Down by the River

Hannah

Jarrett und ich sprachen natürlich über das, was in der Scheune und im Maisfeld passiert war, über meine Theorie, die sich tatsächlich als richtig erwiesen hatte, und über den Hundesohn Caleb. Wegen ihm waren Lauren und Quentin tot und der Mann, der auf dem Bürgersteig von Hatford Dale erwürgt worden war, und unzählige andere, von denen ich weder Namen noch Gesichter kannte. Doch Jarrett womöglich schon. Ich spürte, dass er Caleb hasste und dass er ihn noch viel mehr hassen würde, falls auch Desmond, Jazmine und seine Mutter unter den Opfern sein sollten.

Ich für meinen Teil hasste Caleb nicht unbedingt. Ich verabscheute ihn vielmehr. Er hatte Ravi den Logikvirus programmieren lassen, um den Menschen auf einen Weg zu verhelfen, den er für sie als richtig erachtete, weil er so anmaßend war, seine Weltanschauung über die anderer zu stellen. Und er schreckte dabei vor keinem Mittel zurück. Nicht einmal vor einer Apokalypse.

Er hatte es nicht nur aus Verblendung getan, sondern auch aus Trauer und Zorn. Caleb lebte für Gott und die Familie, weshalb der Schmerz über den Verlust seiner Eltern ihn in eine tiefe Sinnkrise gestürzt hatte. Fatalerweise hatte ihn diese Krise sogar noch in seinem fehlgeleiteten missionarischen Eifer bestärkt, und in letzter Konsequenz, nachdem es lange in ihm gebrodelt haben musste, hatte er den Batzen Schadensersatzgeld dazu verwendet, anderen Menschen Schaden zuzufügen. Wofür es keine Entschuldigung gab.

Seinen Kindern jedoch war Caleb wohl ein guter Vater. Mary und Noah liebten ihn. Und Susanna war wieder schwanger. Wenn wir Caleb verrieten, würde sie für drei Kinder sorgen müssen, allein auf einem abgeschiedenen Hof im Nirgendwo. Und vielleicht würde sie jedes Mal, wenn sie Noah, Mary und das Baby anschaute, daran denken müssen, dass deren Vater ein verblendeter Massenmörder war. Den sie geliebt hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr tat sie mir leid.

»Ich weiß, du magst Susanna«, sagte Jarrett, als wir darüber sprachen. »Und ich mag sie auch. Aber würde sie mit einem Mann zusammenleben wollen, wegen dem viele, viele Menschen gestorben sind?«

Ich hatte Susanna erst vor eineinhalb Tagen kennengelernt, aber eigentlich konnte die Antwort auf diese Frage nur Nein lauten. Und als mir das klar wurde, sah ich die Dinge endgültig wie Jarrett: Sofern wir die Apokalypse überlebten, hatten wir keine andere Wahl, als Caleb ans Messer zu liefern.

Was, wie mir siedend heiß bewusst wurde, eigentlich auch Caleb selbst klar sein musste. Aber was bedeutete das? Würde er Susanna wecken, ihr alles gestehen und sie auf ein Leben ohne ihn vorbereiten? Nein, so viel Rückgrat besaß er nicht. Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er sie dazu überreden konnte, mit ihm und den Kindern zu fliehen. Wenn überhaupt, konnte er nur alleine fliehen, aber das würde er nicht, denn dazu liebte er seine Familie zu sehr. Und damit lief es fast schon darauf hinaus, dass …

Ich blieb stehen und starrte Jarrett an. »Caleb kann uns zwar nicht mehr zu Fuß verfolgen, aber er hat Pferde und die Kutsche.«

»Scheiße, du hast recht!«

Ich lauschte in die Nacht, ob da vielleicht schon irgendwo Hufgeklapper oder rumpelnde Räder zu hören waren, aber im Augenblick waren da nur Grillen.

»Verdammt!« Jarrett trat gegen einen Stein. »Dass ich daran nicht gedacht habe!«

»Ich doch auch nicht. Und außerdem hätten wir ja schlecht selbst auf die Pferde steigen können. Oder weißt du, wie man reitet?«

»Nein, aber vielleicht hätten wir Caleb an die Kutsche fesseln sollen. Oder Susanna wecken.«

»Ja, aber hätte sie uns geglaubt? Wahrscheinlich hätte Caleb ihr irgendein Märchen erzählt. Keine Ahnung, vielleicht, dass er uns erwischt hat, wie wir das Schadensersatzgeld gestohlen haben, dass er in Wahrheit Ravi gegeben hat.«

»Ja. Und genau das kann er ihr immer noch erzählen. Scheiße, Hannah, wir müssen von diesem Weg runter! Und vermutlich legen wir auch lieber einen Zahn zu.«

Also beschleunigten wir unsere Schritte und schlugen uns mitten durch die Steppe. Ich fragte Jarrett nach seinem verletzten Fuß, woraufhin er sagte: »Auftreten tut noch ein bisschen weh. Aber ist nicht weiter wild.«

Ich sagte: »Bist du sicher?«

Und er sagte: »Ja.«

Und dann preschten wir weiter durch die Prärie.

Ich hätte gerne etwas getrunken, aber das Arrowhead Wasser von der Tanke steckte im Batmanrucksack und der leistete nun in der Shetler’schen Scheune dem Laptop Gesellschaft. Oder vielleicht auch nicht mehr, denn vielleicht hatte Caleb humpelnd sämtliche Spuren beseitigt. Oder Ravi geweckt, damit der es tat.

Ob sie inzwischen beide auf der Kutsche saßen? Schon möglich, aber vielleicht hatten sie sich auch gestritten. Oder Ravi machte sich bereits selbst aus dem Staub, statt sich an unserer Verfolgung zu beteiligen. Von ihm kannten wir nur sein Gesicht und seinen vermutlich falschen Vornamen und Caleb wusste wahrscheinlich nicht viel mehr über ihn. Vielleicht spekulierte Ravi darauf, dass er sich rechtzeitig absetzen konnte. Nach Kuba oder auf die Philippinen oder sonst wohin. Doch dazu musste er vermutlich einen Flughafen außerhalb von Ohio erreichen, was nicht gerade einfach war, solange die Maschinen auf Menschen losgingen.

Es wird aufhören. Der Virus wird nicht mehr aktiv sein, hatte Caleb gerufen, als wir uns vor ihm im Maisfeld versteckt hatten. Offenbar rechnete er fest damit, dass die im Radio angekündigte Softwarelösung seinem Virus ein Ende machen würde. Doch bis es so weit war, hatten Jarrett und ich nicht nur Caleb und Ravi zum Feind, sondern auch weiterhin die von ihnen aufgestachelten Maschinen.

Mir wurde frisch an den Armen und ich fragte Jarrett, in welche Richtung wir eigentlich gingen, woraufhin er meinte, in nordwestliche, sofern er sich nicht vertat. Ich fragte ihn auch, ob es in Ohio Schlangen gab, woraufhin er antwortete, dass es welche geben würde, auch giftige, dass sie aber eher nicht in Steppen zu finden seien.

Eher nicht. Bei allem, was ich an Jarrett mochte, eines musste er noch lernen: Manchmal wollten Menschen einfach nur belogen werden.

Als es dämmerte, freute ich mich, obwohl ich als alte Apokalypsenveteranin natürlich wusste, dass die Sonne für Probleme sorgen würde. Für Schweiß, Durst und Sonnenbrand. Aber fürs Erste brachte sie Farbe und warme Arme und diese beiden Dinge waren mir so willkommen, dass ich die negativen Aspekte erst einmal verdrängte.

Das Gelände war jetzt flach und ich konnte nirgendwo Häuser oder eine Kutsche entdecken, aber ein Stück vor uns schien eine Straße die Steppe zu durchschneiden. Straßen ließen bei Veteranen wie uns natürlich die Alarmglocken schrillen, aber wenn wir unsere Richtung beibehalten wollten, blieb uns nichts übrig, als die hier zu überqueren.

Es war nur eine schmale Straße, eine von denen, bei der ein zweifacher gelber Mittelstreifen die Fahrspuren trennte. Da, wo wir waren, gab es keine Wracks, doch nicht weit von der aufgehenden Sonne machten wir einen dunklen Punkt auf der Straße aus. Vermutlich eine Karambolage zweier oder mehrerer Autos, aber die Kutsche war ebenfalls denkbar, denn schließlich war das hier ziemlich sicher die Straße, auf die der Grasweg mündete. Jarrett schlug vor, dass wir kurz warteten, um zu sehen, ob der dunkle Punkt größer oder kleiner wurde, was beides mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Caleb hinauslaufen würde. Ich fand ebenfalls, dass das eine wesentliche Information war, also streckten wir uns bäuchlings neben der Straße ins Gras und starrten auf den dunklen Punkt im Osten. Er schien sich nicht zu verändern und nach einer Weile schaute ich zur Abwechslung in die andere Richtung. Auch dort bewegte sich nichts, doch am Straßenrand stand ein Schild, dessen Form ich schon kannte und das lediglich eine Zahl zeigte. 23. Darunter war ein gerader Pfeil.

»Geht es da zum Highway?«

»Offenbar«, sagte Jarrett.

»U. S. Route 23, oder?«

Er nickte.

»Und wo führt die hin?«

»In südlicher Richtung nach Chillicothe. In nördlicher nach Columbus.«

Ich spähte wieder zu dem dunklen Punkt, der immer noch gleich aussah, und dachte über das Schild nach.

»Wir sind gar nicht mehr so weit davon entfernt, oder? Also, von Columbus, meine ich.«

»Nein.«

Ich sah Jarrett von der Seite her an. Nein? Mehr hatte er dazu nicht zu sagen?

»Das da vorn ist nicht die Kutsche.« Ruckartig stand er auf. »Wahrscheinlich gecrashte Autos. Aber falls Menschen drin sind, können wir nichts mehr für sie tun. Lass uns weitergehen.«

Wir überquerten die Straße und liefen schweigend durch die Steppe. In nordwestliche Richtung, was uns weiter von der Shetler-Farm wegführte und Columbus näher brachte. Ich fragte mich, ob das nur Zufall war.

Es dauerte nicht lange, bis der erste Schweißtropfen des Tages meinen Hals hinunterrann. Er verschwand in meinem T-Shirt, aber mir war klar, dass er bloß die Vorhut war. Verschwitzt, verbrannt, vertrocknet: die Aussichten des Tages. Hundemüde war ich natürlich jetzt schon. Ich hätte im Stehen schlafen können oder vielleicht sogar auf dem riesigen Ameisenhaufen, den riesige rote Ameisen unweit einer kleinen Baumgruppe zusammengetragen hatten.

Wenn wir uns jetzt umschauten, mussten wir die Augen zusammenkneifen oder sie mit den Händen abschirmen, so gleißend war die Sonne. Und deshalb nahm ich auch an, dass der Fluss, der schließlich vor uns auftauchte, nur eine Luftspiegelung war. Eine Fata Morgana.

Aber das war er nicht. Er war ein richtiger Fluss mit richtigem fließendem Wasser. Leider sah es nicht gerade wie Sprite aus und Jarrett meinte, es könnten Bakterien drin sein, weshalb wir es erst mal lieber nicht tranken. Aber reingehen wollte er trotzdem. Er saß auf der kleinen Uferböschung und fing an, Schuhe und Socken auszuziehen. Ich setzte mich ins Gras und drehte Daumen.

»Was ist los? Willst du dich nicht abkühlen?«

Natürlich wollte ich. Das war nicht der Punkt.

»Kannst du nicht schwimmen?«

Auch das war nicht der Punkt. Ich konnte schwimmen. Außerdem war der Fluss nicht mal so breit wie die Straße mit dem gelben Mittelstreifen.

»Wenn du auch reingehst und wir Schuhe und Kleidung trocken ans andere Ufer kriegen, könnten wir danach drüben weiterlaufen. Dann würde uns auch noch der Fluss von der Shetler-Farm trennen. Und von der Kutsche, falls die hier irgendwo sein sollte.«

Ja, auch das waren gute Gründe, ins Wasser zu gehen, aber es gab eben auch einen sehr guten Grund dagegen. Jedenfalls für mich.

Jarrett zog sich sein T-Shirt über den Kopf. Er hatte Kraft, das war nicht nur in Hatford Dale deutlich geworden, aber seine Oberarme sahen eher athletisch als muskulös aus, und als er sie durchstreckte, zeichneten sich unter seiner Brust sogar die Rippen ab. Schnell sah ich weg.

»Na gut«, hörte ich ihn sagen, »dann machen wir es so: Ich gehe rein und sofern das Wasser nicht eiskalt ist und ich nicht von einer Riesenforelle gebissen werde, kommst du nach.«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jarrett aufstand, seine Hose auszog und nur mit seinen dunkelblauen Boxershorts bekleidet ins Wasser ging. Er tauchte unter und kam kurz darauf platschend wieder hoch, ziemlich genau in der Mitte des Flusses.

»Du musst unbedingt reinkommen, Hannah! Das Wasser hat genau die richtige Temperatur. Und man kann überall stehen.«

Ich lächelte ein bisschen, strich mein verschwitztes T-Shirt glatt und machte mit meinen Daumenkreisen weiter.

»Hannah. Ich weiß nicht, wovor du Angst hast, aber … es gibt keinen Grund dafür. Du kannst einfach ins Wasser kommen.«

Ich wand mich. Klar, für Jungs machte es keinen großen Unterschied, ob sie Badeshorts oder Boxershorts anhatten, und vielleicht spielte es auch für selbstbewusste Mädchen keine große Rolle, ob sie Bikini oder Unterwäsche trugen – aber ich war nun mal nicht selbstbewusst, war seit Jahren in keinen Bikini mehr geschlüpft und ich hatte mich noch nie vor einem Jungen in Unterwäsche gezeigt.

»Okay, was hältst du davon? Ich tauche ein bisschen hier rum und du kommst in der Zwischenzeit ins Wasser. Abgemacht?«

Ich schluckte. Dann gab ich mir einen Ruck. »Okay.«

»Cool.« Jarrett lächelte. Und tauchte unter.

Ich trat die Schuhe weg, riss mir die Socken von den Füßen und die Smartwatch vom Arm. So weit alles kein Problem, doch jetzt kam das Wesentliche. Mein Puls raste, als ich mir ans T-Shirt fasste und es über den Kopf zog. Ich hatte es gerade ins Gras geworfen, da platschte es. Jarrett war aufgetaucht. Und sah mich an.

Ich wollte schon »He!« oder so was rufen, aber er grinste oder glotzte nicht, lächelte nur und tauchte wieder unter.

Überall an und in mir kribbelte es. Ich knöpfte die Jeans auf und mit zittrigen Fingern streifte ich sie bis zu den Kniekehlen, ließ mich ins Gras fallen und zog sie über Unterschenkel und Füße. Ich schaute auf meine blassen Beine und war heilfroh, dass Susanna mir ihren nichtelektrischen Damenrasierer geliehen hatte.

Mit großen Schritten ging ich ins Wasser, das wirklich eine angenehme Temperatur hatte. Doch die Steine waren glitschig und so war ich noch nicht weit gekommen, als es abermals aus Jarretts Richtung platschte. Am liebsten hätte ich mich wegteleportiert, doch das ging ja nur im Metaverse, und da das Wasser noch viel zu flach war, konnte ich mich nicht mal bäuchlings hineinstürzen. Ich konnte gar nichts tun, außer der aufregenden, schrecklichen Wahrheit ins Auge zu blicken: Das hier war der Moment, in dem Jarrett mich so sah, wie Billionen anderer Jungs schon Billionen anderer Mädchen gesehen hatten.

Doch für mich war es das erste Mal. Mein Kopf glühte und vermutlich war er so rot, dass er wie der Mars mit Haaren aussah, aber Jarrett lachte oder grinste auch diesmal nicht. Stattdessen sah er mich einfach an und da war ein Ausdruck in seinen Augen, der mich beinahe glauben ließ, dass er mich und meinen Körper gern ansah. Aber das war wahrscheinlich reines Wunschdenken.

Ich schaffte es nicht, seinem Blick standzuhalten. Hastig stolperte ich vorwärts, schlitterte über die Steine und als das Wasser endlich tief genug war, tauchte ich ein.

»Und?«, sagte Jarrett.

»Und was?«, entgegnete ich schnodderig. Diese beschissene Unsicherheit und was sie mit mir machte.

»Das Wasser. Wie findest du es?«

Ach so, das Wasser. »Genau richtig.«

In Gedanken stellte ich Jarrett eine Gegenfrage und in meiner Fantasie sagte er über meinen Körper dasselbe wie ich übers Wasser. Aber wie gesagt: reines Wunschdenken, und deshalb konnte ich wahrscheinlich froh sein, dass das Wasser nicht wie Sprite aussah, sondern alles unterhalb meines Halses mit einem grünen Filter verwischte.

Ich schwamm ein bisschen neben Jarrett her und wir redeten ein wenig über den Fluss, seine niedrige Tiefe und die rutschigen Steine am Grund, aber eigentlich waren das alles Sachen, die mir vollkommen schnurz waren. Und damit war die Liste der bedeutungslos gewordenen Dinge noch längst nicht zu Ende. Caleb: wurscht. Die Apokalypse: egal. Durst: kannte ich nicht. Müde: war ich nicht. Nichts spielte eine Rolle außer diesem Kribbeln und dem Grund, warum ich es verspürte.

Es war aufregend, einem Jungen nur mit Unterwäsche bekleidet unter die Augen zu treten und zu wissen, dass uns beide nur eine Kleidungsschicht, nur ein klein wenig Stoff, von völliger Nacktheit trennte. Aber es war auch deshalb so aufregend, weil es nicht irgendein Junge war, sondern Jarrett. Jarrett mit den Magnetaugen, der jünger und doch weiter und reifer war und noch dazu so mutig, dass es sogar ein wenig auf mich abfärbte. Jarrett, der so schnell rennen und Monstertrucks und Traktoren fahren konnte, der mir mehrfach das Leben gerettet hatte und es schaffte, Bodybuilderdrinks an Tischbeinen vorbeizurollen. Jarrett, der mich auffing, wenn ich kraftlos von Fensterbrettern sackte, der froh war, dass ich ihm Fragen stellte, der mir Komplimente machte, der mich nach Ravenclaw, Hufflepuff und vielleicht sogar nach Gryffindor schicken würde und der mich in den Arm genommen und getröstet hatte, als ich der Verzweiflung nahe gewesen war. Letzte Nacht, hinter dem Haus von Calebs Eltern, hatte ich ihn küssen wollen. Jetzt hatte ich das Gefühl, dass es jede Faser meines Körpers nach ihm verlangte.

Um umgekehrt?

Jarrett und ich standen uns zweifellos näher als zu Beginn der Apokalypse. Viel näher. Aber sah er eine Freundin in mir oder wollte auch er mehr? Ein paar Anzeichen für »mehr« gab es, aber vielleicht legte ich sie auch falsch aus. Vielleicht waren es nur Mitleid und Sympathie, die ihn dazu brachten, mich in den Arm zu nehmen und mir nette Dinge zu sagen, und vielleicht war es auch nur Neugier, die ihn dazu verleitete, mich anzuschauen, wenn ich in Unterwäsche ins Wasser stieg.

Spontan fielen mir drei mögliche Methoden ein, seinen Motiven auf den Grund zu gehen. Erstens: fragen, was überhaupt nicht infrage kam. Zweitens: machen, und zwar den ersten Schritt, also nicht fragen, sondern küssen. Gute Möglichkeit, aber nicht für mich. So viel Mut war dann doch nicht von ihm auf mich übergeschwappt. Blieb noch drittens: abwarten, wie sich die Dinge entwickelten. Nicht sehr befriedigend, aber am anspruchslosesten und damit leider am realistischsten für Hannah Version 1.3.1, auch bekannt als Kribbel-Edition.

Wir blieben noch ein wenig im Fluss und waren uns einig, dass es sicherer war, danach am anderen Ufer weiterzulaufen. Doch dazu mussten wir natürlich unsere Kleidung holen und hinüberbringen und dazu wiederum mussten wir aus dem Wasser steigen. Ich zögerte, aus Angst, dass Jarrett dabei Eigenschaften meines Körpers entdecken würde, die er beim ersten Blick vielleicht noch nicht bemerkt hatte, und dass er mich bei genauerer Betrachtung zu dünn und zu wenig kurvig finden würde – eben so, wie ich mich selbst sah. Aber die Alternative, im Wasser zu bleiben, war natürlich lächerlich. Irgendwann musste ich wieder heraus und dann würde Jarrett mich sehen. Und auch wenn ich mich vor seinem Urteil fürchtete – eigentlich wollte ich gesehen werden, endlich einmal auch im echten Leben und vor allem von ihm.

Ich war schon wieder schweineaufgeregt, als ich ein Stück hinter Jarrett aus dem Wasser stieg. Wir nahmen unsere Klamotten und Schuhe und ich spürte seinen Blick auf mir, aber er starrte nicht unverhohlen auf meine Unterwäsche, er schaute mir in die Augen und vielleicht nur heimlich ein wenig auf meinen Körper und irgendwie kam mir das genau richtig und gut vor. Auch ich spitzelte verstohlen zu ihm rüber, sah, wie die Boxershorts an seinen Oberschenkeln klebten und die Form seines Hintern nachzeichneten, der in Anbetracht seines schlanken Körpers erstaunlich groß wirkte, und ich erkannte auch, dass seine Knie knubbelig und die Schulterblätter knochig waren, aber nichts davon störte mich, alles war gut und richtig.

Über die glitschigen Steine tasteten wir uns ins tiefere Wasser vor, wo wir Kleiderknäuel und Schuhe nicht mehr an die Brust pressen konnten, sondern hochhalten mussten. Wir kicherten und gackerten, denn es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der Erste von uns ausrutschte. Jarrett wollte seine Sneakers und die hineingestopften Socken retten und warf sie an unser Zielufer. Ich war mir alles andere als sicher, ob ich das nachmachen konnte, aber er triezte mich ein bisschen und so versuchte ich es. Der erste Schuh verfing sich in einem Grasbüschel an der Uferböschung. Der zweite, in dem meine Socken und die Smartwatch steckten, landete in niedrigerem Gras, überschlug sich und kullerte die Böschung hinunter. Schreiend sahen wir zu, wie er dem Wasser entgegentorkelte und schließlich hineinplatschte. Immerhin war er so anständig, nicht unterzugehen, und da der Fluss im Uferbereich keine Strömung aufwies, trieb er auch nicht weg.

Es war klar, dass die Kleiderknäuel niemals so weit fliegen würden, also hielten wir sie weiter hoch und balancierten über die Steine dem Ufer entgegen. Es klappte ganz gut, aber irgendwann trat ich auf einen spitzen Stein, suchte anderweitig Stand und rutschte dabei weg. Ich versuchte noch, meine Arme in die Höhe zu strecken, kippte jedoch in Richtung meines T-Shirt-Arms und schaffte es daher nur, meinen Arm mit der Jeans über Wasser zu halten. Jarrett bekundete mir sein Mitleid. Und als wir am Ufer waren und er meinen Schuh aus dem Wasser geholt hatte, hielt er mir sein T-Shirt hin, damit ich mich damit abtrocknen konnte.

Ich lächelte unsicher, nahm das T-Shirt und fuhr mir damit hastig über die Beine. Jarrett holte inzwischen die Socken und die Smartwatch aus seinen Sneakers und ich wischte mit seinem schon ziemlich nassen Shirt noch schnell über meine Arme und den BH. Dann gab ich es ihm zurück und streifte mein eigenes, noch viel nässeres T-Shirt über. Jarrett zog seine weit geschnittene Jeans an, ich musste mich mit meiner engen abquälen. Sitzend zuckelte ich sie über Schienbeine und Knie, dann blieb mir nichts anderes übrig, als aufzustehen. Meine Oberschenkel waren schon wieder nass von der tropfenden Unterhose und zerrend und hüpfend versuchte ich, sie in die Jeans zu kriegen.

»Brauchst du Hilfe?« Jarrett saß angezogen und grinsend im Gras.

Mein Gesicht gab natürlich sofort wieder seine Marsimitation zum Besten, aber ich schaffte es zumindest, seinen Blick zu erwidern, und dann musste ich sogar selbst grinsen. Ich zog, zerrte und hüpfte weiter, und als ich den erbitterten Kampf Hannah – Hose zu meinen Gunsten entschieden hatte, knöpfte ich sie erleichtert zu und setzte mich wieder, um mit Socken und Schuhen weiterzumachen. Doch bis auf den linken, im Grasbüschel gelandeten Sneaker war alles nass und ich beschloss, es vorerst wie die Shetlers zu machen und barfuß zu gehen. Obwohl ich eigentlich ein ausgesprochenes Barfußweichei war. Einen Moment lang überlegte ich auch, meine nutzlos gewordene Smartwatch einfach im Gras liegen zu lassen, aber das war mir dann doch zu radikal und obendrein trug Jarrett seine Uhr auch wieder.

Ich fühlte mich erfrischt nach dem Bad, aber mit klatschnasser Unterhose in einer hautengen Jeans zu stecken, war nicht gerade das höchste der Gefühle. Außerdem kam ich mir ziemlich peinlich vor, weil unter dem jetzt eng anliegenden weißen T-Shirt deutlich mein schwarzer BH zu sehen war. Das war entschieden nicht mein Style, aber ich konnte nichts tun, außer zu warten, bis die Sonne mein T-Shirt wieder vom Körper lösen würde. Immerhin war der Colafleck, der mich an Ravi erinnerte, schwächer geworden und statt nach Schweiß roch ich jetzt nach Fluss. Was besser war, wenngleich ich Angst hatte, dass diese Duftnote schlecht altern könnte.

Wir schlugen wieder unsere alte Richtung ein, was uns zunächst vom Fluss wegführte, aber schon bald war er wieder neben uns und daraufhin folgten wir einfach seinem Lauf. Zunächst war da nur Natur: Gras, Sträucher, Bäume und ziemlich große, schleimig aussehende Frösche. Doch dann machten wir einen Anlegesteg, eine winzige Hütte und mehrere Gestelle mit Kanus und Kajaks aus. Ein kleiner Bootsverleih, von dem ein Kiesweg wegführte, der sich in einem Waldstück verlor. Dahinter war vermutlich eine größere Straße oder eine kleine Stadt oder beides. Wir hatten jedenfalls nicht die geringste Lust, es rauszufinden. Was interessant war, war die Schmalspurhütte, auf deren Dach nicht ein einziges Solarmodul prangte.

»Eis aus der Gefriertruhe können wir schon mal vergessen«, sagte Jarrett und patschte nach einer Fliege, die sich auf seinem fliegenpapiergelben T-Shirt niedergelassen hatte. »Und gekühlte Getränke auch. Aber lauwarme Cola könnte drin sein. Ich meine, das ist ein Bootsverleih. Da kommen sicher auch manchmal Leute, die nicht an alles gedacht haben.«

Ich hatte Bedenken, dass sich ein Androide um den Bootsverleih gekümmert haben könnte, aber Jarrett hielt das für unwahrscheinlich.

»Androiden brauchen Strom und hier wird keiner produziert. Außerdem schau dir das Schild an: ›Nur an Wochenenden und nach Vereinbarung geöffnet‹. Spricht ebenfalls nicht für einen Androiden, oder?« Jarrett hob einen Stein auf und wog ihn in der Hand. »Der wird Krach machen, wenn ich ihn gegen die Tür werfe. Und falls da eine Maschine drin ist und noch Saft hat, wird sie reagieren.«

»Und dann?«

Er zuckte mit den Schultern. »Kommt aufs Modell drauf an. Wenn es blöd läuft, müssen wir wieder in den Fluss. Dorthin wird uns ein Android wohl kaum folgen.«

Ich stellte noch ein paar Detailfragen, aber im Grunde teilte ich Jarretts Ansicht. Zum Schlafen und häuslich Einrichten war die Hütte zu klein, doch was Getränke anging, konnte dieser Bootsverleih ein Volltreffer sein.

Also warf Jarrett den Stein. Er traf natürlich, aber es passierte nichts. Und nachdem auch ein weiterer Stein nichts und niemanden triggerte, näherten wir uns der Hütte. Mein Blick flog über die Spalier stehenden Gestelle, in denen verschiedene Boote gelagert waren. Gesichert waren sie mit Spiralschlössern, die durch Ösen gezogen und um die Metallgestelle gewickelt waren.

Die Tür war verschlossen, doch hier handelte es sich sozusagen um einen Notfall und in Notfällen ist beinahe alles erlaubt. Jarrett brauchte nur zwei Tritte, dann war die Tür auf. Um es kurz zu machen: Es gab keinen Androiden und keine Gefriertruhe. Es gab eigentlich nur eine Theke, ein wenig Platz dahinter, ein wenig Platz davor, ein in der Ecke lehnendes Ding, das nach Bootsmotor aussah, eine Autobatterie und ungefähr vierzig verschiedene Paddel.

Doch die Theke war tatsächlich ein Volltreffer. Rechts auf ihr standen kleine Wasserflaschen und Dr.-Pepper-Dosen, links ein Karton mit Kaugummis und Riegeln, die laut Jarrett keine Schokolade enthielten, was ziemlich weitsichtig von den Betreibern war, denn in der Hütte hatte es gut und gerne 87 Grad. Fahrenheit, was aber immer noch 30 Grad Celsius ergab – ein bisschen viel für Schokolade. Und was unbedingt gesagt werden muss: Hinter dem Snackkarton stand Sonnencreme. Die Bootstypen waren die Besten.

Ich griff mir eine Tube Creme und ein paar Riegel, Jarrett lud sich Wasserflaschen und Dr. Pepper Dosen auf, dann gingen wir nach draußen, setzten uns an die Holzwand der Hütte und tranken. Wasser gegen den Durst, Dr. Pepper wegen dem Koffein. Dazu aßen wir einen Riegel namens Zagnut: außen geröstete Kokosflocken, innen hauptsächlich Erdnussbutter. So langsam glaubte ich, dass es in Amerika ein Erdnussbuttergesetz gab.

Oder zumindest ein Erdnussgesetz. Denn der zweite Riegel aus dem Karton, Payday hieß er, bestand zum überwiegenden Teil aus ursprünglichen, unpürierten Erdnüssen. Zusammengehalten wurden sie von salzigem Karamell – eine perfekt abgestimmte, satt machende Mischung und meine neue Nummer zwei. Der Zagnut hatte mich nicht ganz so überzeugt und damit sahen meine American Chocolate Bar Charts, die jetzt von Riegeln ohne Schokolade geentert worden waren, wie folgt aus:

Platz 1: Whatchamacallit

Platz 2: Payday, auch wenn der Name unpassend war

Platz 3: Butterfinger und Fast Break

Platz 5, weil zwei dritte Plätze: Zagnut

Platz 6: Baby Ruth

(Einen Zero, den Susanna sich ausgesucht hatte, hatte ich selbst nie probiert.)

Der Zucker tat gut und das Koffein und Salz auch. Trotzdem hatte ich nicht die geringste Lust weiterzulaufen. Und Jarrett wohl auch nicht.

»Wir könnten ein Boot nehmen«, sagte er, was nicht gerade ein unerwarteter Vorschlag war, denn wir hatten insgesamt sieben Kajaks, sechs Kanus und ein Schlauchboot im Blick.

»Und wie willst du eines der Schlösser aufbekommen?«, fragte ich. »Auftreten wie die Tür kannst du sie wohl kaum.«

»Nein, aber ich wette, da drin ist ein Schlüssel.« Jarrett stand auf und verschwand in der winzigen Hütte. Ich nutzte die Gelegenheit, Arme und Marsmodell mit Sonnencreme einzuschmieren.

Ich war noch nicht ganz fertig, da kam Jarrett mit der Autobatterie und diesem Motordings zurück. »Ich glaube, zusammen machen die aus dem Schlauchboot ein Motorboot. Dann müssten wir nicht mal paddeln.«

»Und das Schloss?«

Jarrett legte Außenbordmotor und Batterie ins Gras und zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. »War auf der anderen Seite der Theke«, sagte er schlicht und sperrte das Spiralschloss auf, das das Schlauchboot ans Gestell kettete.

»Bist du so was schon gefahren?«

»Nein, aber bis vor ein paar Tagen bin ich auch noch nie Traktor gefahren. Oder Monstertruck.« Jarrett zog das Boot aus dem Gestell und zum Steg. Ich dackelte mit dem Motor und der Batterie hinterher. »Wenn ich das Ding zum Laufen kriege, sind wir bestimmt genauso schnell wie Caleb mit der Kutsche!«

Was durchaus stimmen konnte, keine Ahnung, wie schnell Kutschen und Motorboote so fuhren. Aber wir waren schon ein ganzes Stück von der Farm weg und Caleb nicht gerade ein spurenlesender Indianer oder so was. Theoretisch konnten wir überall sein und mit jeder Stunde, die verging, wurde es unwahrscheinlicher, dass er uns noch finden würde. Fand ich zumindest.

»Wir könnten sogar stromaufwärts fahren!«

Stromaufwärts, aha. »Und das wäre wichtig, weil …?«

»Wir heute schon die ganze Zeit stromaufwärts gelaufen sind!« Wir waren jetzt auf dem Steg angelangt und Jarrett nahm mir Batterie und Motor ab. »Zurückfahren macht keinen Sinn, Hannah!«

Ich sah erst zur Sonne, dann folgte ich mit den Augen dem Flusslauf, bis er sich meinem Blick entzog. Jarrett wollte stromaufwärts fahren. Also in die Richtung, aus der der Fluss kam. Aber ich hatte das Gefühl, dass es hier nicht um den Fluss ging, sondern um etwas anderes. Und es war langsam an der Zeit, dass Jarrett mit der Sprache rausrückte.

»Stromaufwärts. Das heißt Nordwesten, oder?«

»Ja, so in etwa«, sagte Jarrett und drehte eine der Stellschrauben zu, die den Außenbordmotor am Boot fixierten.

»Und nordwestlich von hier liegt Columbus, nicht wahr?«

Er widersprach nicht und schaute noch nicht einmal zu mir auf. Er drehte nur stumm die zweite Schraube fest.

»Verdammt, Jarrett!«, brach es aus mir heraus. »Seit wir von der Shetler-Farm weg sind, schlägst du die Richtung Columbus ein! Keine Ahnung, vielleicht machst du es unbewusst, aber –«

»Wohin hätten wir denn gehen sollen?! Zurück zur Sunoco-Tankstelle? Zurück nach Hatford Dale?«

»Natürlich nicht! Aber als wir heute Nacht diesen beschissenen Grasweg verlassen haben, hätten wir auch nach Nordosten gehen können, oder? Doch du bist nach Nordwesten gegangen, weil im Nordwesten Columbus ist und weil in Columbus deine Pflegeeltern leben, wegen denen dich dein schlechtes Gewissen plagt und um die du dir eine Menge Sorgen machst, und ja, das verstehe ich gut, aber scheiße noch mal: Du hast nicht ein einziges Mal erwähnt, dass du nach Columbus zurückwillst! Und du hast nicht ein Mal gefragt, ob ich auch dort hinwill! Und irgendwie, ich weiß nicht, wäre das ganz nett gewesen, denn immerhin ist diese beschissene Apokalypse noch nicht vorbei, und wenn es stimmt, was du mir vor zwei Tagen gesagt hast, WIMMELT es in Columbus vor Maschinen!«

»Ja, schon möglich«, sagte Jarrett finster und stellte die Batterie ins Boot.

»Was ist schon möglich? Dass du es mir hättest sagen sollen? Oder dass in Columbus alles noch viel schlimmer sein könnte als hier auf dem Land?«

»Beides«, sagte er und verband die Kabel, die der Steuereinheit des Motors entsprangen, mit der Batterie. Und dann sah er mich endlich an. »Caleb ist ein verdammter Schweinepriester. Aber er ist seinen Kindern auch ein guter Vater. Ich für meinen Teil hatte nie einen Vater. Und ich hatte auch nie eine Mutter wie Susanna. Aber ich hatte Menschen, die mich geliebt haben und die sich um mich sorgten. Oftmals zu viel, aber … lieber zu viel als zu wenig, schätze ich. Und ja, seit mir das klar geworden ist, zieht es mich tatsächlich zurück nach Columbus. Aber das heißt nicht, dass ich mit diesem Boot in die Stadt fahren oder auch nur einen Fuß in sie setzen will, solange der Wahnsinn nicht vorbei ist. Was immer du von mir denken magst, Hannah – ich bin nicht lebensmüde. Doch wenn wir schon in Bewegung sind und irgendwohin laufen oder irgendwohin fahren, dann wähle ich die Richtung, die mich Jazmine und Desmond näher bringt. Ich hoffe, du verstehst das. Und ich hoffe, du bist damit einverstanden. Denn wenn du es nicht bist, dann … halten wir uns ab sofort eben nicht nach Nordwesten, sondern nach Nordosten.«

»Ich will gar nicht nach Nordosten«, sagte ich und das war die reine Wahrheit. Alles, was ich gewollt hatte, war, dass Jarrett ehrlich mit mir war. Ich hätte mir gewünscht, dass er mir seine Beweggründe und Gedanken von sich aus mitgeteilt hätte, aber okay – jetzt wusste ich ja, woran ich war und warum er mit dem Motorboot den Fluss hinauffahren wollte. Ich verstand ihn, und solange er Columbus nur näher kommen und es nicht betreten wollte, sah ich keinen Grund, nicht einverstanden zu sein.

Er lächelte, als ich es ihm sagte, und dann ging ich zur Hütte, holte meine Schuhe und Socken, die restlichen Wasserflaschen, zwei weitere Dr. Pepper, ein paar Paydays und die Sonnencreme, und als ich zurückkam, war das Boot schon im Wasser und Jarrett saß drin. Er nahm mir mein Gepäck ab und wartete, bis ich es in das etwas kippelige Boot geschafft hatte, dann setzte er sich neben den Steuerhebel des Motors und startete ihn. Es gab mehrere Vorwärtsgänge und Jarrett fuhr im ersten los, machte ein paar kleinere Schwenks mit dem Hebel, um ein Gefühl für die Steuerung zu kriegen, und schaltete dann die Gänge hoch. Und entweder ließ er das alles leicht aussehen, weil er der geborene Fahrzeuglenker war, oder es war leicht.

Besonders schnell war der Elektromotor allerdings auch im fünften Gang nicht. Jarrett schätzte ihn auf sechs oder sieben Meilen pro Stunde, was ich aber nicht in Kilometer umrechnen konnte und er auch nicht. Jedenfalls hätte selbst ich neben dem Boot herrennen können. Jedenfalls für ein paar Minuten.

Aber genug gemeckert. Der Motor war leise, weshalb wir keine Angst haben mussten, dass wir von weiter weg zu hören waren. Und er ersparte uns das Laufen, was mindestens genauso wichtig war. Ich machte es mir also am Bug des Bootes gemütlich und sah zu, wie die Ufer gemächlich an uns vorbeizogen. An einem machte ich eine kleine Schildkröte aus, deren Panzer sowohl von der Form als auch von den Farben an einen Militärhelm erinnerte. Auf einem Baum entdeckte ich einen witzigen Vogel, dem über dem schwarzen Gesicht ein roter Mohawk wuchs und der auch sonst überall rot war, sogar am Schnabel. Jarrett erklärte mir, dass das ein Rotkardinal war, Ohios State Bird. Ich fragte mich kurz, was Ohio außer diesem Staatsvogel, seinem Staatsmotto und seinem Staatsbaum, der Rosskastanie, noch so für Staatssachen hatte, aber wie gesagt – ich fragte es mich nur kurz und deshalb fragte ich auch nicht Jarrett, sondern fläzte lieber faul in unserem Motorboot.

Nach einer Weile mündete ein anderer Fluss in unseren, der daraufhin breiter wurde und auch etwas klareres Wasser mit sich führte. Es sah noch immer nicht wie Sprite aus, aber wenn es hätte sein müssen, ich hätte es sicher getrunken. Aber es musste ja nicht sein, denn ich hatte ja nicht nur ein Superboot und einen Superlenker, sondern auch Superwasser und Super-Dr.-Pepper, was ich vom Geschmack eigentlich gar nicht so super fand, aber das Koffein konnte ich gut gebrauchen.

Wir fuhren an einem verwaisten Parkplatz vorbei, der zu einem verwaisten Badeplatz gehörte. Eine Straße gab es natürlich auch und wenn ich das in der flimmernden Hitze richtig erkannte, war weiter nördlich eine Ortschaft. Aber sie war weit weg, also konzentrierte ich mich auf den Badeplatz. Zugang zum Wasser, Grillmöglichkeit, Bänke zum Sitzen, eine Reifenschaukel für Kinder und ein kleines Häuschen, bei dem es sich wohl um eine Umkleide oder eine Toilette oder beides handelte. Auf dem Dach waren jedenfalls keine Solarzellen.

»Ich weiß nicht, wie’s dir geht«, sagte Jarrett und schaltete den Motor auf Leerlauf, »aber ich muss mal aufs Klo.«

»Ja, ich auch.« Wir hatten beide eine Menge Wasser und Dr. Pepper getrunken.

»Okay, gut. Das Häuschen da – «

»Hat keine Solarzellen.«

»Genau. Ich geh zwar lieber draußen pinkeln, aber ich denke, wir können hier anhalten.« Er schaltete den Motor noch einmal an und lenkte uns etwas näher ans Ufer. Dann drehte er den Steuerhebel auf null, ließ ihn los und zog sich ohne Vorwarnung das T-Shirt über den Kopf. »Ich will lieber nicht noch näher ranfahren. Am Ufer ist das Wasser wahrscheinlich flach und falls da spitze Steine sind, wars das mit unserem Boot.« Er fing an, seine Hose auszuziehen, weshalb ich nicht wusste, wo ich hinschauen sollte, und das Kribbeln war auch wieder da.

»Wenn du deine Jeans trocken halten willst, musst du sie wohl auch ausziehen.« Er grinste mich an, woraufhin der Miniaturmars wieder seinen angestammten Platz auf meinem Hals einnahm. »Aber bleib ruhig noch im Boot.« Jarrett ließ sich ins Wasser gleiten. »Ich ziehe es noch ein Stück näher ans Ufer. Das heißt, wenn ich es im Schwimmen schaffe. Das Wasser ist noch gar nicht so flach hier, ich kann nicht mal steh–«

Plötzlich weiteten sich seine Augen und einen Wimpernschlag später wurde sein Kopf in die Tiefe gerissen. Ich stürzte nach vorne und sah noch seine Unterarme, die vergeblich nach dem Boot tasteten, dann waren auch sie unter Wasser verschwunden.

Schreiend beugte ich mich über die Seitenwand des Bootes. Unter Wasser war ein Schemen, der nach Jarrett aussah, aber ich konnte nicht erkennen, warum zur Hölle er nicht mehr hochkam. Entsetzen brandete über mich hinweg. Meine Gedanken rasten. Schlingpflanzen? Ein Strudel? Eine Riesenschildkröte? Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, aber ich begriff, dass es Jarrett nicht half, wenn ich nachdachte.

Also holte ich Luft und sprang ins Wasser. Angezogen, mit den Füßen voraus. Ich berührte weder den Grund noch sonst irgendwas und weit sehen konnte ich auch nicht, dafür war das Wasser zu trüb. Ich tauchte in die Richtung, in der ich Jarrett vermutete, und zum ersten Mal während dieses wahnsinnigen Ohiotrips hatte ich mehr Angst um ihn, als um mich. Und was ich für Angst hatte. In kalten Wellen packte sie mich und allein die Vorstellung, dass Jarrett vielleicht nie wieder auftauchen würde, zerfetzte förmlich meinen Magen.

Nach ein paar Zügen sah ich ihn. Senkrecht im Wasser und lebendig, noch. Mit den Beinen trat er wild um sich, mit den Händen versuchte er, sich etwas von der nackten Brust zu reißen. Es sah wie Tentakel aus. Ein Krake? Ein echter Krake?! In einem Süßwasserfluss in Ohio?!

Wir rissen gemeinsam an den Tentakeln, die sich anders anfühlten als erwartet. Nicht glitschig, fast schon gummiartig. Sie schnürten Jarretts Oberarme an seinen Oberkörper, sodass er nur die Unterarme bewegen und kaum Kraft aufbringen konnte. Ich hingegen hatte freies Spiel und zerrte mit allem, was ich hatte. Vor allem mit dem Mut der Verzweiflung.

Es waren zwei Tentakel, nur zwei, und ich packte sie so fest, dass ich unter der gummiartigen Masse etwas Hartes spürte. Hatten Kraken Knochen?

Beinekreisend versuchte ich, mich gegen den Auftrieb zu wehren. Meine Lunge schrie nach Luft, aber anders als ich konnte Jarrett nicht auftauchen und er war schon deutlich länger unter Wasser als ich. Eine neue Welle der Angst brandete über mich hinweg und vor meinem geistigen Auge reihte sich Jarrett neben Lauren, Quentin und dem erwürgten Mann in die Galerie der Toten ein. Aber das durfte er nicht. Nicht er.

Ich zerrte jetzt mit beiden Händen am selben Tentakel und endlich bekam ich ihn ein paar Zentimeter von Jarretts Oberkörper. Er wand seinen Arm heraus und nun hatte er freies Spiel, mehr Kraft und einen besseren Winkel. Er packte den Tentakel und schaffte es, ihn auf Abstand zu halten, während ich den anderen umfasste und ein Stück von seiner Haut wegzerrte. Jarrett wand seinen zweiten Arm heraus und gleich darauf den ganzen Oberkörper.

Für den Moment war er frei, aber der Krake war immer noch da, und jetzt, da ich mehr von ihm als nur seine Tentakel sah, erkannte ich, dass es überhaupt kein Krake war. Eher so etwas wie ein Rochen. Ein Rochen mit Tentakelarmen, die sich sofort wieder um Jarrett schließen wollten, doch er schoss Richtung Oberfläche und ich hinterher.

Wir kamen neben dem Boot hoch, japsten nach Luft, husteten, spuckten Wasser und krallten uns ans Halteseil des Boots. Doch der Rochen zerrte schon wieder unerbittlich an Jarrett und es war nur eine Frage der Zeit, bis er abermals unter Wasser gezogen werden würde. Der Rochen war zu stark, selbst für Jarrett.

Aber auch für ein Motorboot?

Ich hangelte mich am Halteseil entlang bis neben den Steuerhebel, schwenkte ihn in Richtung Ufer und jagte ihn vom Stand weg in den höchsten Gang. Das Boot nahm Fahrt auf und Jarrett kämpfte verbissen dagegen an, weggeschleudert und in die Tiefe gezogen zu werden. An seinem Arm traten die Sehnen hervor. Meine Zehen schrammten über Steine. Dann die Füße, Knie, Oberschenkel, mein Bauch, die Unterseite des Boots und dann war Ende. Der Propeller des Motors hatte sich im Schlamm verhakt und jetzt kamen wir nicht mehr vorwärts.

Im knietiefen Wasser lag Jarrett, an dem noch alles dran war, leider auch der elendige Rochen. Ich watete neben ihn und erst jetzt ließ Jarrett das Seil des Bootes los und griff nach einem der Tentakel. Ich packte den anderen und ich wollte ihn nicht nur von Jarrett zerren, ich wollte seine verdammten Knochen brechen. Was mir nicht gelang, aber von Jarretts Haut bekam ich das Scheißteil und Jarrett wand sich frei.

Er taumelte durchs Wasser, ich hinterher. Bis sich Tentakel um meine Beine schlossen. Ich verlor den Stand, krachte auf Steine und versuchte vergeblich, mich irgendwo festzuhalten. Der Rochen zog mich ins tiefere Wasser, doch dann waren Jarretts Hände da, schlossen sich um meine Unterarme und schleiften mich und meine Klette an Land.

Keuchend starrte ich auf den Rochen, aus dessen Rücken ein nicht gerade rochenartiges Elektronikteil ragte. Jarrett und ich tauschten einen Blick, dann trat er hinter das Ding und versuchte, die Tentakel von meinen Beinen zu lösen. Ich half nach Kräften und als ich mich schließlich befreit hatte, rutschte ich hastig weg, während Jarrett einen Satz zur Seite machte. Die Tentakel griffen ins Leere, und so dynamisch und kraftvoll sich der unnatürliche Rochen im Wasser bewegt hatte – an Land war er hilflos wie ein auf dem Rücken liegender Käfer. Er konnte lediglich noch mit den Tentakeln zappeln.

Mit einem Stöhnen ließ sich Jarrett neben mich ins Gras fallen. »Dass du den Motor gestartet hast, hat mich gerettet. Du hast mich gerettet.«

»Und du mich. Zum, lass mich nachdenken, wahrscheinlich siebenundreißigsten Mal.«

»So oft war es nicht.« Er lächelte, mit dem Mund und seinen Augen. Doch dann wurde sein Blick schnell wieder ernst. »Und außerdem konnte ich dich nur retten, weil du mich zuerst gerettet hast. Ich dachte, ich muss ertrinken.«

»Ja«, sagte ich und dann sagte ich nichts mehr, denn allein die Erinnerung an die Angst, die ich um Jarrett gehabt hatte, schnürte mir die Kehle zusammen. Stumm starrte ich auf meine blutenden Knie, an denen die Steine mir die Jeans und die Haut aufgerissen hatten.

»Weißt du, was das ist?« Jarrett nickte in Richtung des Dings, das uns beinahe getötet hätte und das noch immer seine Tentakel nach uns reckte. Ich hatte es für einen Rochen gehalten, doch Rochen trugen keine Elektronikteile auf dem Rücken und besaßen auch keine neoprenartige Haut, keine Knochen und keine Tentakel.

»Ja«, sagte ich matt. »Irgendein beschissener Roboter.«

Jarrett grinste für einen Moment. »Im Aquatics Center in Columbus haben sie auch so einen. Spart den Bademeister, weil die Sensoren erkennen, wenn jemand am Ertrinken ist. Die Gummiarme fixieren die Person in Not und normalerweise bringt der Roboter sie dann an die Wasseroberfläche zurück. Eigentlich ist das Ding dazu da, Leben zu retten, aber Ravi und Caleb haben das genaue Gegenteil aus ihm gemacht.« Jarrett schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich muss jedenfalls immer noch aufs Klo. Oder vielleicht auch wieder, keine Ahnung, ob ich mir unter Wasser vor Angst in die Hose gemacht habe.«

Ich lächelte, weil er so offen darüber sprach, und dann nahm ich seine Hand und ließ mich von ihm hochziehen. Während er auf eine Baumgruppe hinter dem Grillplatz zuging, verdrückte ich mich hinter das Häuschen, das laut den Schildern auch Klos enthielt, aber wahrscheinlich keine sehr ansprechenden. Ich schälte die patschnasse Jeans herunter und ging neben einem Busch in die Hocke. Als ich fertig war, hätte ich die Hose am liebsten ganz ausgezogen, aber ich hüpfte und zerrte sie wieder über meine zerschundenen Schenkel und meine durchnässte Unterhose. Es war mir peinlich genug, dass mein BH sich wieder deutlich unter dem nassen, klebenden T-Shirt abzeichnete.

Jarrett hatte inzwischen das Boot aus dem Wasser geholt und T-Shirt und Hose angezogen.

»Ich glaube, er ist nur verschlammt«, sagte er, über den Propeller des Außenbordmotors gebeugt. »Wenn ich ihn sauber gemacht habe, müsste er wieder funktionieren.«

Ich nahm mir ein Dr. Pepper. Ich hatte zwar überhaupt keinen Durst, aber immer noch ein galliges Gefühl im Mund. »Und dann fahren wir weiter?«

»Nur wenn du einverstanden bist.« Jarrett schaute von seinem Propeller auf.

Ich antwortete nicht gleich, sondern ging ein paar Schritte in Richtung Parkplatz. Ich kniff die Augen gegen die gleißende Sonne zusammen und folgte der Straße mit den Augen. Da waren definitiv Häuser in der Ferne, vielleicht sogar viele. Der Landweg war also nicht gerade verlockend.

»Okay, einverstanden. Aber wenn wir das nächste Mal halten, dann irgendwo in der Pampa und nicht an einem Badeplatz.«

»Geht klar«, sagte Jarrett lächelnd. Dann schaute er auf den Rettungsroboter und seine Augen weiteten sich: Die Tentakel bewegten sich nicht mehr.

Jarrett ging auf den Roboter zu, ließ den Fuß über ihm kreisen und stieg sogar über ihn drüber, aber nichts passierte. Die Tentakel lagen nur noch schlaff im Gras.

»Also entweder ist sein Akku leer. Oder … die Apokalypse ist vorbei.« In Jarretts Augen flackerte Hoffnung auf.

Sie übertrug sich auch auf mich, doch dann sah ich zu dem Dach des Häuschens, auf dem keine Solarzellen waren, und jäh machte sich Skepsis in mir breit.

»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, murmelte Jarrett, obwohl ich genau genommen gar nichts gesagt hatte. »Wahrscheinlich liegt es nur daran, dass dieser Badeplatz keinen Strom produziert und der öffentliche vor fünf Tagen abgeschaltet wurde. Dem Mistding ist der Saft ausgegangen.« Er trat gegen den Rochenkopf des Roboters und dann kratzten wir den restlichen Dreck vom Propeller, befestigten den Motor wieder am Boot und fuhren weiter stromaufwärts.

Im Westen erkannte ich eine kerzengerade graue Linie am Horizont. Eine Straße konnte es nicht sein, dafür war sie zu hoch und zu hell, und ich wollte schon Jarrett fragen, der wieder hinten im Boot saß und steuerte, aber dann wurde meine Aufmerksamkeit von den Häusern auf der anderen Seite des Flusses in Beschlag genommen. Die meisten hielten Abstand, doch ein großes, neu aussehendes Flachdachhaus war ziemlich nah ans Ufer gebaut. Es hatte einen eigenen Zugang zum Wasser, einen gepflegt aussehenden Garten und so etwas wie eine frei stehende, im Rasen eingelassene Terrasse. Und auf der Terrasse, mit dem Rücken zu uns, saß entweder eine Frau oder ein High-End-Android den man nach einer Frau modelliert hatte.

Jarrett schaltete sofort auf Leerlauf, ließ die Hand aber am Steuerhebel, für den Fall, dass der mutmaßliche Android uns bemerkte. Er hatte schulterlanges schwarzes Haar, trug grau-weiße Kleidung und auch seine Hände waren grau. Neben dem Tisch, an dem er saß, stand noch ein zweiter, leerer Stuhl und auf dem Tisch stand eine hellgrüne Tasse, um die sich jetzt Finger schlossen, die offenbar in einem Handschuh steckten, und aus Fleisch und Haut und Knochen bestanden und nicht aus Kunststoff und Metall. Denn die Finger führten die Tasse zu einem Mund, der unmöglich einem Androiden gehören konnte, denn Androiden tranken nichts und niemals.

Und damit war klar, dass wir am fünften Tag der Apokalypse zum ersten Mal eine menschliche Person vor uns hatten, die a) am Leben war, b) weder Shetler mit Nachname noch Ravi mit falschem Vorname hieß und c) sich nicht oder nicht mehr versteckte.

Was wiederum bedeutete, dass dem Rochenroboter womöglich doch nicht einfach nur der Saft ausgegangen war.