Hannah
Caleb führte uns noch ein bisschen über die Shetler’schen Ländereien, wobei er uns auch erklärte, was es mit den Getreidewigwams auf den Stoppelfeldern auf sich hatte. Eigentlich nannte man sie Diemen und es handelte sich dabei um zum Trocknen zusammengestellte Garben, bei denen es sich wiederum um gebündeltes, noch nicht gedroschenes Getreide handelte. Ich verstand nicht alles, aber es klang nach verdammt viel Arbeit, bis aus den Körnern Mehl wurde. Vor allem, wenn man keine Maschinen benutzte.
»›Wer im Sommer sammelt, ist ein kluger Sohn‹«, zitierte Caleb aus der Bibel, genauer gesagt aus dem Buch der Sprichwörter von König Salomo. »›Wer aber in der Ernte schläft, macht seinen Eltern Schande.‹«
Ich nickte artig und für einen kurzen Moment fühlte ich mich fast ein bisschen schäbig, dass ich den Großteil des Nachmittags verschlafen hatte. Aber zumindest die Hartweizen- und Roggenfelder waren ja schon abgeerntet, weshalb sich die Schande, die meine Eltern wegen mir erdulden mussten, hoffentlich in Grenzen hielt.
Inzwischen trugen Jarrett und ich die Strohhüte auf den Köpfen, denn obwohl es auf den Abend zuging, hatte die Sonne immer noch Kraft und ich meinen Sonnenbrand noch nicht vergessen. Jarrett sah mit Hut noch mehr nach Tom Sawyer oder Huckleberry Finn aus und ich noch mehr wie eine Amische. Sagte jedenfalls Jarrett, als Caleb von seinen Kindern gerufen wurde und wir kurz unter uns waren.
Fürs Abendessen steuerten wir die Chinanudeln aus den nicht gerade unendlichen Tiefen des Batmanrucksacks bei. Sie schmeckten gut zusammen mit Calebs selbst gemachter Tomatensoße, aber Susanna hatte auch noch selbst gemachte Nudeln in den Topf geworfen und die schmeckten noch besser. Wir aßen auf der Terrasse, mit Blick auf Beete, Sträucher und Apfelbäume, und als Mary ihre Nudeln nicht mehr schaffte, gab sie sie einfach den Hühnern.
Caleb erzählte, dass sie am Vormittag ihren sonntäglichen Hausgottesdienst auf der Terrasse gefeiert hatten und da wurde mir wieder bewusst, dass es ja so was wie Wochentage gab. Selbst jetzt noch. Caleb fragte, ob wir gläubig seien, woraufhin Jarrett sofort Nein sagte und ich erst mal eine Weile überlegen musste.
Eigentlich glaubte ich ja schon an Gott oder so was in der Art und ich wollte auch daran glauben, dass mit dem Tod nicht alles vorbei war. Aber noch lebte ich und irgendwie hatte es schon vor der Apokalypse immer Wichtigeres gegeben, als über diese Dinge nachzudenken und … zu glauben. Ich zuckte also mit den Schultern und sagte: »Ich weiß nicht. Nicht so richtig, schätze ich.«
Caleb nickte. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf? Weil du mit anderen Dingen beschäftigt bist?«
»Ja«, räumte ich offenherzig ein. Entweder besaß Caleb eine gute Menschenkenntnis oder beim letzten Amischtreffen hatte jemand einen Vortrag über die vergnügungssüchtige Jugend von heute gehalten.
»Weißt du, Hannah«, sagte Caleb, »die Menschen umgeben sich mit Maschinen und Technik, aber sie vergessen Gott. Sie fliehen in künstliche Welten, wo sie Dinge sagen, die sie niemals von Angesicht zu Angesicht sagen würden. Gleichzeitig aber sprechen sie nicht mehr mit den Menschen, die ihnen nahestehen. Sie leben immer hektischer und schneller, entfernen sich immer mehr von sich selbst. Aber wir Menschen brauchen keine Technik und keine Maschinen. Was wir brauchen, ist Liebe und jemanden, der uns leitet.«
Ich fand Calebs missionarischen Eifer ziemlich unsympathisch und außerdem dachte er mir zu sehr in Schubladen. Aber es wäre gelogen, wenn ich behauptet hätte, dass ich mich nicht zum Teil auch angesprochen fühlte. Denn ja, ich konnte stundenlang mit einer jungen Norwegerin, von der ich nicht einmal die richtige Augenfarbe kannte, über die Einrichtung virtueller Lofts, virtuelle Ausstellungen und virtuelle Konzerte reden, aber wenn mein Vater mich fragte, wie es in der Schule gewesen war, bestand meine Antwort aus einem Wort, das noch nicht einmal ehrlich war.
Andererseits machte es eben Spaß, mit Fjella über Metaverse-Kram zu plaudern, was ich von der Beantwortung gut gemeinter, aber nerviger Elternfragen nicht behaupten konnte. Und dass ich Liebe und Wertschätzung brauchte, war mir schon vor Calebs Predigt klar gewesen, doch im realen Leben hatte ich beides nun mal nicht gefunden, von meinen Eltern einmal abgesehen, also warum sollte ich nicht im Metaverse suchen?
Mit einem aber hatte Caleb womöglich recht. Hätte ich vor drei Tagen eine Personenbeschreibung über mich selbst verfassen müssen, ich hätte an mein virtuelles Ich gedacht und danach mein virtuelles Ich beschrieben. Zur leibhaftigen Hannah Pöltl wäre mir nicht viel eingefallen und wenn ich dann eingesehen hätte, dass ich über sie schreiben oder sprechen musste, wäre es wie über eine Bekannte gewesen. Doch jetzt, nach mehr als fünfzig Stunden Real Life am Stück, fühlte ich mich in meiner leiblichen Hülle irgendwie wieder mehr zu Hause. Vertrauter und wohler mit mir selbst.
Oh Mann, begann die heile Shetler-Welt etwa schon auf mich abzufärben? Noch ein paar Tage und ich würde freiwillig Kleider anziehen und bereitwillig ihrem Kult beitreten.
Als Nachtisch und weil wir es Noah und Mary versprochen hatten, aßen wir Schokoriegel. Jarrett und ich vertilgten jeder einen Baby Ruth, der es nur auf Platz drei meiner vorläufigen American Chocolate Bar Charts brachte. Karamell, Nougat, Erdnüsse, daran war nichts verkehrt. Aber irgendwie fehlte das gewisse Etwas. Der Baby Ruth war … langweilig. Und damit hatte er zwar einiges mit Real-Life-Hannah gemein, aber trotzdem oder gerade deshalb: nein.
Susanna aß einen Zero, der eine für Schokoriegel ungewöhnliche Farbe besaß, nämlich weiß. Mary und Noah erwiesen sich als Butterfingerfans und Caleb nutzte die Gelegenheit, um zu erwähnen, dass es bei den Amischen keine Essensregeln gab, woraufhin Jarrett mir einen heimlichen Da hörst du’s! Du solltest beitreten!-Blick zuwarf.
Es wurde dunkel, Caleb zündete eine Gaslaterne an und dann schmiegte sich Noah an Susanna und Mary schmierte ihre Schokoschnute an die Schulter ihres Vaters. Ich sah ihren Augenlidern beim Zufallen zu und plötzlich dachte ich sehnsüchtig an meine eigene Kindheit. Wenn man klein war, brauchte man zum Glücklichsein nur Schokolade und einen elterlichen Schoß.
Auch Jarrett war schweigsam und nachdenklich geworden. Vielleicht, weil er nie einen elterlichen Schoß gehabt hatte. Vielleicht hatte er nie richtig Kind sein dürfen und die Unbeschwertheit, die ich irgendwann verloren hatte, gar nicht erst kennengelernt. Er tat mir leid und als Caleb und Susanna die Kinder ins Bett brachten und wir allein am Tisch zurückblieben, nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte ihn, was in ihm vorging, wenn er Zeuge des Shetler’schen Familienglücks wurde.
»Als ich klein war«, sagte er nach einer Weile, »haben meine Mutter und ich auch manchmal gekuschelt. Es störte mich nicht, dass sie nach Mentholzigaretten roch, ich war den Geruch gewöhnt und er gehörte nun mal zu ihr. Aber es ging fast immer von mir aus, wenn sie mich in den Arm nahm, und ich hatte nie das Gefühl, dass sie richtig da war. Aber das hatte ich sonst auch nie. Scheiß Depressionen.«
Jarrett stierte ins Licht der flackernden Gaslaterne. Überall um uns herum zirpte es. Wahrscheinlich Grillen, wie schon vor zwei Nächten beim Jägerstand, und wenn man sich darauf konzentrierte, waren sie abartig laut.
»Ich glaube, auf Jazmines Schoß habe ich nie gesessen«, brach Jarrett das Schweigen. »Es dauerte, bis ich Vertrauen zu ihr und Desmond aufbaute. Und dann war ich wahrscheinlich schon zu alt. Oder zu abgestumpft. Aber manchmal, wenn wir Filme geschaut haben, lehnte ich meinen Kopf an Jazmines Schulter. Kennst du Harry Potter?«
Ich nickte.
»Jazmine liebt die alten Filme. Sie sind so was wie eine Weihnachtstradition für sie. Desmond findet die Bücher besser. Er hat alle Bände daheim. Gedruckt. Früher hat er für Allstate Versicherungen verkauft. Wie er gesagt hat, hauptsächlich solche, die die Leute nicht brauchen. Oder die ihnen gar nicht helfen, wenn es darauf ankommt. Aber dann konnte oder wollte er nicht mehr. Ein paar Monate bevor sie mich bei sich aufnahmen, fing er in einem Antiquariat an. Seitdem verkauft er gedruckte Bücher. Er verdient nicht gerade gut, aber er ist glücklich. Als ich jünger war, hat er mir vor dem Einschlafen immer vorgelesen, auch aus Harry Potter. Weißt du, wen ich am liebsten mag? Neville Longbottom. Aber mich hätte der sprechende Hut sicher nach Slytherin geschickt.«
Ich hatte die Bücher nie gelesen, aber die alten Filme und die Serie kannte ich und daher wusste ich, dass Slytherin mehr oder weniger das Haus für Fieslinge war. Zu denen sich Jarrett offenbar zählte.
»Nein, nicht Slytherin. Gryffindor.«
»Gryffindor?!« Er runzelte die Stirn. »Hast du das beschmierte Bild vergessen? Wie ich meine Pflegeeltern beschimpft habe? Und was ich zu dir gesagt habe, gestern Abend im Sunoco-Shop?«
»Nein, aber … das ist nur ein Teil von dir. Einer, für den du wahrscheinlich nicht mal was kannst und den du selbst nicht magst. Harry Potter hat der sprechende Hut auch nicht nach Slytherin geschickt, obwohl es zur Debatte stand. Aber Harry wusste, dass der Slytherinteil in ihm ihn nicht ausmacht. Und bei dir ist es dasselbe. Gryffindor, auf jeden Fall.«
Jarrett sah mich an. Seine Augen sogen meine ein und vielleicht hätten sie auch den Rest von mir eingesogen oder meinen Körper wie ein Magnet über den Tisch gezogen, doch auf einmal meldete sich mein Daumen zu Wort und ich wandte den Blick ab. Wir schwiegen beide und als ich irgendwann wieder verstohlen zu Jarrett schaute, beobachtete er eine Motte, die um die Gaslaterne schwirrte.
»Bei dir ist es schwierig«, sagte er. »Ravenclaw oder Hufflepuff.«
»Ravenclaw oder Hufflepuff?!«, wiederholte ich verdutzt.
»Ja, ich meine, Slytherin kommt nicht infrage. Und Gryffindor? Nimms mir nicht übel, Hannah, aber ich glaube, dafür bist du nicht mutig genug.«
War ich nicht. Eindeutig.
»Daher bleiben Ravenclaw und Hufflepuff. Aber die passen beide. Oder findest du nicht?«
Fand ich das? Nach Ravenclaw kamen die Klugen und Schlauen. Jarrett hatte schon einmal gesagt, dass er mich für clever hielt. Cleverer als ich mich selbst. Doch dumm war ich wohl wirklich nicht, also stand Ravenclaw zumindest im Raum. Aber bei Hufflepuff fiel mir nur Cedric Diggory ein.
»Wie kommst du da drauf? Also auf Hufflepuff?«
»Wieso nicht? Hufflepuffs sind hilfsbereit. Gerecht. Und loyal.«
»Ich … bin nicht hilfsbereit!« War ich wirklich nicht. Loyal? Okay. Und vielleicht hatte ich sogar so etwas wie einen Sinn für Gerechtigkeit, auch wenn der hauptsächlich daher stammte, dass ich mich selbst oft ungerecht behandelt fühlte. Aber hilfsbereit?! Es war mir schon zu viel, Mara den Regenschirm aufzuspannen.
»Vielleicht ist hilfsbereit nicht ganz das richtige Wort«, sagte Jarrett, der nach meiner Reaktion etwas verunsichert wirkte. »Aber du nimmst Anteil. Mehr als andere Menschen. Und das ist auch eine Form von Hilfsbereitschaft. Aber okay, wenn du nicht nach Hufflepuff willst, dann … RAVENCLAW!«
Ich lachte, denn er posaunte das Wort regelrecht in die Nacht hinaus. Er selbst grinste auch. Die Grillen zirpten. Und die Motte drehte ihre Kreise um die Gaslaterne.
»Jazmine hat mir mal gesagt, dass es am Mond liegt, warum Motten immer zum Licht fliegen.« Jarretts Grinsen war verschwunden. »Ich schätze, für die Maschinen da draußen sind wir Menschen das Licht. Ein Licht, das sie auslöschen wollen.«
Ich schaute von der Kreise fliegenden Motte auf meinen kreisenden Daumen. Und dann zu Jarrett. »Und für dich?«, fragte ich zaghaft. »Wer ist dein Licht?«
»Früher war es meine Mutter«, sagte er, den Blick auf die immer heftiger flackernde Laterne gerichtet. »Aber mittlerweile habe ich begriffen, dass ich ein Licht brauche, das zuverlässig brennt.«