausbäckig und neugierig an ihm vorbei. Der Junge starrte uns ungeniert an.
»Ferwas hoscht du so viele Blaschder?«
Die Frage galt mir. Ich verstand sie und beantwortete sie auf Deutsch, das ich seit dem Flughafen nicht mehr gesprochen hatte.
»Ich habe so viele Pflaster, weil ich vor einem Auto weggelaufen bin.«
»Au-doo?«
»Auto. Car.« Ich stellte mich schon darauf ein, Brumm-Brumm oder Vroom-Vroom zu machen, aber der Junge nickte verständig.
»Aah, Kar. Ya, Maschiene sinn iwwel.«
»Äh … ja. Ich bin übrigens Hannah. Und das ist Tschärett. Er spricht nur Englisch. Sprecht ihr auch Englisch?«
»Nee, eensich Deitsch. Awwer Maemm un Daedd duh Englisch schwetze.«
»Eure Mum und euer Dad? Könnt ihr uns zu ihnen bringen?«
»Zu ihne bringe? Allreit. Kumm, Märy.« Der Junge nahm die Hand seiner Schwester und lief mit ihr auf die beiden Häuser zu, von denen eines deutlich größer als das andere war.
»Sie sprechen kein Englisch«, wisperte ich Jarrett zu, natürlich auf Englisch. »Aber ihre Eltern. Sie bringen uns zu ihnen.«
»Oh, gut. Hannah«, er berührte mich am Arm, »das sind Amische!«
»Amische?« Irgendwo ganz hinten in meinem Kopf klingelte etwas, aber ich konnte dem Wort kein Wissen zuordnen, jedenfalls nicht auf die Schnelle. Mary und ihr Bruder drehten sich jedoch sofort zu uns um. Sie wussten, was das Wort bedeutete.
»Was hot er vunwege Amische gsaat?«, fragte der Junge mich.
»Äh, Tschärett glaubt, dass ihr welche seid. Also Amische. Stimmt das?«
»Yaa un nee«, sagte der Junge und dann lief er weiter, mit Mary an der Hand. Jarrett und ich dackelten hinterher.
»Was sind A…?«, ich verschluckte bewusst die letzten Silben.
»Eine Glaubensgemeinschaft«, sagte Jarrett. »Vor mehreren hundert Jahren von einem Schweizer gegründet, aber durch deutsche Auswanderer auch in Amerika angekommen. In Ohio hat sie immer noch viele Anhänger.«
»Und an was glauben die Menschen?«
»An Gott. An die Familie. Und an ein einfaches, abgeschiedenes Leben ohne Technik und so was. Viele Amische fahren immer noch mit Pferdekutschen.«
Mein früheres Ich, also das von vor zwei Tagen, hätte jetzt gestöhnt. Keine Technik, kein Metaverse, nur Kutschen. Apokalypsen-Hannah aber jauchzte. »Keine Technik? Echt jetzt?! Jarrett! Das heißt, wir haben den perfekten Ort gefunden, um auf das Ende zu warten!« Und mit Ende meinte ich natürlich das Ende des Maschinen-Wahnsinns, nicht das von Jarrett und mir.
Jarrett nickte und zuckte mit den Schultern. Gleichzeitig. Er war sich offensichtlich nicht so sicher wie ich.
Die Wohnhäuser waren wohl beide aus Holz gebaut, das lindgrün gestrichen war bis auf die weißen Fenster. Marys Bruder öffnete die Tür des größeren Hauses und rief: »Maemm! Daedd! Do sinn Leit fer eich!«
»Leit?! Wer, Noah?«, rief eine aufgeregt klingende männliche Stimme.
Noah kam nicht mehr dazu, unsere Namen zu nennen oder »Zwee Seldsame« oder so was zu rufen, denn sein Vater eilte schon durch den Hausflur.
»Hallo, das ist Hannah und ich bin Jarrett. Entschuldigen Sie die Störung, aber Ihr Sohn hat gesagt, Sie sprechen Englisch?«, fragte Jarrett auf Englisch.
»Ja, obwohl ich Pennsylvania-Deitsch vorziehe«, antwortete der Mann, der sich tatsächlich nicht wie ein Native Speaker anhörte. Seine Aussprache glich eher der von Alexander Kragler.
Aber er sah nicht wie Alexander Kragler aus, zum Glück, und war auch nicht so gekleidet. Stattdessen sah er wie die erwachsene Version seines Sohnes aus. Stoffhose. Hosenträger statt Gürtel. Kurzärmeliges Hemd. Braunes, etwas zerrupftes Haar. Erste kleine Fältchen um die Augen. Ein sympathisches Gesicht, auch wenn sein Blick ziemlich forschend war.
»Caleb. Caleb Shetler«, stellte er sich vor. Hinter ihm knarzten die Dielen. »Und das ist Susanna. Meine Frau.«
Susanna trug ein hochgeschlossenes, aber kurzärmeliges Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln ging und eher weit geschnitten war. Trotzdem zeichnete sich unter dem dunkelblauen Stoff ein kleiner Bauch ab. Schwangerschaftsstadien konnte ich nicht besser schätzen als das Alter kleiner Kinder, aber es waren wohl noch ein paar Monate hin, bis sie ihr drittes zur Welt brachte. Ihr hellbraunes Haar hatte Susanna hochgesteckt. An den Armen hatte sie keine Haare, jedenfalls keine sichtbaren.
»Freut mich, euch kennenzulernen«, sagte sie und lächelte freundlich. Ihr Englisch klang genauso wenig native wie das von Caleb. »Was führt euch her?«
Ach, wir wollen hier nur gerne abhängen, bis die Apokalypse vorbei ist. Passt das für euch?
Hätte ich sagen können. Müssen, wenn ich ehrlich gewesen wäre. Doch das war ich nicht und außerdem hatte ja Jarrett das Reden übernommen.
»Ich stamme aus Columbus, Hannah aus Deutschland«, fing Jarrett an und beim Wort Deutschland wurden Calebs und Susannas Mienen gleich noch ein wenig freundlicher. Jarrett bemerkte es und fuhr schnell fort, bevor die Shetlers auf die Idee kommen konnten, dass sie sich lieber mit mir auf Deutsch unterhalten wollten. Also, ich meine, auf Deitsch.
»Ich weiß nicht, wie viel Sie hier mitgekriegt haben, weil Sie ja keine Technik haben und … Sie sind doch Amische, oder?«
Yaa un nee, hatte Noah dazu gesagt und ich war gespannt, was seine Eltern sagen würden.
Calebs Lächeln erinnerte mich an das meines Vaters, wenn er über Ahnenforschung und Familienstammbäume sprach: das selige Lächeln eines Mannes, der nicht müde wurde, über sein Lieblingsthema zu dozieren. »Du hast recht, Jarrett, unsere Familie sieht sich vielen Idealen und Traditionen der Amisch verpflichtet. Aber wir Shetlers gehören weder den Amischen alter Ordnung noch denen neuer Ordnung an. Was jedoch nicht heißen soll, dass wir Eigenbrötler sind. Nein, wir stehen in regelmäßigem Austausch mit unseren Glaubensbrüdern und Schwestern und wie die Menschen in den großen Amisch-Siedlungen führen auch wir ein selbstbestimmtes Leben im Einklang mit Gott. Aber wir gehen auch unseren eigenen Weg. Susannas Kleid zum Beispiel hat kurze Ärmel – etwas, was in vielen Amisch-Siedlungen undenkbar wäre. Dort müsste Susanna sogar ihr Haar mit einer Haube bedecken. Aber wie heißt es in der Bibel: Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern lasst euch verwandeln durch die Erneuerung des Denkens, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist. Ein Leitsatz, den wir leben. Und da wir unser Denken permanent zu erneuern versuchen, sind wir zu der Auffassung gekommen, dass es nicht Gottes Wille ist, aus übersteigerter Keuschheit an einem heißen Tag wie diesem unsinnig zu schwitzen. Deshalb die kurzen Ärmel«, schloss Caleb. Seine Aussprache mochte der von Alexander Kragler gleichen, sein Vokabular aber war ungleich größer.
Calebs Monolog war nicht gerade kurz und schon gar nicht inhaltsarm gewesen und so wunderte es mich nicht, dass Jarrett vergessen zu haben schien, was er eigentlich hatte sagen wollen. Also sagte ich es. Auf Englisch, um Jarrett nicht auszuschließen.
»Wie Jarrett schon erwähnt hat: Ich komme aus Deutschland und er selbst ist auch nicht aus dieser Gegend. Wir waren auf einer Farm in Vinton County, als der Logikvirus ausbrach und jetzt … Wissen Sie eigentlich, was in Ohio los ist?«
»Was in Ohio los ist?«, wiederholte Susanna und sah ihren Mann und dann wieder uns an.
»Was … ist denn in Ohio los?« Caleb schluckte sichtbar.
Jarrett und ich versuchten, die Apokalypse, die über uns und den ganzen Bundesstaat hereingebrochen war, in ein paar Sätzen zusammenzufassen. Caleb wippte unablässig auf seinen nackten Füßen, was wohl den gleichen Zweck wie meine Daumenkreise erfüllte. Susannas Füße verhielten sich ruhig, doch mit jedem unserer Sätze weiteten sich ihre Augen mehr. Mary und Noah verstanden offensichtlich nichts oder kaum etwas, was gut war, denn unsere Geschichte war nicht gerade kindertauglich. Aber zumindest Noah blieb die Reaktion seiner Eltern nicht verborgen und als wir ans Ende unserer Kurzzusammenfassung kamen, sagte er: »Was duh die zwee plaudre?«
»Nemm Märy un geh schpiele, Noah«, erwiderte Caleb sanft. »Des iss kee Gschicht fer eich.« Er drückte die Schultern seines Sohnes, gab ihm einen zärtlichen Klaps auf den Hintern und Mary einen Kuss auf die Wange. Die beiden fassten sich an den Händen und zogen ab.
»Duh mer nochemol Versteckle schpiele?«, hörte ich Noah noch sagen, dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die beiden erwachsenen Shetlers.
»Und dieser Virus hat wirklich alle Maschinen in Ohio erfasst?«, fragte Caleb, der wieder auf seinen nackten Füßen wippte.
»Sieht ganz so aus. Also der alte Traktor und der Monstertruck waren zwar nicht betroffen, aber alle Maschinen, die über Software verfügen … Und im Radio haben sie es auch gesagt«, schob Jarrett hinterher.
»Du lieber Himmel.« Susanna griff nach Calebs Hand. »Dann muss es ja schrecklich viele Opfer geben.«
Jarrett blieb stumm. Ich wusste, an wen er dachte.
»Bestimmt«, sagte ich, »aber hoffentlich haben sich viele Menschen rechtzeitig zu Hause eingeschlossen und verbarrikadiert.«
»Ja, hoffentlich.« Susanna drückte die Hand ihres Mannes.
Jarrett schwieg noch immer und ich wusste nicht, wie ich auf das Thema zu sprechen kommen sollte, wegen dem er und ich hergekommen waren. Mein Daumen war wieder in Aktion.
»Ihr könnt natürlich hierbleiben«, sagte Susanna und lächelte uns an. »Oder müsst ihr weiter?«
Ich hätte am liebsten: Nein, wir bleiben natürlich! Ist doch klar!, gebrüllt, aber das wäre etwas unpassend gewesen und außerdem wusste ich, dass die Entscheidung für Jarrett nicht so einfach war wie für mich. Ich kannte nach Laurens und Quentins Tod in ganz Ohio niemanden außer Jarrett und jetzt den Shetlers – er hatte Menschen, um die er bangte.
Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, als er meinen Blick erwiderte, dann drehte er sich zu den Shetlers und sagte: »Vielen Dank. Wir bleiben gern.«
Und damit war klar, dass mich dieser beschissene Logikvirus kreuzweise konnte. Oder besser gesagt: uns, wenngleich Jarrett sich natürlich weiter um seine Pflegeeltern und sicher auch um seine leibliche Mutter sorgen würde. Aber nun musste er sich zumindest keine Gedanken mehr wegen unseren Wasservorräten machen und ich auch nicht. Wir würden nicht mehr verdursten, mussten nicht mehr marschieren und nicht mehr in Jägerständen oder unter Bäumen übernachten. Wir hatten endlich einmal Glück gehabt.