Kontrolle

Jarrett

Die Frau auf der Terrasse spürte offenbar, dass sie beobachtet wurde. Sie drehte den Kopf, erwiderte Hannahs und seinen Blick und dann stand sie auf und kam mit der Tasse in der Hand auf sie zu. Aber war es wirklich eine Frau und kein Android? Mit einem Mal war sich Jarrett wieder unsicher, denn die vermeintliche Frau lief unrund und abgehackt. Wie ein Roboter.

Hannahs Daumen malte nervöse Kreise. Ihre Augen flehten ihn an loszufahren. Und er war drauf und dran, es zu tun, doch dann erkannte er die Ausbeulungen an den Beinen, Hüften und Armen der Frau. Und am Rücken. Sie war kein Roboter, aber es gab einen Grund, dass sie wie einer lief.

»Hannah«, wisperte er, »diese Frau steckt in einem Roboteranzug.«

Roboteranzüge mit integriertem elektronischem Antrieb, auch Exoskelette genannt, waren ursprünglich für Rehapatienten entwickelt worden, doch längst kamen sie auch in der Arbeitswelt oder bei Militäroperationen zum Einsatz.

»Und warum trägt sie ein …« Hannah brach ab, denn die Frau war nur noch ein paar Schritte vom Ufer entfernt. Ihre Haut war blass, die schwarzen Haare hatte sie zu einem strengen Mittelscheitel frisiert. Ihre dunklen Augen sahen traurig aus.

»Ihr hättet nicht herkommen sollen«, sagte sie und schleuderte ihre hellgrüne Tasse auf Jarrett.

Er war so perplex, dass er die Hand nicht rechtzeitig vom Steuerhebel kriegte und den Kopf nicht schnell genug runter. Die Tasse krachte ihm gegen die Schläfe. Unter seiner Kopfhaut loderte greller Schmerz auf, vor seinen Augen explodierten Sterne.

Wie aus weiter Ferne vernahm er Hannahs Aufschrei und die bebende Stimme der Frau. »Ihr hättet nicht herkommen sollen! Mein Körper … Ich kann ihn nicht mehr kontrollieren!«

Im nächsten Moment traf ihn etwas Hartes an der Schulter. Aber der Schmerz war nicht das Einzige, was er spürte. Da war auch Hannah. Sie beugte sich über ihn. Und drehte sich, genau wie der Rest der Welt.

»Ich bin vom Hals abwärts gelähmt«, hörte er die Frau rufen. »Deshalb habe ich einen Chip im Gehirn. Um mein Exoskelett zu steuern. Eigentlich soll er meine Gehirnaktivitäten lesen und sie in Befehle für das Exoskelett umwandeln. Damit der Anzug läuft, wenn ich laufen denke. Aber …«

Hannah stöhnte vor Schmerz. War jetzt auch sie von etwas getroffen worden?

»Aber der Virus ist stärker als ich. Er hat die Kontrolle übernommen. Über mein Gehirn. Und meinen Körper. Alles, was er mir gelassen hat, ist mein Mund und meine Stimme. Und meine Tränen. Ich bin gefangen. In meinem eigenen Körper!«

Etwas landete neben Jarretts Fingern im Boot, etwas Hartes, Spitzes. Ein Stein. Die Frau warf mit Steinen auf sie. Musste mit Steinen auf sie werfen. Den hier hatte Hannah womöglich abgefangen, aber wenn das so weiterging …

»Mein Mann … Ich konnte nichts dagegen tun. Und er wollte nicht hören, er …«

Jarrett spürte, wie Hannah sich über ihm bewegte. Und dann bewegte sich auch das Boot. Schlingernd und ziemlich unkontrolliert. Aber egal, Hannah tat das einzig Richtige. Sie versuchte, sie aus der Schusslinie zu bringen. Fort von dieser fremdgesteuerten Frau.

»Fahrt nicht weg, bitte! Ich heiße Allie. Aber … ich bin nicht mehr ich selbst. Ich bin kein Mensch mehr. Ich habe Dinge getan …« Die Stimme wurde nicht leiser. Die Frau – Allie – rannte offenbar neben dem Boot her.

Und er – er hätte alles dafür gegeben, endlich seine sich drehende Welt anzuhalten.

»Werft mir Steine an den Kopf! Erschlagt mich! Tötet mich! BITTE

Hannah stöhnte. Aber diesmal nicht vor Schmerz, wie es sich anhörte, sondern vor Entsetzen.

»Macht dem ein Ende, ich flehe euch an! Ich selbst kann es nicht.«

»Was immer du getan hast«, schrie Hannah und auch ihre Stimme bebte. »Das warst nicht du! Der Virus ist schuld! Er allein! Und wenn das alles vorbei ist – dann bist du wieder du selbst!«

»Nein, ich kann so nicht weiterleben. Nicht mit diesen Erinnerungen. Den Bildern in meinem Kopf. Und dem Blut an meinen Händen. Aber ich kann mich nicht selbst töten. Ich kann mich noch nicht einmal aus diesem Anzug befreien. Der Chip … Er lässt es nicht zu!«

Ein neuer Stachel des Schmerzes bohrte sich in Jarretts Schlüsselbein. Allie fand offenbar auch beim Rennen Steine.

»Oh Gott, Jarrett!« Hannah schluchzte. »Ich fahre schon Vollgas, aber wir hängen sie einfach nicht ab! Und ich kann nicht gleichzeitig steuern und Steine abwehren!«

Jarrett stemmte die Hände gegen das Gummi des Bootes und richtete sich auf. Die verdammte Tasse hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, aber Hannah brauchte ihn, denn der Virus hatte aus Allie ein willenloses Werkzeug gemacht.

Bis vor fünf Tagen musste sie froh gewesen sein über ihr Exoskelett und den Chip in ihrem Kopf – eine Kombination, die sie vor einem Leben im Rollstuhl bewahrte und es ihr trotz Querschnittslähmung ermöglichte, zu laufen, Dinge zu greifen, eigenständig zu essen oder Zähne zu putzen. Doch jetzt, da der Virus ihren Chip infiziert hatte, war Allie nur noch eine Marionette. Eine unfreiwillige Killermaschine.

Zum Glück ließ der Chip sie nicht ins Wasser, weil Wasser für ihren Anzug und die vielen Elektroden an ihrem Körper Gift war. Doch neben dem Ufer herrennen, Steine schmeißen und das Tempo des Motorbootes halten – das konnte Allie wohl mühelos, denn auch sie hatte dank ihres Anzugs einen Motor. Und er war ganz sicher nicht schwächer als der am Heck des Schlauchbootes.

Jarrett fasste sich an die Schläfe. Blut. Nein, doch nicht. Dem Geruch nach zu schließen, war es Kaffee. Seine Nase funktionierte, doch mit dem Gleichgewichtssinn haperte es nach wie vor. Tapsig langte er über die Seitenwand des Bootes, tauchte die Hand ins Wasser und schaufelte es sich ins Gesicht.

Es schien zu helfen. Der Schwindel ließ nach, die Welt pendelte sich etwas ein, sein Blick wurde klarer. Hannah schien nicht zu bluten, aber auf ihrem Arm war ein großer blauer Fleck. Im Boot lagen mehrere Steine und die hellgrüne Tasse.

»Jarrett, pass auf! Allie …«

Allie warf schon, bevor Hannah ihre Warnung zu Ende gebracht hatte. Doch dank ihr sah er den Stein noch kommen und wehrte ihn mit der Hand ab. Der Stein platschte ins Wasser und Hannah erkundigte sich, wie er sich fühlte. Genau wie an dem Tag, an dem es Pakete geregnet hatte, sorgte sie sich, dass er eine Gehirnerschütterung davongetragen haben könnte.

Aber die Tasse war heil geblieben. Unversehrt. Wie konnte es da hinter seiner Schädeldecke anders aussehen?

»Es geht schon wieder«, sagte er also. »Das wirklich Schlimme ist: Calebs verdammter Virus macht nicht einmal vor Menschen halt.«

Hannah durchbohrte ihn mit ihrem Blick. Als wollte sie direkt in sein Gehirn schauen, das, wie er glaubte, nicht erschüttert worden war. Dann sah sie zu Allie, die weinend am Ufer entlangrannte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein muss«, sagte sie leise, »willenlos im eigenen Körper gefangen zu sein. Das kann Caleb nicht gewollt haben, oder? Oder?«

»Hoffentlich nicht.« Hoffentlich hatte Caleb nicht einmal daran gedacht, aus Menschen Killermaschinen zu machen.

»Und Ravi? Meinst du, er wollte herausfinden, ob er es konnte? Ob er in der Lage war, einen Virus zu programmieren, der sogar die Gehirnchips von Menschen infiziert?«

Ein neuer Stein, diesmal für Hannah bestimmt. Aber Jarrett fing ihn für sie ab. Er hatte eine Menge Steine gutzumachen.

»Ich weiß nicht, ob Ravi so pervers ist. Und eigentlich will ich es auch gar nicht wissen. Ich will noch nicht mal darüber nachdenken.«

Hannah nickte und starrte zu Allie, die vermutlich wie eine Maschine getötet hatte, aber wie ein Mensch fühlte und litt. Sie war noch immer ein Mensch, aber sie tat nicht mehr, was sie tun wollte, sondern was der infizierte Chip ihr vorgab. Wann immer ihre Augen einen geeigneten Stein ausmachten, schickte er vermutlich ein Signal an ihren Körper. Und dann mussten ihre Beine zu dem Stein laufen, ihre Hüften mussten sich beugen, ihr Arm musste herunterlangen und ihre in Elektrodenhandschuhen steckenden Finger mussten den Stein hochheben und auf die Menschen werfen, die der Chip als Feinde und Ziele bestimmte.

Und sehr wahrscheinlich hatte Allie in den letzten Tagen nicht nur Steine gegen die vom Virus definierten Ziele einsetzen müssen. Ziele, bei denen es sich nicht immer um Fremde gehandelt hatte, denn eines, vielleicht sogar das erste ihrer Ziele, war offenbar ihr Mann gewesen. Mit einem Mal wünschte sich Jarrett beinahe, dass Caleb und Ravi auf der Kutsche angefahren kämen und mit eigenen Augen sähen, was sie aus Allie gemacht hatten.

Während der Motor in ihrem Anzug lief und lief, wurde das Boot auf einmal langsamer.

»Hab ich was falsch gemacht?« Hannahs Daumen malte seine Kreise jetzt auf den Steuerhebel.

Aber sie hatte nichts falsch gemacht. Wahrscheinlich war einfach die Batterie leer. Oder so gut wie. Noch ein paar Minuten, vielleicht auch nur Sekunden, und das Motorboot würde wieder ein Schlauchboot sein. Und das war nicht das einzige Problem. Keine 300 Yards entfernt spannte sich eine Brücke über den Fluss.

»Es ist nicht deine Schuld, Hannah. Die Batterie gibt den Geist auf. Aber die Brücke da vorn.« Jarrett senkte die Stimme. »Wenn Allie da größere Steine runterwirft … oder selbst zu uns ins Boot runterspringt …«

»Soll ich den Motor ausschalten, damit wir mit der Strömung zurücktreiben?«

Ja, das war eine Möglichkeit. Aber eine mit fetten Fragezeichen. »Der Fluss macht Biegungen und wer weiß, wie nah er uns dann an Allies Ufer bringt. Und außerdem haben wir noch nicht einmal Paddel.«

»Okay, aber dann bleibt eigentlich nur …« Hannahs Kopf zuckte zum anderen Ufer hinüber. Dem, an dem keine menschliche Marionette entlangrannte.

Jarrett nickte, denn auch er sah keine andere Möglichkeit. Hannah riss den Steuerhebel herum.

»Beeilt euch!«, rief Allie. »Ich habe die Brücke auch bemerkt und jetzt muss ich hinüber und euch weiterjagen!«

Hannah versuchte, das Boot aufs Ufer aufzusetzen, doch die Böschung war zu hoch. Also sprang Jarrett ins knietiefe Wasser und hielt das Boot am Seil fest, während Hannah Schuhe und Socken ins Gras warf. Dann nahm sie seine Hand und machte einen Satz ans Ufer. Er selbst fischte noch hastig eine Wasserflasche und einen Payday aus dem Boot, ließ beides in seiner Hosentasche verschwinden und stieg eilig hinterher.

Der Schwindel war zum Glück verflogen, die vom Solarfeld stammende Wunde an seiner Fußsohle aber noch nicht ganz verheilt. Wenn der Schnitt beim Rennen an der Schuhsohle scheuerte, konnte er schnell wieder Probleme machen. Und daher war es wohl besser, wenn er sich die Zeit nahm, um zumindest eine Socke anzuziehen.

Allie war schon auf der Brücke, als er in den Füßling und beide Schuhe geschlüpft war. Was weniger als 300 Yards Vorsprung bedeutete. Nicht viel, wenn man von jemandem verfolgt wurde, der in einem Roboteranzug steckte und nicht müde werden würde.

Hannah und er stürmten die Böschung hinauf und in die Steppe hinein. Sie verausgabten sich, verlangten ihren müden Körpern alles ab. Und doch war nach wenigen Minuten klar, dass Allie sie einholen würde. Nicht sofort, aber irgendwann garantiert. Und dann würde ihr Körper Hannah und ihn töten wollen, während ihre Seele sich wünschte, dass Hannah und er sie töteten.

Aber Allie war ein Mensch, kein Roboter. Jarrett musste nicht in sich hineinhorchen, um zu wissen, dass er das niemals über sich bringen würde. Er konnte unmöglich derjenige sein, der sie von ihrem Leid erlöste. Er wollte noch nicht einmal gegen sie kämpfen. Denn an dem, was Allie getan hatte und weiterhin tun musste, traf sie keine Schuld. Und wenn man die Moral mal außer Acht ließ: Selbst in Überzahl hatten Hannah und er womöglich nur eine kleine Chance gegen eine Widersacherin, die ihr Roboteranzug zu einem halben Cyborg machte.

»Das da vorne«, Hannah deutete hechelnd auf die graue wie an einer Schnur gezogene Linie am Horizont, »sind Hyperloopröhren, oder?«

Sie hatte recht, es waren tatsächlich die beiden Röhren, in denen im Sommer 2057 die ersten Passagiere einem Nachmittag am Strand entgegenschießen oder mit Schallgeschwindigkeit von dort zurückkehren würden. Na ja, wohl nicht schon übernächsten Sommer. Große Teile der Strecke Columbus–Miami waren inzwischen zwar mehr oder weniger fertig, aber eine Apokalypse hatten die Planer ganz sicher nicht einkalkuliert.

»Warum fragst du? Hast du eine Idee?«

»Vielleicht«, krächzte Hannah. »Vielleicht können wir uns in den Röhren Allies Blick entziehen.«

Und so einem Kampf mit ihr aus dem Weg gehen. Ja, vermutlich waren die Röhren dafür ihre einzige Chance! Denn während Allie sich von hinten unaufhaltsam näherte, war links von ihnen nichts als Steppe und rechts, hinter Feldern, zwar ein Vorort von Columbus, doch er war entschieden zu weit weg.

Also blieben nur die Röhren. Später einmal würde in ihnen massiver Unterdruck herrschen – eine Voraussetzung für die extreme Geschwindigkeit, mit der die Kapseln und die Menschen in den Kapseln unterwegs sein würden. Doch noch gab es keine Kapseln und ziemlich sicher auch noch keinen Unterdruck.

Dafür gab es ein anderes Problem. »Wie kommen wir in die Röhren rein? Oder erst mal auf sie drauf?«

»Wenn wir Glück haben«, japste Hannah, »mit einer Leiter.«

Jarrett hatte da so seine Zweifel. Dieser Abschnitt der Hyperloopstrecke war keine Baustelle mehr. Warum in aller Welt sollte es dort eine Leiter geben?!

Aber Hannah hoffte darauf. Und Hannah war nicht irgendjemand. Sie hatte mehrfach bewiesen, dass ihre Ideen gut waren. Und sie hatte die Drahtzieher der Apokalypse enttarnt. Ganz allein und mal eben so, zwischen Versteckspielen und Äpfelschälen.

Jarrett spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterrann. Sein von der Scherbe aufgeschnittener Fuß pochte, sein Kopf dröhnte, auch wenn er keine Gehirnerschütterung hatte. Hannah hielt sich immer öfter die Seiten. Aber sie biss die Zähne zusammen und nicht nur Allie hinter ihnen, auch die Röhren vor ihnen kamen näher und näher.

Und schließlich rannten sie nicht länger auf sie zu, sondern parallel neben ihnen her. In Richtung Columbus, doch es war nicht Jarrett, der diese Richtung gewählt oder vorgegeben hatte, sondern Hannah.

Sie war eisern und so viel ausdauernder als zu Beginn der Apokalypse, doch es war, als ob sie beide sich auf einem Laufband abmühten: Neben ihnen waren immer dieselben zwei Röhren, neun oder zehn Fuß vom Boden weg und damit unerreichbar. Etwa alle dreißig Yards kam der immerselbe Stützpfeiler, aber nirgendwo lehnte oder lag eine Leiter.

Aber irgendwann hing da eine. Einfach so, zwei bis drei Stützpfeiler vor ihnen. Wie es aussah, war sie seitlich an der Röhre befestigt und reichte längst nicht bis zum Boden. Genauer gesagt, ragte sie kaum über das untere Ende der Röhre hinaus. Doch das änderte nichts daran, dass es eine Leiter war.

»Woher …?«

Hannah schüttelte nur den Kopf. Keine Luft für Erklärungen. Aber das war okay. Im Augenblick war es ohnehin wichtiger zu rennen.

Wie sich nun erkennen ließ, befand sich oberhalb der Sprossen eine ebenmäßige Plattform, an der die Leiter verankert war. Es handelte sich um eine Teleskopleiter, was bedeutete, dass man sie nach unten hin ausfahren konnte, wenn man entsprechend Druck ausübte. Doch das konnte man nur, wenn man sich schon auf ihr befand. Also von der Röhre nach unten wollte, nicht vom Boden auf sie hinauf. Wahrscheinlich war es so etwas wie eine Feuer- oder Notfallleiter und vermutlich waren die untersten Sprossen bewusst nicht ausgefahren, damit niemand auf die Röhre gelangte, der da oben nichts verloren hatte.

Jarrett scannte noch einmal die Umgebung. Weit und breit nichts, was man als Sprungbrett gebrauchen konnte. Keine Kisten, keine Paletten, keine Bäume. Was immerhin den Vorteil hatte, dass auch Allie sich schwertun würde, an die Leiter zu gelangen. Zumal sie allein war. Und das war buchstäblich der springende Punkt.

»Hannah! Wenn wir gleich da sind … helfe ich dir hoch.«

»Und … wie kommst du hoch?«

Diesmal war er es, der nur den Kopf schüttelte. Keine Luft für Erklärungen. Und keine Zeit.

Keuchend erreichten sie die Stelle unterhalb der Leiter. Zwischen ihnen und Allie lagen nur noch drei Stützpfeiler, also verschränkte Jarrett wortlos die Finger ineinander, streckte die Arme durch und bedeutete Hannah, in die Kuhle seiner Handflächen zu steigen.

Sie stützte sich an seinen Schultern ab und er wuchtete sie ächzend nach oben. Mehr als einen Fuß weit bekam er sie nicht hoch, obwohl sie so schlank war. Aber es reichte. Sie straffte sich, stieß sich von seinen Handflächen ab und bekam die Leiter zu greifen. Auch die zweite Hand fand das Metall und nun fuhr die Leiter aus und die Sprossen glitten nahezu geräuschlos in Position. Die unterste war jetzt auf Höhe seiner Schultern.

Hannah bekam die Füße auf die Leiter und kletterte weiter. Jarretts Blick flog zu Allie, die nur noch zwei Stützpfeiler entfernt war.

Schnell umfasste er die unterste Sprosse und zog sich mit einem Klimmzug nach oben. Sein Bizeps schrie, als er sich nur noch mit einer Hand hielt und mit der anderen nach der nächsthöheren Sprosse griff. Seine Finger fanden das Metall und er jagte den anderen Arm hinterher.

Der nächste Klimmzug. Sein Gewicht zog ihn nach unten, aber er musste schnellstens nach oben, denn er hatte erst die dritte Sprosse erreicht und Allie war nur noch einen Pfeiler entfernt.

»Beeil dich!«, hörte er sie schreien. »Du musst außer Reichweite! Schnell!«

Verzweifelt zog er sich höher. Doch Allie bräuchte noch nicht einmal den Arm zu heben, um ihn von der Leiter zu pflücken.

Noch ein Klimmzug. Seine Muskeln standen in Flammen. Hannah war oben auf der Plattform und streckte die Hand nach ihm aus. Aber sie kam nicht tief genug, um ihm helfen zu können. Der Blick nach unten verriet ihm, dass Allie ihn jeden Moment erreichen würde. Er stöhnte, aber er hatte keine Wahl. Verbissen krallte er die Finger um die Sprosse, bog den Körper durch und holte mit den Beinen Schwung. Der Chip in Allies Gehirn ließ sie die Arme hochnehmen, aber zu spät. Die Hacken seiner Sneakers trafen sie schon im Gesicht.

Sie taumelte nach hinten und er zwang seine Arme zu einem weiteren Klimmzug. Endlich bekam er die Füße auf die Leiter und kletterte hastig nach oben, denn Allie musste schon von Neuem auf ihn zustürzen und nach seinen Beinen greifen. Sie bekam sie nicht zu fassen, aber die Exoskelettarme fingen an, ihren Körper nach oben zu ziehen, Sprosse für Sprosse.

»Tritt mich!«, forderte sie ihn weinend auf. »Tritt mir ins Gesicht! Und dann zieh die Leiter ein, damit ich euch nicht folgen kann!«

Hilfe suchend blickte Jarrett zu Hannah, doch auch sie schien keine andere Lösung zu wissen. Er schloss für einen Moment die Augen, seufzte und trat Allie von oben gegen die Schultern. Einmal und noch einmal und noch einmal, dann fiel sie endlich. Lautlos und geradezu friedlich. Bis sie krachend auf dem Boden aufschlug.

»Entschuldige. Ich wollte das nicht, ich …«

»Es war das einzig Richtige.« Allie wirkte erleichtert, doch dann hoben sich ihre Schultern, und ihre Hände und Arme fingen an, ihren Oberkörper vom Boden hochzuwuchten. Schlagartig wich ihre Erleichterung Entsetzen. »Der Anzug … Er ist noch intakt! Zieh die Leiter hoch, schnell!«

Hastig schob Jarrett einen Sneaker unter die unterste Sprosse. Er konnte sie nach oben drücken und die zweitunterste Sprosse gleich mit.

»Beeil dich!« Allie war schon im Begriff aufzustehen.

Jarrett verlagerte sein Standbein und ruckelte zwei weitere Sprossen nach oben. Doch Allie stand schon wieder und grapschte nach seinem Fuß. Sie bekam seine Schuhsohle zu packen, aber er riss den Fuß aus dem Schuh und die Sprossen gleich mit nach oben. Und damit waren die Leiter und er für Allie nicht mehr zu erreichen.

Sein Puls beruhigte sich. Vorsichtig schob er mit seinem schuhlosen Fuß die restlichen Stufen zusammen und stieg zu Hannah auf die Plattform. Für einen kurzen Moment hoffte er, dass Allie ihn mit dem verlorenen Sneaker bewerfen würde, aber anders als Steine und Tassen definierte der Chip in ihrem Kopf Schuhe offenbar nicht als Waffen.

Hannah sah ihm lange in die Augen, dann hielt sie einen ihrer Sneakers neben seinen Fuß. »Okay, wir haben fast die gleiche Größe«, sagte sie und stieg aus den Schuhen. »Wir tauschen. Das heißt, du nimmst meine Schuhe, ich laufe ohne weiter.«

»Hannah, das …«

Sie schüttelte den Kopf. »Du brauchst sie dringender. Du hast eine Wunde am Fuß und ich nicht. Ende der Diskussion.«

Sie sah erschöpft aus, müde und mit den Nerven am Ende. Gut, dann keine Diskussion, nur ein »Danke«.

Ihre Sneakers drückten Jarrett ein bisschen an den Zehen, aber es war okay und zwei verschiedene Schuhe an den Füßen hätten sich wahrscheinlich komischer angefühlt. Fragend hielt er Hannah seinen verbliebenen Sneaker hin, aber sie lehnte kopfschüttelnd ab, also stellte er ihn auf die Plattform und reichte Hannah die Wasserflasche. Sie war nicht groß, weshalb sie weder beim Klettern noch beim Treten aus seiner Hosentasche gerutscht war.

Während Hannah trank, sah Jarrett zu Allie, der der Chip noch immer befahl, sich nach der Leiter zu strecken. Auch wenn es aussichtslos war.

»Was wird jetzt aus dir?«, rief er herunter.

»Wenn ich es wäre, die entscheidet, würde ich nach Hause gehen und mich im Fluss ertränken.«

Jarrett musste schlucken. »Und was wird der Chip in deinem Kopf entscheiden?«

»Tja, es ist gut, dass es hier nichts gibt, mit dem ich die Leiter erwischen und auf die Röhre kommen kann. Aber solange ich euch sehe oder höre, wird der Virus mir keine andere Wahl lassen, als euch weiter zu verfolgen. Ich werde also wohl neben der Röhre herlaufen.«

»Auf der Plattform sind Luken«, sagte Hannah an Allie gewandt, »eine über jeder Röhre. Wahrscheinlich Notausstiege für den Fall, dass es brennt. Hilft es, wenn Jarrett und ich hineinsteigen und in den Röhren weitergehen?«

»Ich schätze schon«, antwortete Allie. »Obwohl es besser gewesen wäre, wenn du mir das nicht gesagt hättest.«

Hannah gab ihm die Flasche zurück, dann inspizierten sie die Luken, deren Deckel Scharniere, aber keine Griffe hatten. Sicher kein Zufall, denn natürlich wollten die Betreiber verhindern, dass jemand dem in den Röhren herrschenden Unterdruck mir nichts, dir nichts ein Ende machen konnte. Aber noch gab es ziemlich sicher keinen Unterdruck und im Augenblick auch keinen Strom und damit waren die Luken nicht elektronisch gesichert.

Jarrett schob die Fingernägel in die Gummidichtung zwischen Plattform und Lukendeckel. Zuerst tat sich nichts, weil das Gummi neu und der Deckel schwer war. Aber mit Hannahs Hilfe schaffte er es, ihn hochzuklappen. Innen, genau unter dem Loch, war eine weitere Teleskopleiter angebracht, die er ausfuhr und ein Stück weit herunterklappte. An der Röhrendecke wies ein momentan nicht leuchtendes Dauerlicht auf den Notausstieg hin.

»Sag mal, woher hast du eigentlich gewusst, dass es auch außen irgendwo eine Leiter geben muss?«

»Ich habs nicht gewusst. Ich habe es lediglich gehofft«, sagte Hannah matt. »In der Schule habe ich letztes Jahr am Fenster gesessen. Und da ich mich nicht am Unterricht beteiligt habe und niemanden zum Reden hatte, habe ich stundenlang aus dem Fenster gestarrt. Am anderen Flügel des Schulgebäudes war eine Feuerleiter. Das ist alles. Also – sagen wir Allie noch Auf Wiedersehen? Ich meine, Tschüs?«

Jarrett nickte und sie traten vom Loch weg und auf den Rand der Plattform zu.

»Es gibt eine Leiter. Ins Innere der Röhre«, sagte er zu Allie nach unten. »Wir gehen rein und … kommen erst mal nicht mehr raus. Ich hoffe, du kannst bald nach Hause zurück.«

Allie lachte bitter. »Wenn ihr drin seid, dann redet besser nicht miteinander. Und seid leise. Am besten lautlos, damit …« Auf einmal hielt sie sich den Mund zu. Sie versuchte zwar weiterzureden, aber es kamen nur noch nuschelnde Laute heraus. Der Chip ließ es nicht mehr zu, dass seine Marionette ihnen Überlebenstipps gab.

»Lass uns gehen«, wisperte Hannah. »Das ist das Einzige, womit wir ihr irgendwie helfen können.«

Jarrett nickte und wandte den Blick von Allie ab, der der Chip in ihrem Kopf jetzt auch noch die Möglichkeit nahm, sich mitzuteilen. Er ging zur Luke, trat die restlichen Stufen nach unten und stieg die Leiter herab. Von oben fiel genug Licht herein, dass er erkennen konnte, wie es in der Röhre aussah. Am Boden zwischen den gewölbten Stahlwänden befand sich eine Art Betonsockel, in der die Führungsschiene für die elektromagnetisch beschleunigten Kapseln eingelassen war. Diese Vertiefung war etwa halb so breit wie die Röhre, was ausreichte, um darin hintereinanderlaufen zu können. Unterdruck herrschte keiner.

Hannah ließ die Luke auf, und als sie unten ankam, wechselten sie noch einmal einen stummen Blick, ehe sie vom Lichtkegel wegtraten und ins Dunkel der Röhre eintauchten. Hannah ging in die Richtung, in die sie auch gerannt waren: nach Norden.

»Bist du sicher?«, zischte Jarrett und hielt sie am Arm fest.

Sie zuckte nur mit den Schultern und ging weiter. Weil sie wusste, dass es die Richtung war, die er gewählt hätte? Oder weil es sie nicht kümmerte, weil sie einfach nur müde und leer war? Die Enttarnung von Caleb und Ravi, eine schlaflose Nacht, der Kampf mit dem Rettungsroboter, die Konfrontation mit Allie und FÜNF Tage Apokalypse. Kein Wunder, dass Hannah ausgelaugt und zerschlagen war. Na schön, Norden. Manchmal war eine Diskussion schon zu Ende, bevor sie richtig angefangen hatte.

Es dauerte keine zwei Minuten, dann war es stockfinster in der Röhre. Wenn Jarrett sich umdrehte, sah er noch einen kleinen hellen Punkt, da, wo das Tageslicht durch die offene Luke fiel, doch vor ihnen war alles schwarz. Schwärzer als die schwärzeste Nacht. Er konnte weder die Röhrenwände noch den Betonsockel sehen, geschweige denn Hannah oder seine eigene Hand. Beharrlich wartete er darauf, dass seine Augen sich anpassten, dass er zumindest Umrisse erkannte, so wie wenn er nachts aufwachte und sich durchs dunkle Zimmer ins Bad vortastete. Aber die Röhre blieb schwarz, einfach nur schwarz. Die Luft war auch nicht gerade frisch. Und dann war da noch die räumliche Enge. Wenn er die Hände nicht ganz waagrecht, sondern etwas höher ausstreckte, berührte er auf beiden Seiten die gebogene Stahlwand. Er litt eigentlich nicht unter Platzangst, aber in Verbindung mit der Finsternis und der schlechten Luft ließ die Enge ihn schwindeln. Sein Gang war unsicher und wacklig, aber das lag nicht daran, dass Allie ihm eine Tasse gegen den Kopf geworfen hatte, denn beim Rennen war ihm ja auch nicht schwindlig gewesen. Nein, es lag allein an der Röhre.

Für Hannah musste es noch schlimmer sein. Denn sie war es, die vorausging, ohne zu wissen, ob der nächste Schritt wie all die Schritte davor war. Oder ob sie auf einmal gegen ein Hindernis rumpelte. Barfuß in einen Nagel oder ein Schlangennest trat. Oder ob da in der Dunkelheit vor ihr ein Monster lauerte.

Was natürlich Quatsch war. Das hier war kein Horrorstreifen, sondern eine noch nicht benutzte Hyperloopröhre, in die man nicht so einfach eindringen konnte. Auch nicht als wildes Tier. Oder als Monster, die es ja ohnehin nicht gab.

Aber Maschinen, die konnte es geben. Montageroboter oder irgendwelche anderen Modelle, die eigentlich montieren sollten, jetzt aber morden wollten.

Blödsinn, dieser Abschnitt der Strecke war fertig, bis auf den Unterdruck und den fehlenden Strom. Zwischen Chillicothe und Charlotte oder noch südlicher, da mochte es Maschinen in den Röhren geben, aber nicht hier.

Aber was, wenn die Maschinen durch die Finsternis nach Norden krochen? Oder wenn es doch so etwas wie Monster gab? Irgendeine mutierte Spezies, die in dunklen, nahezu luftleeren Röhren gedieh?

»Jarrett?« Hannah hauchte seinen Namen – und verdammt, war es schön, eine menschliche Stimme zu hören!

»Ja, Hannah? Ja?«

»Ähm … kannst du vielleicht vorausgehen?«

»Ähh ……………… Ja. Klar.«

Als er sich an Hannah vorbeischob, berührte ihr Unterarm einen Moment lang seinen, aber seine Gänsehaut stammte nicht von der Berührung.

Lächerlich. Das hier war nur eine Röhre. Nicht gerade gemütlich, arg eng und finsterer als jede Nacht. Aber kein Grund durchzudrehen.

Jarrett schaffte zweihundertsiebenundvierzig schwindlige Schritte, dann reichte es nicht mehr, Schritte zu zählen. Er brauchte ein anderes Ventil. Eine andere Krücke gegen die irrationale Angst, die ihn fest in ihrem Griff hielt.

»Ich denke, wir können zumindest flüstern. Ich meine, es gibt nicht eine klitzekleine Fuge in dieser Röhre. Selbst wenn Allie immer noch neben uns herläuft, wird sie uns wohl kaum flüstern hören, oder?«

Hannah sagte nichts. Wahrscheinlich waren erst zwei Sekunden vergangen seit seinem Oder, aber das war entschieden zu lang.

»Hannah? Bist du noch da!?«

»Ja. Findest du es hier drin auch so schrecklich?«

»Na ja, also, es ist nicht gerade toll, aber …« Das war lächerlich. »Nein, du hast recht, es ist schrecklich! Hattest du gedacht, dass es so dunkel sein würde?«

»Nein. Ich hatte gar nicht darüber nachgedacht. Und ehrlich gesagt auch nicht darüber, wie wir hier wieder rauskommen.«

»Puh, ich auch nicht, aber … zwischen Miami und Columbus kann es ja nicht nur einen einzigen Notausstieg geben. So eine Luke muss doch in regelmäßigen Abständen kommen.«

»Ja. Nur … wir sehen sie nicht.«

»Hm. Wenn du willst, taste ich ab sofort die Decke ab.«

»Ja … Ja.«

Erleichtert atmete er aus. Lange konnte er es hier drin nicht mehr aushalten. »Hast du Durst?«

»Ein bisschen.«

Er holte die Flasche aus der Tasche und drehte sich zu Hannah um. Seine freie Hand fand ihre. Er drückte ihr die Flasche in die Finger und hörte zu, wie sie trank. »Sollen wir uns kurz setzen? Ich habe auch noch einen platt gedrückten Payday.«

»Okay.«

Er setzte sich auf die Betonstufe. Hannah tastete mit der Flasche nach ihm.

»Es ist so komisch, überhaupt nichts vom anderen zu sehen. Oder von sich selbst«, hörte er sie leise sagen.

»Ja, absolut.« Er stellte die Flasche neben sich, holte den Payday aus der Hosentasche und packte ihn auf. Das Rascheln der Folie kam ihm ohrenbetäubend laut vor. Mit den Fingern maß er den Riegel ab und riss ihn dort, wo er die Mitte glaubte, entzwei. Er suchte Hannahs Hand und legte das größere der beiden Stücke hinein. Das kleinere Stück steckte er in die Folie zurück. Er wollte es heimlich tun, aber sie musste das Rascheln gehört haben oder vermisste ein Kaugeräusch, jedenfalls sagte sie: »Isst du nichts?«

»Jetzt nicht.« Er konnte unmöglich etwas essen. Erst brauchte er frische Luft. Und Licht. Und Weite. »Ich geb dir jetzt deine Schuhe wieder. Der Beton muss ganz schön kalt an den Füßen sein.«

»Nein, es geht schon. Wirklich. Behalt sie ruhig.« Er hörte, wie Hannah kaute. »Sag mal, meinst du … sie ist noch da draußen?«

»Ich weiß es nicht. Aber wenn der Chip in ihrem Kopf keine Signale mehr von uns empfängt, wird er ihrem Körper vielleicht nicht mehr seinen Willen aufzwingen. Dann kann sie die Kontrolle übernehmen und nach Hause gehen. Hoffentlich«, setzte er hinzu.

»Ja, ich hoffe es auch. Für uns und für sie. Oh Gott, ich habe gar nicht mehr an deine Gehirnerschütterung gedacht! Wie geht es deinem Kopf?«

»Ich habe keine Gehirnerschütterung. Nur eine Beule an der Schläfe.«

»Ist dir schwindlig?«

»Ja, ehrlich gesagt schon. Aber das liegt an der schlechten Luft hier drin. Draußen hatte ich nur leichte Kopfschmerzen.«

»Isst du deshalb nichts? Scheiße, Jarrett. Wenn man eine Gehirnerschütterung hat, braucht man Ruhe.«

»Mag ja sein, aber falls du es vergessen hast: Wir sind verfolgt worden. Es war keine Zeit, um Pause zu machen. Und außerdem habe ich keine Gehirnerschütterung.«

»Bist du sicher?«

»Ja. Und damit Ende der Diskussion«, setzte er hinzu. Ziemlich unfreundlich, wie ihm selbst bewusst wurde. »Entschuldige, ich wollte dich nicht anpampen.«

»Schon gut«, sagte sie leise. »Sollen wir dann … weitergehen? Damit wir hier schneller wieder rauskommen?«

»Okay.« Er stand auf, steckte die ziemlich leere Flasche in die Hosentasche und nahm von Neuem den Kampf gegen die Dunkelheit auf. Seine Schritte waren noch immer etwas wacklig, doch diesmal zählte er sie nicht. Stattdessen redete er flüsternd mit Hannah, was dem Trip durch die Schwärze ein Stück weit den Schrecken nahm. Sie redeten über Allie, über das, was sie hatte tun müssen, und über Caleb, der sie unmöglich noch finden konnte. Seine körperliche Gestalt brauchten sie nicht mehr zu fürchten, doch der Virus, den Ravi in seinem Auftrag programmiert hatte, gehörte vermutlich noch immer nicht der Vergangenheit an.

Auf der Suche nach einem Weg zurück ins Licht streckte Jarrett mal den einen, mal den anderen Arm nach oben, und schließlich fanden seine Fingerkuppen endlich etwas anderes als glatten Stahl. Es war eine Leiter und auch sie ließ sich von der Röhrendecke herunterziehen und ausfahren. Darüber befand sich eine weitere Luke, deren Deckel so dicht schloss, dass nicht das geringste Licht hindurchfiel. Aber von der Leiter aus konnte Jarrett mit Händen, Kopf und Schultern dagegen drücken und schließlich löste sich der Deckel schmatzend von der Dichtung.

Das dünne Lichtband, das um ihn herum erschien, ließ ihn die Augen schließen. Blind stieß er den Deckel auf und saugte gierig die frische Luft ein. Sofort fühlte er sich besser.

Dann stieg er blinzelnd aus der Röhre. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam wieder an Licht. Und dabei war es noch nicht mal grell, denn die Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden und der Himmel erstrahlte in dem tiefen, satten Blau, das nur der Anfang und das Ende eines Tages mit sich brachten. Bald schon würde es zu Schwarz werden, doch es würde nicht so dicht wie das in der Röhre sein und Raum für Umrisse und Schattierungen lassen.

Aber noch war es nicht Nacht und mit klopfendem Herzen trat Jarrett an den Rand der Plattform und hielt Ausschau nach Allie. Sie war nicht da, weder auf der einen noch auf der anderen Seite der Röhre. Er atmete auf und als er es Hannah mitteilte, war auch ihr die Erleichterung anzumerken. Dann sah sie sich selbst um, blinzelnd und gleich wieder nervös, denn während ihres Marsches durch die Röhre war der Highway nah an die Hyperloopstrecke herangerückt. U. S. Route 23 bot ein Bild der Verwüstung. Ausgebrannte Autos, umgestürzte Lastwagen, Massenkarambolagen. Mehr vom schrecklichen Gleichen.

»Das ist der Highway, von dem wir heute Morgen das Schild gesehen haben, nicht wahr?«

»Ja. Vor fünfeinhalb Tagen sind wir auf ihm in südliche Richtung gefahren.« Damals, im SUV der Giddeys, als Hannah kaum ein Wort mit ihm gesprochen hatte. »Siehst du den Ort hinter uns? Das müsste South Bloomfield sein, da sind wir damals auch durchgekommen. Ich glaube, kurz danach bist du dann eingeschlafen.« Tja, heute hatten sie South Bloomfield nicht in einem selbstfahrenden Auto, sondern in einer Hyperloopröhre durchquert. Und da sie dabei nicht das leiseste Geräusch gehört hatten, mussten Hyperloopröhren entweder extrem schalldicht sein oder South Bloomfield in Schockstarre.

Jarretts Blick ging nach Norden, wo der Highway und die Hyperloopröhren jetzt parallel verliefen, was auch bis Columbus so bleiben würde. Von hier aus war die Stadt noch nicht zu sehen, aber die südlicheren Viertel konnten kaum mehr als fünf Meilen entfernt sein. Columbus war nah, fast schon zu nah.

»Wir sollten nicht mehr weiterlaufen, Hannah. Weder heute Abend noch morgen früh. Ich weiß, wir haben gerade mal noch einen Viertelliter Wasser, aber wir werden nicht gleich verdursten. Wir haben es schon länger ohne Flüssigkeit ausgehalten. Und morgen ist Mittwoch. Der sechste Tag! Irgendwann muss es diese verdammte Softwarelösung geben!«

»Ja, sollte man meinen.« Hannah seufzte. »Also, wo schlafen wir? Zurück in die Röhre will ich auf keinen Fall.«

»Ich auch nicht. Aber wahrscheinlich wäre es klug, hier oben zu bleiben. Hier sind wir um einiges sicherer als unten im Gras.«

»Ja und es ist auch um einiges härter als unten im Gras«, murmelte Hannah und setzte sich auf die Betonplattform. »Aber egal, ich bin so müde, dass ich überall schlafen kann.« Sie streckte die Beine aus, lehnte sich zurück und schob die gefalteten Hände unter den Kopf. »Hach, endlich liegen. Solltest du auch probieren. Du weißt schon, wegen deiner …«

»Ich habe keine Gehirnerschütterung. Mir ist überhaupt nicht mehr schwindlig hier draußen.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, ich habe nur noch ein bisschen Kopfweh, aber das muss nichts heißen. Wir sind seit über sechsunddreißig Stunden wach.«

»So lange schon? Gott, ohne Koffein hätte ich das nie durchgehalten.«

»Vergiss nicht, Dr. Pepper eine Dankesmail zu schreiben, wenn das alles vorbei ist.«

»Dr. Pepper? Wozu? Damit irgendein Bot sie beantwortet? Nein, wenn, dann schreibe ich den Typen vom Bootsverleih.«

»Boote statt Bots.« Er setzte sich neben sie auf die Plattform. »Meinst du, die Dinge werden sich ändern, wenn der Virus vorbei ist? Meinst du, Caleb wird recht behalten und manche Menschen werden ihre Maschinen in den Müll schmeißen?«

»Und wieder wie vor fünfzig oder hundert Jahren leben? Ich weiß nicht. Der Zug ist abgefahren, schätze ich.«

»Ja, wahrscheinlich.« Nachdenklich sah er zum Himmel, wo das Blau jetzt zu Schwarz wurde. Noch war die Luft angenehm warm, aber in ein, zwei Stunden würde Hannah sicher kalt sein und sie hatten nichts, mit dem sie sich zudecken konnte.

Die Dunkelheit senkte sich jetzt schnell herab, aber von dem üblichen Lichtsmog über Columbus war nichts zu sehen. Bis zu der von Caleb heraufbeschworenen Apokalypse hatten in der Stadt mehr als eine Million Menschen gelebt, in der gesamten Metropolregion sogar mehr als doppelt so viele. Wie viele davon mochten gestorben sein? Und was war mit Desmond und Jazmine? Harrten sie im Keller aus und schalteten jede Stunde das alte batteriebetriebene Radio an, in der Hoffnung, dass die Regierung endlich Entwarnung gab? Oder lagen sie tot vor der schwarz überstrichenen Leinwand?

Und seine Mutter? Saß sie auf ihrer Brandfleckencouch und starrte Löcher in die Luft? Oder hatte die Sucht sie auf die Straße getrieben, in der falschen Annahme, sie könnte es bis zu Bobby schaffen und Nachschub besorgen?

»Hey. Alles okay?« Hannah hatte sich aufgesetzt und sah ihn von der Seite her an. Die Haare waren ihr vors Gesicht gefallen, verbargen aber nicht die Wunde auf ihrer Wange. Sie rührte von ihrer Flucht durchs Solarfeld, wohin sie nur geflohen war, weil er sie zuvor mit Worten verletzt hatte.

»Denkst du an Desmond und Jazmine?« Ihre Stimme war weich.

»Ja. Oder nein, nicht mehr. Gerade habe ich an etwas anderes gedacht.«

»Und woran?«

»Wie du ins Solarfeld gerannt bist. Und wie froh ich bin, dass du es lebend herausgeschafft hast.«

Hannah sah ihm tief in die Augen. »Es wäre nicht deine Schuld gewesen, wenn mich das Auto überfahren hätte. Sondern meine. Ich hätte nicht gleich wegrennen müssen, nur weil du etwas gesagt hast, was ich nicht hören wollte.«

Er schüttelte den Kopf, denn das stimmte nicht.

»Hey, lass uns das vergessen, okay? Seitdem ist viel passiert und außerdem … Ich bin ein Autokiller.« Hannahs Lächeln war wie ein heller Fleck in der Dunkelheit.

Und sie hatte recht. Sie war nicht mehr das heillos überforderte, unbändig unsichere Mädchen, das, hinter ihrer Reisetasche versteckt, in den SUV der Giddeys gestiegen war. Jetzt war sie eine Autokillerin und noch viel mehr als das. Vielleicht hatte die Apokalypse sie verändert, aber wahrscheinlicher schien Jarrett, dass die vergangenen Tage nur ans Licht gebracht hatten, was zuvor schon in ihr geschlummert hatte.

Aber Hannah hatte ihn verändert. Als er vor sechs Tagen aus der Wohnung seiner Mutter gerannt war, war er an einem Punkt gewesen, an dem er niemandem mehr vertrauen und niemanden mehr an sich heranlassen hatte wollen. Doch dann hatte Hannah Stück für Stück sein Vertrauen gewonnen und Stück für Stück hatte er sich ihr mehr geöffnet und mittlerweile … jetzt …

Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er ihren Blick suchte. »Weißt du«, sagte er leise, »dass es niemanden gibt, mit dem ich lieber hier sitzen würde als mit dir?«

Im Licht des Vollmonds nahm er jedes Detail ihres schmalen Gesichts wahr. Die müden, aber sanften Augen. Die hohen Wangenknochen. Die Wölbung ihrer Stirn. Die schlanke Nase. Ihr leicht vorstehendes Kinn. Den zarten Schwung ihrer Lippen. Sie sah so hübsch aus, wie sie da saß und ihn ansah. Er konnte gar nicht anders, als sich auf sie zuzubewegen, und gerade als er den ersten Schritt tun wollte, kam sie ihm zuvor.