Tag 6

Hannah

Ich weiß nicht, ob es am Licht lag oder ob es das metallene Scheppern war, das mich aus dem Schlaf riss. Jedenfalls wachte ich auf und Jarrett auch.

Es war noch dunkel, abgesehen von dem grellen Lichtkegel, der seinen Ursprung unmittelbar unter uns nahm. Das Scheppern war immer nur kurz zu hören, aber es kam eindeutig von der Röhre. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und auch in Jarretts Augen sah ich Angst, als wir vorsichtig an den Rand der Plattform traten.

Am Boden war jemand. Jemand mit einer Stirnlampe, die so hell leuchtete, dass es blendete. Die Gestalt hielt ein Seil in der Hand, an dessen Ende etwas befestigt war, und schwang es wie ein Lasso. Der Gegenstand flog durchs Licht auf uns zu und ich wich so spät zurück, dass er mich garantiert getroffen hätte, wäre er hoch genug gekommen, doch er schepperte irgendwo seitlich gegen die Röhre.

Ich machte einen unsicheren Schritt zum Rand der Plattform zurück. Die Gestalt bückte sich gerade und das Licht ihrer Stirnlampe fiel auf den am Seil festgemachten Gegenstand. Er sah aus wie … eine kleine Gartenkralle. Die Gestalt hob sie auf und kam ruckartig wieder hoch. Ich bemerkte noch, dass sie Handschuhe trug und schulterlanges Haar hatte, dann blendete mich der Lichtkegel aufs Neue.

»Bist du das, Allie?«, rief Jarrett.

Statt einer Antwort flog die Gartenkralle durch den Lichtkegel. Wieder reagierte ich zu spät, doch die Kralle kam erneut nicht hoch genug. Es schepperte, und als ich wieder nach unten sah, erkannte ich, dass die Kralle sich in der Leiter verfangen hatte.

»Allie?«, rief Jarrett wieder.

Ich konnte nicht erkennen, ob es Allie war, das Licht war zu grell und zu nah am Gesicht der Gestalt. Was ich sehen konnte, war, dass die Person mit beiden Händen am Seil zog. Und weil sich die Kralle in den Sprossen verhakt hatte, fuhr die Leiter nach unten aus.

»Scheiße, sie will hochkommen!«

Es war wohl eine Sie. Aber war es Allie? Es sah aus, als zeichneten sich an den Seiten ihres Körpers Ausbeulungen ab, und auch die Art und Weise, wie sie die Arme bewegte, ließ auf Allie schließen. Aber das war es eben: Die Gestalt bewegte die Arme, was hieß, dass sie sich nicht den Mund zuhielt, wie Allie es bei unserem Abschied gestern hatte tun müssen.

»Verdammt, sie hat eine Waffe!«

Ich sah es auch. Die Gestalt hatte das Seil losgelassen und aus einer Tasche an ihrer Brust ein Klappmesser herausgezogen. Sie hielt es für einen Moment ins Licht, dann fing sie an, die heruntergezogene Leiter hochzusteigen. Mit dem Messer in der Hand.

Ich sah Jarrett an, was er dachte. Egal, wer die Gestalt auf der Leiter war, wir konnten nicht nach ihr treten, wenn sie gleichzeitig mit einem Messer nach uns stach.

»Wir müssen hier weg!« Er zog mich vom Rand der Plattform, blieb dann aber unschlüssig stehen.

»Nicht in die Röhre!«, stöhnte ich und jetzt war ich es, die Jarrett mit sich zog.

»Ich wollte gar nicht in die Röhre! Ich …«

Er hatte zwischen South Bloomfield hinter uns und Columbus vor uns geschwankt, mit einem Mal kapierte ich es. Aber ich hatte mich, ohne nachzudenken, für Columbus entschieden. Ob das eine gute Idee war? Keine Ahnung, doch zumindest würden wir in dieser Richtung nicht schon in zehn Minuten von Häusern und damit theoretisch von Maschinen umgeben sein. Jedenfalls war es definitiv keine gute Idee, noch mal umzukehren, denn hinter uns klapperten die Sprossen der Leiter und wir brauchten jeden Meter Vorsprung, den wir kriegen konnten.

Die Röhre war zu schmal, als dass wir nebeneinanderrennen konnten, weshalb Jarrett meine Hand losließ und auf die andere Röhre überwechselte. Der Stahl war kühl, aber nicht rutschig, deshalb hatte ich kaum Angst runterzufallen, doch vor der Gestalt mit dem Messer hatte ich eine Riesenangst. War es Allie? Haare, Statur, Handschuhe, die Ausbeulungen an ihrem Körper, die ruckartigen Bewegungen – all das passte. Außerdem war Allie die Einzige, die gewusst hatte, dass wir irgendwo hier oben waren. Aber wenn es sich um Allie handelte, warum sprach sie dann nicht mit uns oder versuchte es zumindest?

Ich blickte über die Schulter, doch noch war der Lichtkegel hinter uns klein. Noch hatten wir Vorsprung.

»Wie geht es deinem Kopf? Und dem Fuß?«

»Beide pochen. Aber nur ein bisschen.«

Ich hoffte, dass das stimmte, und konzentrierte mich wieder aufs Rennen. Dadurch dass der Untergrund überall gewölbt war und es nicht eine einzige flache Stelle gab, waren wir gezwungen, exakt auf der Mitte der Röhren zu laufen. Spielte uns das in die Karten? Oder spielte die Wölbung für ein Exoskelett keine Rolle? Ich hatte keine Ahnung, aber für den Augenblick schien das Licht hinter uns weder zurückzufallen noch näher zu kommen.

Die Dunkelheit, die uns umfing, kam mir schon weniger dicht vor. Der Highway neben uns war tot, nichts als Wracks. Links von ihm befand sich ein Rastplatz mit einem kleinen Häuschen, wahrscheinlich einer Toilette, und aus der Finsternis schälten sich auch Bänke und Tische, doch nirgendwo war jemand zu sehen.

Als es zu dämmern anfing, stachen meine Seiten schon höllisch. Am Himmel waren mehr Wolken als in den letzten fünf Tagen zusammen, und um uns herum hauptsächlich Äcker und Felder. Vom Highway ging eine Straße ab, die zu einer Farm führte, aber Maschinen konnte ich keine ausmachen. Dafür bekamen wir nun mehr von der Person zu sehen, die uns verfolgte. Die Stirnlampe war noch an, aber jetzt, da es Tag wurde, blendete sie uns nicht mehr. Schulterlanges schwarzes Haar, weißgrauer Anzug, abgehackter Laufstil. Es musste Allie sein.

Es war Allie, mit jeder Minute erkannte ich mehr ihres Gesichts. Sie holte auf, denn natürlich wurden wir langsamer. Das heißt, ich wurde langsamer, Jarrett hätte wahrscheinlich noch schneller rennen können. Er blieb genau neben mir und wir tauschten auch immer wieder kurze Blicke, doch für mehr hatte ich weder Luft noch Speichel. Aus Jarretts Hosentasche ragte zwar der Hals der Wasserflasche, aber wir konnten nicht im Rennen trinken und Anhalten war keine Option, denn hinter uns dröhnte die Röhre von Allies stampfenden Schritten.

Warum hatte sie kein Wort zu uns gesagt? Warum rief sie uns auch jetzt nichts zu, wo sie doch ihre Arme genauso schwang wie wir und sich nicht den Mund zuhalten musste? In Stützpfeilern gerechnet, lag sie noch zwei hinter uns. In Metern, keine Ahnung, aber es wurden jede Minute weniger. Und ich rechnete jede Sekunde damit, dass meine Lungen platzten.

»Das hat keinen Zweck! Hier oben können wir sie nicht abschütteln! Bei der nächsten Plattform müssen wir runter!«

Ich nickte nur. Mehr gab es nicht zu sagen. Ich machte schlapp, Jarrett irgendwann sicher auch, Allie nicht. Wir brauchten einen Ort, an dem wir aus ihrem Sichtfeld verschwinden konnten.

Ich versuchte, meine Konzentration auf die Röhre zu richten und gleichzeitig die Gegend zu scannen. Links vom Highway ging das freie Feld in einiger Entfernung in ein Waldstück über, hinter dem schon die ersten Wolkenkratzer und Farmscraper zu erkennen waren. Rechts von der Röhre kam recht bald eine Wohnwagensiedlung in Sicht und weiter im Nordosten konnte ich die Umrisse des Flughafens ausmachen.

Jäh musste ich daran denken, wie ich in den SUV gestiegen war und lieber den Bordcomputer seine Ohiofakten abspulen lassen hatte, anstatt mich mit Jarrett zu unterhalten. Gott, was musste er damals von mir gedacht haben?

Wahrscheinlich das Gleiche wie ich: wie erbärmlich und peinlich ich mich verhalten hatte. Aber so war ich eben gewesen, vor fünfeinhalb Tagen, und dass ich mich jetzt anders fühlte, lag auch an Jarrett.

Gestern Abend hatten wir uns geküsst, uns gespürt und erkundet, ehe wir Arm in Arm eingeschlafen waren. Bei allem, was ich an der Apokalypse hasste – die vergangene Nacht tauchte diesen wahnwitzigen Trip in ein anderes, wärmeres und kribbelndes Licht. Und während ich jetzt keuchend zu Jarrett sah, betete ich, dass diese Nacht nicht unsere letzte gewesen war.

»Da! Eine Plattform!«

Ich sah sie auch, gar nicht mehr so viele Pfeiler vor uns. Gut, dann konnten wir endlich von der Röhre runter. Doch wo sollten wir hin?

»Hinter den Bäumen«, japste Jarrett, »müsste ein Fluss sein! Der Scioto River. Dort könnte Allie uns nicht auf die andere Seite folgen!«

Ja, sehr wahrscheinlich konnte sie tieferes Wasser mit ihrem Elektrodenanzug nicht durchqueren. Aber der Waldgürtel um den Fluss war noch ein ganzes Stück weg. Und Allie nur noch anderthalb Stützpfeiler hinter uns.

»Was ist damit?« Ich deutete auf die Wohnwagensiedlung östlich der Röhre. Sie war deutlich näher und dort wohnten sicher nicht gerade reiche Leute. Was hoffentlich keine oder kaum Roboter bedeuten würde. Und wie der Fluss boten auch die eng gereihten Wohnwagen eine Chance, Allie abzuschütteln.

»Okay, das könnte auch gehen!« Jarrett hängte mich ab, zum ersten Mal an diesem Tag und ganz bewusst, denn er wollte schon mal die Teleskopleiter nach unten treten. Für mich, wie mir klar war, denn er selbst wäre sicher auch von den höheren Sprossen gesprungen.

Er wartete auf der Plattform und während ich die Leiter runterstieg, rief er mir zu, unten gleich weiterzurennen. Ich gehorchte, schaute aber über die Schulter und sah, wie er von der Mitte der Leiter auf den Boden sprang. Er fing sich geschickt ab, doch dann hielt er sich den Kopf.

»Ist dir wieder schwindlig?«

»Nein, es geht schon«, behauptete er, nahm die Hand runter und rannte neben mir her. Ich musterte ihn, konnte aber nicht erkennen, ob das stimmte oder ob er mich nur beruhigen wollte, weil die harte Landung sein erschüttertes Gehirn in Wahrheit aufs Neue erschüttert hatte.

Hinter uns stieg Allie von der Leiter. Vor uns war ein Grünstreifen, der mit Büschen und Bäumen bepflanzt war und die Wohnwagensiedlung umgab. Wohnwagensiedlung – das klang neutral und wertungslos, was sich von der amerikanischen Entsprechung irgendwie nicht behaupten ließ. Trailer Park. Hoffnung hörte sich anders an.

Jarrett und ich preschten durch den Grünstreifen und fanden uns neben einer Art Lagerraum wieder. Von den davorstehenden Mülltonnen führte eine Blutspur in das Gebäude. Frisch war sie nicht, aber mir stellten sich trotzdem alle Armhärchen auf.

Dann der erste Wohnwagen, mehr Rost als Weiß. Der nächste war ebenfalls schon lange nicht mehr bewegt worden und halb mit einer Terrasse aus Paletten umbaut. Eine der Fensterscheiben war eingeschlagen, die Tür stand offen. Die anderen Wohnwagen um uns herum sahen unbeschädigt aus, aber nirgendwo ein Lebenszeichen. Versiffte Sessel. Ein leeres Planschbecken mit schlabbriger Hülle. Ein toter Hund, von Fliegen besiedelt. Vielleicht hätten wir nicht herkommen sollen, dachte ich, aber was zum Teufel hätten wir sonst tun sollen?

Die Wohnwagen standen ziemlich dicht und wir wechselten die Reihen, um aus Allies Blickfeld zu verschwinden. Was zu klappen schien – schon nach drei oder vier Reihen konnte ich sie nicht mehr hinter uns ausmachen. Aber galt das im Umkehrschluss auch für sie? Oder wusste sie noch immer, wo wir ungefähr sein mussten?

Wir drosselten unser Tempo, machten es wie die Wohnwagen und duckten uns in den Kies. Die Steinchen waren flach und abgerundet, worüber sich meine nackten Füße aufrichtig freuten. Ich rieb mein hämmerndes Herz, dann legte ich mich neben Jarrett auf den Boden. Unter unserem Wohnwagen konnte man durchsehen, aber viele andere Wohnwagen standen auf festen Sockeln oder waren mit irgendwelchem Zeugs verkleidet. Jedenfalls sahen wir nicht überallhin und nirgendwo sah ich das, worauf es ankam: Allies Füße. Wo steckte sie?

Ich hörte sie nicht. Aber das musste nichts heißen, denn es lag nicht überall Kies. An manchen Stellen gab es auch klägliche Reste von Gras, mitunter Asphalt. Ich fragte mich, ob jemand in einem Exoskelett schleichen konnte.

Mein Puls raste. Und raste. Und raste. Auf einmal nahm ich eine Bewegung wahr. Allie! Nein, ein Kind. Ein Junge, vielleicht so alt wie meine Schwester. Hinter einem Wohnwagenfenster, die Hand an der Gardine. Er sah uns an, mit ausdruckslosen Augen, dann wurde er weggezogen und die Gardine fiel vors Fenster zurück.

Ich schluckte hart. Ich hatte die Wohnwagensiedlung vorgeschlagen, weil ich gehofft hatte, Allie hier abzuschütteln. Aber ich hatte nicht einen Gedanken an die Menschen verloren, die hier ausharrten und sich versteckten. Ich hatte überhaupt nicht bedacht, dass wir eine Killerin zu ihnen führten. Allie war wegen uns hier, aber wenn sie den Jungen oder irgendjemand anderen entdeckte, würde der Chip in ihrem Kopf sie diese Person angreifen und töten lassen.

Jarrett bedeutete mir mit einer Handbewegung weiterzugehen. Er trug noch immer meine Sneakers an den Füßen und obwohl er langsam und vorsichtig ging, knirschte der Kies unter seinen Sohlen. Es war ein Fehler gewesen, nicht auf einem Grasstreifen anzuhalten, aber es war schwer, keine Fehler zu machen, wenn es um Leben und Tod ging.

Es fing zu regnen an. Vereinzelte, große Tropfen. Ein paar verirrten sich in das leere Planschbecken und prasselten auf das Gummi. Jarrett und ich schlichen über den knirschenden Kies auf einen fest angelegten Grillplatz zu, wo der Untergrund hauptsächlich aus Erde bestand. Hektisch blickte ich mich um. Keine Allie. Und zum Glück auch keine Gesichter an den Wohnwagenfenstern. Dafür endlich weicher Boden unter den Füßen. Aber auch am Grillplatz: Blut. Oder Ketchup. Verdammt viel altes Ketchup, aber … na ja, theoretisch konnte es Ketchup sein.

Der Grillplatz war mit Ziegelsteinen umfasst und Jarrett hob einen losen auf. Dann fingen wir wieder an, schneller zu rennen, auf den nächsten Wohnwagen zu, der im Gras stand und unten freien Blick gewährte. Wir umrundeten ihn und pressten uns auf den Boden. Nirgendwo Füße, aber unser Wohnwagen war auch der einzige in diesem Bereich, unter dem man durchschauen konnte.

Ich schätzte, dass wir ungefähr in der Mitte der Siedlung waren, wo offensichtlich niemand an Aufbruch dachte. Für viele der Menschen hier war der Trailer Park augenscheinlich keine Zwischenlösung, sondern die Endstation. Hoffentlich nicht auch für Jarrett und mich.

Er legte den Ziegelstein aus der Hand und massierte sich die Schläfe. Als er meinen besorgten Blick bemerkte, hauchte er: »Mir gehts gut.« Und dann lächelte er ein bisschen, sein Gesicht zog meines an und offenbar auch umgekehrt. Wir küssten uns. Eigentlich war es mehr eine flüchtige, hektische Berührung unserer aufgesprungenen Lippen als ein echter Kuss. Aber mehr gab die Situation nicht her und immerhin: Ich fühlte mich jetzt sicher, dass der vergangene Abend kein Strohfeuer gewesen war. Zumal da für einen Moment wieder dieser verschwommene Ausdruck in Jarretts Augen lag, aber dann verdrängten ihn aufs Neue Unruhe und Angst.

Und auf einmal war Allie hinter Jarrett. Ihr Mund war mit transparentem Klebeband zugeklebt, in der Hand hielt sie das Messer. Meine Reaktion ließ Jarrett herumfahren, aber in seiner Panik vergaß er den Ziegelstein, also hob ich ihn auf, schoss vom Boden hoch, und warf. Der Stein traf Allie an der Stirn, gerade als sie zustechen wollte. Zustechen musste. Sie hielt das Messer weiter in der Hand, aber sie wankte und Jarrett und ich stürzten davon.

Gras, Asphalt, wieder Gras. Panisch wechselten wir die Reihen, aber wir liefen nicht im Kreis, sondern behielten eine grobe Richtung bei. Vor uns war einer der Grünstreifen, hinter uns war niemand, jedenfalls niemand zu sehen, und wir hielten erst an, als wir an den Sträuchern vorbei hinter zwei Bäume sprangen. Ich presste mich seitlich an die Rinde, versuchte, meinen bebenden Oberkörper ruhig zu kriegen, und spähte ängstlich zum Trailer Park zurück.

Da war Allie, in der vorletzten Wohnwagenreihe. Aber sie kam nicht auf uns zu, sie entfernte sich eher. Hatte sie uns endlich aus den Augen verloren? Ich wagte es beinahe zu hoffen.

Jarrett holte die Wasserflasche aus seiner Hosentasche und schraubte den Deckel ab, was geräuschlos abging, wahrscheinlich weil nicht der kleinste Rest Kohlensäure übrig war. Er trank weniger als die Hälfte des lächerlichen Rests Wasser, warf einen vorsichtigen Blick um seinen Baum herum und gab mir zu verstehen, dass er mir die Flasche zuwerfen wollte. Ich ruderte panisch mit den Armen, aber er nickte und warf. Ich sah es schon kommen, dass ich die Flasche verdaddelte und damit einen Riesenlärm verursachte. Doch ich fing sie, zwar alles andere als elegant, aber egal.

Nach zwei Schlücken war sie leer. Ein Tropfen auf den heißen Stein, gerade genug, um die staubtrockenen Schleimhäute zu benetzen. Ich spitzelte um den Stamm herum, sah niemanden, und stellte die Flasche vorsichtig auf den Boden.

»Zum Glück hast du den Stein geworfen«, raunte Jarrett.

»Ja«, raunte ich zurück. »Was jetzt?«

Er zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Lass uns noch einen Moment abwarten. Um sicherzugehen, dass sie uns zwischen den Wohnwagen sucht und nicht hier. Okay?«

Ich nickte und spähte wieder hinter dem Baum hervor. Keine Allie, nur Wohnwagen und ein paar vereinzelte Regentropfen, wie Fäden in der Luft. Jarrett fasste in seine Hosentasche und fischte den halben Payday heraus, gleich ohne Folie. Er riss den Rest durch, steckte sich ein Stück in den Mund und warf mir das andere zu. Ich fing es mit beiden Händen, kaute eine Weile darauf herum und würgte es dann runter. Mir war kein bisschen nach Essen zumute, aber ich brauchte jedes Joule Energie, das ich kriegen konnte.

Wir schauten wieder um unsere Stämme. Allie war nirgends zu sehen. Also nickten wir uns zu und schlichen von unseren Baumstämmen weg. Auf meinem Arm landete ein Tropfen, doch der Boden unter meinen Füßen war strohtrocken. Wahrscheinlich hatte er genauso viel Durst wie wir.

Vor uns ging es eine kleine Grasböschung nach unten, dann kam ein Stück Wiese und in einiger Entfernung eine Industriehalle. Inmitten des Trailer Parks hatte ich jede Orientierung verloren, doch jetzt kam es mir so vor, als ob wir die Siedlung auf der Columbus-Seite verlassen hatten. Was nicht unbedingt ideal war, aber hier waren wir nun mal.

Ich drehte den Kopf und mein Herz übersprang einen Schlag. Allie. Am Rand des Trailer Parks. Und sie hatte mich eindeutig gesehen.

Ich musste nichts sagen, damit Jarrett begriff. Wir stürmten die Böschung hinunter und auf die Wiese. Allie verfolgte uns und damit war alles beim Alten, außer dass wir jetzt nicht mehr auf der Röhre flohen, sondern auf dem freien Feld. Das Ganze hatte nur ein Gutes: Wenn Allie uns jagte, waren der Junge und die Menschen in den Wohnwagen fürs Erste sicher.

Die kurze Pause, die zwei Schluck Wasser und die zwei Zentimeter Erdnüsse gaben meinen Schritten vorläufig wieder mehr Pep. Solange wir über die Wiese liefen, konnten wir unseren Vorsprung halten, doch dann mussten wir eine Straße queren. Sie war frei von Wracks, aber an den Rändern lag eine Menge Schotter – spitz und fies. Ich versuchte, die Zähne zusammenzubeißen und das Tempo hochzuhalten, aber es gelang mir nicht. Obwohl ich schon eine ganze Weile ohne Schuhe lief, war ich immer noch ein Barfußweichei.

Allie holte auf, aber auf der anderen Seite der Straße ging es zum Glück wieder besser. Hier war Asphalt, der zu der Industriehalle gehörte, die ich garantiert nicht von innen sehen wollte, denn das Dach war voller Solarzellen. Wir rannten durch eine Schneise zwischen dem Gebäude und mehreren mit Metallresten gefüllten Containern, und als ich wieder einmal ängstlich den Kopf drehte und mich nach Allie umsah, trat ich in etwas. Ich schrie und wäre das ein normaler Tag im dahinplätschernden Leben eines sorglosen Mädchens gewesen – ich hätte mich an Ort und Stelle auf den Boden sinken lassen. So versuchte ich weiterzurennen, was sich allerdings als unmöglich erwies. Es tat viel zu sehr weh, auch weil das Ding, in das ich getreten war, immer noch in meiner blutenden Fußsohle steckte. Ich nahm den Fuß hoch und erkannte, dass es ein scharfkantiges Metallteil war. Abfall. Während ich versuchte, das Gleichgewicht zu halten, zog Jarrett es heraus. Er warf es weg, ich setzte den Fuß auf und stöhnte vor Schmerz.

Ich humpelte mehr, als dass ich lief. Jedes Mal, wenn ich auftrat, durchzuckte der Schmerz aufs Neue meinen Fuß und sosehr ich zu kämpfen versuchte – ich schaffte es nicht mehr zu rennen. Jarretts panischer Blick flog von mir zu Allie und weiter zur Industriehalle neben uns.

»Da rein! Schnell!« Er warf sich meinen Arm um die Schulter und half mir, auf die offen stehende Tür zuzuhumpeln. Vielleicht konnten wir sie von innen verrammeln, doch mit was zusammen würden wir uns dann einsperren? Wir konnten nur hoffen, dass alle Roboter mittlerweile ausgeflogen waren.

Ich versuchte, den Schmerz auszublenden, und taumelte auf die offene Tür zu. Allie war schon auf dem Asphalt, so nah, dass ich die blutende Wunde an ihrer Stirn erkannte. Jarrett schob und zog mich vorwärts. Es war nötig, auch wenn es verflucht wehtat. Ich stürzte in die Halle, er schmiss die Tür zu. Die kein Schlüsselloch und keinen Schlüssel hatte. Wahrscheinlich ließ sie sich nur elektronisch verriegeln und damit waren wir am Arsch.

»Hilf mir!« Jarrett zerrte an einer neben der Tür stehenden Holzpalette, auf der irgendwelche Kartons gestapelt und mit Folie verschweißt waren. Das Teil war schwer, räudig schwer, aber zu zweit bekamen wir es hinter die Tür. Gerade noch rechtzeitig, denn schon krachte sie gegen das Holz der Palette. Sie bewegte sich, aber fürs Erste nur einen Fingerbreit.

Ich fuhr herum, um sicherzugehen, dass nicht auch schon von der anderen Seite Gefahr drohte. Mit einem hastigen Blick durchmaß ich die Halle, die im Wesentlichen aus einer Art Fertigungsstraße bestand: einem breiten und langen Korridor, auf beiden Seiten von Sockeln flankiert, von denen aus Roboter ihre Gelenkarme schwenkten. Normalerweise wohl um irgendwelche Metallteile zu bearbeiten. Jetzt sah es so aus, als ob sie uns drohten. Aber die Dinger waren fest mit ihren Sockeln verbunden und damit lief ihre Drohung ins Leere.

Die Tür krachte wieder gegen die Palette. Jarrett presste sich an die Kartons und drückte von innen dagegen, während er mit den Füßen die Schuhe abstreifte und sich die Socke vom Fuß riss.

»Zieh ihn an! Und die Schuhe auch! Schnell!« Der Spalt wurde größer, obwohl Jarrett dagegen drückte. »Und dann müssen wir weiter! Allie ist zu stark!«

Mit zittrigen Fingern versuchte ich, die Sneakersocke über meinen blutenden Fuß zu kriegen. »Ich kann dir helfen!«, stieß ich hervor, ohne Jarrett anzuschauen. »Zu zweit können wir die Tür vielleicht blockieren!«

»Nein! Es ist zwecklos!« Jarretts Stimme überschlug sich. Die Tür donnerte gegen die Palette. Der Spalt war kein Spalt mehr. »Wir haben keine Chance! Auch nicht zu zweit!«

Dieser verdammte Roboteranzug. Dieses verdammte Metallteil. Diese verdammte Apokalypse. Und diese beknackte Socke! Endlich hatte ich sie über dem Knöchel. Der weiße Stoff färbte sich schon rot, aber in Verbindung mit dem Schuh war sie der beste Druckverband, den ich auf die Schnelle kriegen konnte. Hoffentlich half sie mir auch, wieder schneller zu laufen. Und hoffentlich war Jarretts Schnittwunde am Fuß schon so weit verheilt, dass er keine neuen Probleme bekam.

»Wohin?«, fragte ich, während ich in die Schuhe stieg, aber im Grunde kannte ich die Antwort schon. Am anderen Ende der Halle war eine Glaskabine. Ein Büro. Mit einem Fenster. Dazwischen waren die stationären Roboter. Sie konnten nicht zu uns, aber wir mussten an ihnen vorbei und damit waren die Drohgebärden ihrer Gelenkarme mit einem Mal alles andere als leer.

Jarrett sprang von den Kartons weg, nahm meine Hand und zog mich mit sich. Aufzutreten tat immer noch schweinemäßig weh, aber ein paar Prozentpunkte besser war es mit dezent gepolstertem Fuß. Und zumindest war meine Wunde jetzt vor weiteren Fremdkörpern geschützt. Doch vor den Gelenkarmen der Roboter schützte uns nichts und niemand.

Jarrett hatte den seitlichen Rand der Halle angesteuert, was ein guter Gedanke war, nur leider konnten sich die Roboter auf ihren Sockeln in jede Richtung drehen und die vorne an ihren Armteilen angebrachten Werkzeuge reichten beinahe bis zur Hallenwand. Theoretisch konnten wir unsere Rücken dagegen pressen und uns seitwärts vorbeizwängen, doch es gab auch Roboter, die blau glimmende Werkzeuge hielten, deren Hitze uns ziemlich sicher erwischen würde.

»Sobald sie auf mich losgehen, rennst du.«

Ehe ich auch nur den Mund zu einer Erwiderung aufmachen konnte, ließ Jarrett meine Hand los und sprintete auf die Mitte der Fertigungsstraße zu. Er war im Leichtathletikteam seiner Highschool und ich wusste, wie schnell er rennen konnte, wenn ich ihn nicht bremste, aber was er jetzt tun wollte, war Wahnsinn. Blanker Wahnsinn.

Mit angehaltenem Atem sah ich zu, wie die Roboterarme in seine Richtung rotierten. Die in der ersten Reihe hielten so etwas wie Schneidbrenner, doch ehe der für uns nähere herumfuhr, war Jarrett schon an ihm vorbei. In den beiden nächsten Gelenkarmen steckten Bohrer und einen Wimpernschlag lang glaubte ich schon, Jarrett würde mittig in sie hineinrennen, doch er schlug im letzten Moment einen Haken. Der bohrende Roboter rotierte herum, aber da war Jarrett schon wieder weg. Er täuschte an, zur Mitte durchbrechen zu wollen, und als der Sägeroboter in der nächsten Reihe seiner Bewegung folgte, machte Jarrett einen Satz zurück nach außen, tauchte unter dem von hinten kommenden Bohrer durch und rannte weiter.

Vielleicht hatte ich mich geirrt. Vielleicht war es doch nicht der blanke Wahnsinn, jedenfalls nicht für Jarrett, der die Fertigungsstraße wie einen Parcours aussehen ließ.

Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung hinter mir wahr. Allie war in die Halle eingedrungen.

Endlich löste ich mich aus meiner Starre und rannte an der Wand entlang. Ich hatte viel zu lange gewartet, die Sensoren des vordersten Roboters erkannten nicht länger Jarrett als Ziel, sondern mich. Ich schaffte es noch, mich unter dem Schneidbrenner wegzuducken, aber da war schon der nächste Arm. Er gehörte dem Roboter mit dem Bohrer – einem Bohrer, der breiter als mein Daumen und länger als mein noch immer heftig schmerzender Fuß war. Doch der Bohrer ließ mich die Schmerzen vergessen, denn er rotierte Zentimeter vor meiner bebenden Brust. Ich drückte mich an die Hallenwand und so schnell ich konnte, schob ich mich an ihm vorbei.

Der nächste Roboter war der mit der Säge. Und ich durfte nicht nur nach vorne schauen, ich musste auch auf Allie achten, die es auf mich, das nähere und ungleich langsamere Ziel, abgesehen hatte. Aber auch sie musste erst einmal an den Robotern vorbei.

Dachte ich. Doch dann sah ich, dass die Gelenkarme sich nicht nach ihr streckten. Sie ignorierten sie einfach, wahrscheinlich weil der Chip in Allies Kopf irgendein Signal aussandte, das sie als Freund, nicht als Feind markierte. Ich wollte rennen, aber das wäre mein Todesurteil gewesen, denn schon so, mit dem Rücken an der Hallenwand, verfehlte die Robotersäge nur um Haaresbreite meine Brust. Zum wahrscheinlich ersten Mal in meinem Teenagerleben war ich froh, dass ich es nur mit großzügiger Auslegung auf Körbchengröße B brachte.

Aber das rettete mich nur vor der Metallsäge, nicht vor Allie und ihrem Messer. Wer mich rettete, war Jarrett. Er rannte zurück in die Fertigungsstraße, aus der er es eigentlich schon herausgeschafft hatte, und in der Hand trug er eine Frisbeescheibe aus Metall, vermutlich irgendein rund herausgesägtes Abfallprodukt. Er warf es jedenfalls wie eine Frisbeescheibe und zu meinem Glück war auch Frisbee eine Disziplin, die er beherrschte. Mit Aufwärtsdrall flog die Metallscheibe unter dem abgespreizten Roboterarm hindurch, traf Allie an der Nasenwurzel und wahrscheinlich auch an den Augen. Ich glaubte zu hören, wie sie unter dem Klebeband aufschrie.

Hastig schob ich mich am Sägeblatt vorbei. Mit dem Roboter, der mir jetzt am nächsten war, spielte Jarrett inzwischen Katz und Maus, also stürzte ich an der Wand entlang und aus der Fertigungsstraße.

Allie bückte sich gerade nach ihrem auf dem Boden liegenden Messer. Sie langte daneben und ich erkannte, dass ihre Augen blutunterlaufen waren. Auch von der Nase tropfte Blut.

Jarrett duckte sich unter einem Schweißkolben hindurch und war dann neben mir. In seinen Augen spiegelten sich meine Empfindungen: Ungläubige Erleichterung, dass wir beide noch lebten. Entsetzen und Mitgefühl, weil wir Allies Gesicht misshandelten und verstümmelten, und sie einfach nicht aufhören konnte, uns zu jagen.

Auch jetzt nicht. Es war deutlich zu erkennen, dass sie Schwierigkeiten mit dem Sehen hatte, aber sie bewegte sich schon wieder auf uns zu. Also drehten wir ihr den Rücken zu und eilten in das kleine Büro. Die Schuhe wirkten keine Wunder, die Wunde an meinem Fuß schmerzte bei jedem Schritt, aber ich biss die Zähne zusammen und lief.

Das Fenster in dem kleinen Büro begann etwa auf Hüfthöhe und für einen Moment glaubte ich schon, dass Jarrett es eintreten wollte, aber dann erkannte er wohl, dass es einen Griff hatte, und öffnete es auf gewöhnliche Weise. Wir stiegen ins Freie und rannten weiter.

Es regnete, nein, es goss wie aus Kübeln. Zum ersten Mal, seit ich in Amerika war. Zum ersten Mal seit der Nacht, in der Jarrett das Bild seiner Pflegemutter ruiniert hatte. Und jetzt, da das ausgedörrte Land endlich den heiß ersehnten Regen bekam, waren wir zurück in der Stadt, aus der Jarrett geflohen war. Ich suchte seinen Blick. Der Tag war noch nicht alt und doch hatte Jarrett mir schon wieder das Leben gerettet. Und ich ihm wahrscheinlich auch, mit dem Ziegelstein, der im letzten Moment Allies Stirn getroffen hatte. Lange würde unser Tanz auf der Rasierklinge nicht mehr gut gehen. Lange konnte er nicht mehr gut gehen, dafür hatten wir das Schicksal schon entschieden zu oft herausfordern müssen. Aber wahrscheinlich würden wir es wieder tun müssen, denn uns blieb nichts anderes übrig, als weiter vor Allie wegzurennen.

Sie war ebenfalls aus dem Fenster geklettert und obwohl ihre Sehkraft womöglich beeinträchtigt war – das Exoskelett war es nicht. Der Chip ließ sie hinter uns herjagen und es gab keinen Zweifel, dass unser Vorsprung nicht lange halten würde.

Wir hasteten jetzt über einen Grünstreifen auf eine Reihe von rotbraunen Klinkerbauten zu. Meadows Outlet Mall stand auf einem hohen Schild – eine Art Outletcenter, dessen beste Zeiten allerdings wohl schon ein Weilchen zurücklagen. Die Blumenrabatten waren vertrocknet und die zwischen den Häusern gespannten Girlanden konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass jeder zweite Laden leer stand.

Hinter den niedrigen Klinkerbauten des Outletcenters schraubte sich ein Farmscraper in den wolkenverhangenen Himmel: ein Turm aus abgerundeten gläsernen Modulen, die wie flache Steine aufeinandergestapelt waren, dem Anschein nach schief und komplett unsymmetrisch. Es waren bestimmt fünfundzwanzig aufeinandergebaute Stockwerke, einige von ihnen mit Plattformen und Balkonen, auf denen sogar Bäume wuchsen. Drinnen, in den gläsernen Gewächshäusern, wurde wohl Gemüse für die Stadtbewohner angebaut. Doch während die Gurken und Tomaten in den letzten Tagen wahrscheinlich deutlich gewachsen waren, war die Zahl der Abnehmer im selben Zeitraum vermutlich drastisch geschrumpft.

Ich nahm meinen Blick von dem Farmscraper und heftete ihn auf das Outletcenter, dessen Ladenzeilen eine neue, bitter notwendige Chance boten, Allie ein für alle Mal abzuschütteln.

Wir rannten, so schnell es mein Fuß zuließ, bogen um ein Haus und schlugen gerade eine neue Richtung ein, als wir erkannten, dass wir auf einen Outletshop von Hyland Home Care zuhielten. Ein Teil des Schaufensters war zerbrochen und vor der offenen Tür lagen zwei menschliche Körper. Im Inneren des Ladens meinte ich, eine Bewegung wahrzunehmen.

Wir mussten schnellstens irgendwohin, denn auch Allie würde jeden Moment auftauchen. Doch wir brauchten ein Ziel, ein Versteck, das uns nicht noch näher an die Basis der Hyland-Würger führte. Mein Kopf zuckte fragend in Richtung des Shops, neben dem wir jäh angehalten hatten. Es war ein Outlet einer mir unbekannten Modemarke namens Llejk-Line. Die gläserne Tür stand offen und im Inneren des Ladens ein hüfthohes Jeansregal: eine Chance, Allie endlich aus den Augen zu verschwinden. Wenn wir schnell genug waren.

Jarrett nickte. Wir preschten über die Fußmatten am Eingang des Ladens und auf die andere Seite des Regals, auf dem oberkörperlose Schaufensterpuppen zeigten, wie gut ihnen die unterhalb bereitliegenden Jeans passten. Von draußen waren wir nicht zu sehen, da das Regal eine Rückwand besaß. Aber den Laden selbst durften wir natürlich nicht außer Acht lassen, denn ich wagte nicht zu hoffen, dass die Kunden bei Llejk-Line nur von Menschen bedient worden waren. Und außerdem hatte die Tür offen gestanden. Hier drin konnte alles Mögliche sein.

War es aber nicht, wie es schien. Von da, wo wir kauerten, konnte ich nichts und niemanden erkennen. Ich hörte auch nichts außer dem gedämpften Prasseln des Regens und dem lauten Wummern meines Herzens. Ba-bomm. Ba-bomm. Ba-bomm. Oder war da noch etwas? Leise Schritte? Draußen? Oder vielleicht auch schon drinnen im Laden? Ich war mir nicht sicher, aber Jarretts Augen weiteten sich und dann winkte er mich auch schon weiter. Geduckt schlichen wir weg vom Jeansregal, hinter dem Allie sicher als Erstes nachschauen würde, und auf mehrere Kleiderständer mit Männerhemden zu. Casual, nicht Business.

Wir schafften es zwischen die Ständer, ohne groß Lärm zu machen, und waren jetzt auf einer Seite von karierten Hemden und auf der anderen von karierten Overshirts flankiert. Jarrett presste sich auf den Boden und spähte unter den Ständern durch: derselbe Trick wie in der Wohnwagensiedlung. Und schon dort hatte er nichts gebracht. Aber hier musste er eigentlich mehr Wirkung zeigen, denn es gab nur wenige Regale und viele Kleiderständer und unter allen konnte man durchschauen.

Ich lag neben Jarrett, spähte in Richtung Eingang und sah auf einmal Füße. Ihre Füße, gleich neben dem Jeansregal. Sie hatte also noch gesehen, dass wir in den Laden geflohen waren. Aber konnte sie uns auch jetzt sehen? Schwer zu sagen. Ihr Blickwinkel war ein ganz anderer als unserer und wir lagen nicht sichtbar unter den Hemden, sondern versetzt hinter ihnen. Sie waren alle gerade geschnitten, was, wie ich fand, Vorschrift für karierte Hemden sein sollte. Ein oder zwei Sekunden lang fragte ich mich, wie Jarrett wohl in einem aussehen würde, aber irgendwie konnte ich ihn mir gar nicht anders als in einem fliegenpapiergelben T-Shirt vorstellen.

War es normal, dass mir in einem derart bedrohlichen Moment derart triviale Gedanken durch den Kopf spukten? Vielleicht war es das, wenn die bedrohlichen Momente überhandnahmen. Vielleicht brauchte das menschliche Hirn dann zwischendurch einfach mal Entspannung.

Und Allie? War sie in der Lage, zumindest vorübergehend Ruhe und so etwas wie inneren Frieden zu finden? Oder war das unmöglich, wenn man zur Marionette geworden war und in einem fort Dinge tun musste, die man ums Verrecken nicht tun wollte?

Ihre Füße kamen näher, aber nicht direkt auf uns zu. Ein bloßer Trick, weil sie uns längst entdeckt hatte? Oder hatte sie uns lediglich in den Laden huschen sehen und suchte uns jetzt? Jedenfalls konnten wir nicht bleiben, wo wir waren. Denn wenn Allie ihren Kurs beibehielt, würde sie uns so oder so bemerken.

Es gab noch mehr Kleiderständer, noch mehr Deckung und wir huschten auf die nächste zu. Da, wo wir gelegen hatten, blieb ein nasser Fleck am Boden zurück. Scheiße, hinterließen auch meine Sneakers Spuren? Nein, es sah nicht so aus, vielleicht hatten die Fußmatten am Eingang uns in dieser Hinsicht gerettet. Gott, an was man alles denken musste in einer Apokalypse, die offenbar nicht enden wollte, ehe es mit Jarrett und mir zu Ende war.

Meine Nase nahm einen Geruch wahr. Süßlich, ein bisschen metallisch, widerlich und irgendwie unheilschwanger. Ich wollte nicht mehr schleichen und doch tat ich es. Ich hatte keine Ahnung, wo Allie war. Alles, was ich sah, waren Klamotten. Doch jetzt nahm ich sie nicht mehr wahr, mein Blick ging durch sie hindurch, denn die Angst hatte mich aufs Neue gepackt. Ich wollte, dass es vorbei war, aber auf die gute Art, nicht auf die, die dem Virus vorschwebte.

Vor uns war jetzt etwas anderes als Kleidung und Kleiderständer: eine Öffnung in der Ladenwand. Es ging ums Eck, wie es schien, zu Umkleiden, und Jarrett schlich auf sie zu. Vielleicht sah er sie als Chance, um ums von Allie abzunabeln. Doch genauso gut konnten die Kabinen auch eine Sackgasse bedeuten. Und zwar die letzte. Was Jarrett wahrscheinlich bewusst war, aber offenbar war er bereit, alles auf eine Karte zu setzen: Freiheit oder Entdeckung. Leben oder Tod.

Der süßlich-metallische Gestank wurde schlimmer und auf einmal wusste ich, was da so roch. Wir hatten den Tod gefunden. Noch war es nicht unser eigener, noch war es eine Fremde, die hier gestorben war. Wie es schien, in der hintersten der drei Kabinen. Aus dem Vorhang, der nicht bis zum Boden reichte, ragten ihre regungslos ausgestreckten Beine und Füße. Sie trug nur dünne weiße Socken, denn die Schuhe hatte sie vor ihrem Tod vermutlich ausgezogen, um in eine Jeans zu schlüpfen und zu schauen, ob sie ihr genauso gut passte wie den Schaufensterpuppen auf dem Regal.

Es war eine schwarze Jeans, genau wie meine. Und auch ihre Beine sahen wie meine aus: schlank, beinahe dürr. Die Beine eines Mädchens und es hätte mich kein bisschen gewundert, wenn sie sechzehn gewesen war und ihre Nächte im Metaverse verbracht hatte. Aber damit mussten die verdammten Parallelen auch aufhören, denn ich hatte nicht die geringste Lust, wie sie zu enden. Ich war noch nicht fertig, nicht mit meinem Leben und nicht mit Jarrett.

Stumme Tränen kullerten über meine Wangen, als ich ihm in die mittlere Kabine folgte. Sie war nur von dem schmalen Gang aus einzusehen, nicht vom Laden, und deshalb wagte Jarrett es wohl, den Vorhang vorzuziehen. Nicht ganz, aber genug, dass er uns von außen verbarg. Einen Moment lang sah Jarrett mich an und drückte meine zitternde Hand. Dann ließ er los und blickte gebannt zum Vorhang. Sein ganzer Körper war gespannt. Die hervortretenden Sehnen an seinen Armen sahen wie eine Kriegsbemalung aus.

Ja, er hoffte sicher darauf, dass Allie nicht in den Gang kommen würde. Aber wenn sie es doch tat, dann war er bereit, so viel wusste ich jetzt. Ich fragte mich, woher er die innere Stärke dazu nahm. Trug er sie in sich, weil er schon immer, schon als kleines Kind, hatte stark sein müssen? Oder wollte er einfach nur bis zum Schluss kämpfen? Für sich, seine Pflegeeltern, seine Mutter – und mich?

Da tauchte ein Schuh vor dem Vorhang auf. Zwei Schuhe. Zwei Füße, die liefen und sich jetzt in unsere Richtung drehten. Jarrett sprang. Durch den Vorhang, mitten auf Allie. Ich stürzte ihm nach, sah, wie er sie umriss und das Messer aus ihrer Hand fiel. Jarrett holte mit der Faust aus, doch dann zog er sie zurück, Zentimeter vor Allies Gesicht, dem mit Klebeband umwickelten Mund, der aufgeschlitzten Nase, der blutverschmierten Stirn und den blutunterlaufenen Augen.

Ruckartig erhob er sich, sprang über die Arme, die ihn greifen mussten, wich den Beinen aus, die nach ihm treten mussten, und kickte das Messer weg. Und dann rannten wir aus der Umkleide, durch den Laden und auf den Ausgang an der Hinterseite zu. Wir mussten an der Kasse vorbei und hinter der Theke kam ein Android hervor. Der Krach hatte ihn wohl aus dem Standbymodus gerissen, in den er sich irgendwann versetzt haben musste, nachdem er das Mädchen in der Umkleide getötet hatte. Ich wusste nicht, wie – ob er sie mit einem Schal erwürgt oder mit einer Kleiderschere erstochen hatte. Aber sie war tot und dafür hasste ich den verdammten Androiden.

Er war nicht mit Kunststoff verkleidet, und da, wo sich bei Menschen die Augen befanden, waren auch keine rot glühenden Leuchtdioden, sondern Sensoren, die wie Augen aussahen. Und er lief auch wie ein Mensch, trug Schuhe, Jeans, Hemd und ein Gesicht, das dem eines Menschen nachempfunden war, mit Haaren, die vielleicht sogar einmal einem Menschen gehört hatten. Aber er war kein Mensch, er war nur ein Luxusandroid, und wenn ich einen Baseballschläger oder eine Holzlatte in den Händen gehalten hätte, ich hätte ihm seinen verdrahteten Schädel vom Rumpf geschlagen. Oder es zumindest versucht.

So konnte ich nicht viel tun, außer einen Kleiderständer auf ihn zu kippen, was ihn aufhielt, aber nicht umwarf.

Mein Fuß tat fürchterlich weh, aber der Schmerz in meiner Brust war schlimmer. Ich hatte nur die Beine des toten Mädchens gesehen, aber irgendwas hatten sie mit mir gemacht, genau wie Allies verstümmeltes Gesicht und ihre verletzten, verzweifelten und flehenden Augen. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sie inzwischen aufgestanden und wieder hinter uns her war, genau wie der Mörder dieses Mädchens, das einfach nur nach einer Jeans gesucht hatte, in der sie sich hübsch fand. Es war so banal und doch so nachvollziehbar und auch deshalb sah ich mich selbst in diesem Mädchen, das seit Tagen in einer Umkleide lag und so fürchterlich stank.

Randvoll mit Schmerz, Zorn und Adrenalin rannte ich neben Jarrett ins Freie. Die Fußgängerzone runter war ein Hyland-Roboter. Noch hatte er uns nicht bemerkt und das musste auch so bleiben, damit wir nicht schlagartig die ganze Horde an der Backe hatten. Also flohen wir in den nächsten Laden. Ein Restaurant, neben dessen offener Tür ein Aufsteller stand, der darauf hinwies, dass man hier noch persönlich bedient wurde.

Drinnen gab es mehrere Reihen hoher, rot gepolsterter Bänke, was das Restaurant wie einen Diner aussehen ließ. Auf den Tischen standen Ständer mit Papierservietten, Ketchup und Senf in Plastikflaschen. Es stank nach Tod. Am Boden zwischen der ersten und der zweiten Reihe lag die persönliche Bedienung, eine Frau mittleren Alters, die über Rock und Bluse eine nicht mehr weiße Schürze trug. Drei Sitzecken entfernt war ein grauhaariger Mann auf eine Polsterbank gekippt, in seiner Brust steckte ein Messergriff.

Mir wurde schlecht, aber der Tod dieser beiden Menschen machte mich nicht so betroffen wie der des Mädchens in der Umkleide. Vielleicht weil sie nicht wie ich aussahen, zu alt waren und als persönliche Projektionsfläche nicht taugten. Oder aber weil ich schon abstumpfte.

Wir duckten uns hinter leere Polsterbänke und spähten nach draußen. Waren wir im Restaurant verschwunden, ehe Allie das Bekleidungsgeschäft verlassen hatte? Waren wir nicht, sie rannte genau auf uns zu. Der Luxusandroide war unmittelbar hinter ihr.

»Durch die Küche!« Jarrett hielt auf die Tür im hinteren Bereich des Restaurants zu. Das mit persönlicher Bedienung, aber nicht mit einem menschlichen Küchenchef geworben hatte. Und durch die Schwingtür polterten wir exakt auf Bones’ Zwillingsbrüder zu. Entweder hatten sie sich neu bewaffnet, nachdem sie die Bedienung und den einzigen Gast massakriert hatten, oder sie waren es noch immer, jedenfalls hielt jeder von ihnen ein Messer in der Kunststoffpranke. Ihre Sensoren konnten nicht die besten sein, denn sie wurden erst jetzt wach und noch während ihre Augen aufleuchteten, trat Jarrett dem näheren von ihnen unten gegen den Rumpf.

Der Android trudelte rückwärts und stieß gegen eine Arbeitsplatte. Der andere rollte von der Seite auf mich zu. Ich war neben einem Herd, langte nach einem Topf und schmiss ihn, doch obwohl ich traf, hielt das den Androiden nicht auf. Wir sprangen auf den Herd, Jarrett mit den Knien voraus, ich mit dem Hintern. Ehe der Android nach mir stechen konnte, zog ich die Beine hoch und sprang auf der anderen Seite wieder auf den Boden, genau wie Jarrett. Ich bekam eine Pfanne zu greifen und benutzte sie als Schild, denn der erste Androide war wieder im Angriffsmodus und stach nach mir.

Der Stahl seines Messers kratzte über den Boden der Pfanne, dann trat Jarrett ihm mit voller Wucht von hinten gegen den Torso. Der Android rumpelte in seinen Kumpel und wir rannten auf die Hintertür zu. Wir stürmten in eine Art Hinterhof und geistesgegenwärtig zog Jarrett eine Containertonne vor den Ausgang, um unsere Verfolger ein wenig aufzuhalten.

Wir rannten in die schmale Gasse auf der anderen Seite des Hofes, zwischen zwei Gebäuden hindurch, die das diesseitige Ende der Mall bildeten. Vor uns lag ein verwaister Parkplatz. Aus der Ferne waren leise Schüsse zu hören. Es klang nach Maschinengewehrsalven.

»Sind das Soldaten?«

»Wahrscheinlich«, keuchte Jarrett.

Als wir von der Sunoco-Tankstelle zur Shetler-Farm gelaufen waren, hatte er mir erzählt, dass es nördlich von Columbus einen Militärstützpunkt gab. Aber wir waren am südlichen Ende der Stadt und es sah nicht danach aus, als wären die Soldaten in den vergangenen Tagen schon bis hierhin vorgestoßen.

Es ging jetzt einige Stufen nach oben. Die Schnittverletzung an meinem Fuß brannte und ich spürte sie bei jedem Schritt. Jarrett war barfuß und machte nicht den Eindruck, dass ihn etwas behinderte, sei es seine eigene Fußverletzung oder sein Kopf. Aber war das wirklich so oder konnte er es nur überspielen?

Im Grunde hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie es ihm ging. Mittlerweile musste es fast schon Mittag sein, aber wir hatten seit dem Morgengrauen so gut wie kein Wort miteinander gesprochen. Entweder hatten wir uns versteckt und ich hatte keinen Muckser machen dürfen oder wir waren gerannt und ich hatte keine Luft zum Reden gehabt, so wie jetzt.

Aber ich wollte etwas sagen, unbedingt, also ließ ich meine Augen sprechen. Jarrett bemerkte es, sah zu mir rüber und nahm meine Hand. Wir waren ein wenig langsamer, wenn wir auf diese Weise rannten, aber es war mir egal und ihm offenbar auch. Bis er über die Schulter blickte und losließ.

»Die Androiden sind weg! Aber Allie …«

Ließ sich natürlich nicht abschütteln. Um das zu wissen, brauchte ich mich nicht umzudrehen. Und ich brauchte auch nicht zu wissen, wie dicht genau sie hinter uns lag, denn was änderte das noch? Ich wollte überleben, unbedingt und vor allem mit Jarrett. Aber Wille allein genügte nicht. Ich hatte kaum noch Luft, kaum noch Kraft, Allie hingegen ging beides nicht aus. Gut, irgendwann würde kein Strom mehr durch die Elektroden ihres Exoskeletts fließen, aber für mich würde dieser Moment zu spät kommen, denn ich war jetzt am Ende und nicht erst irgendwann.

Jarrett merkte es. »Wir müssen irgendwohin, wo sie uns nichts tun kann!«

Ja, klar. Nur wo sollte das sein? Hier war nirgendwo eine Leiter, auf die wir steigen und die wir dann wegtreten konnten. Nirgendwo ein Bunker, in dem wir uns einschließen konnten. Keine Soldaten, die uns beschützten, oder eine von Wasser umtoste Insel, auf die Allie uns nicht folgen konnte. Hier war nur Stadt. Straßen. Dünne Bäumchen. Wohnblocks. Der Farmscraper. Der Farmscraper … Ich war schon in einem gewesen. Und auch wenn er nicht wie dieser aus gläsernen Steinen gestapelte Turm ausgesehen hatte – das Prinzip musste dasselbe sein.

Es war ein Schulausflug gewesen, Ende der siebten Klasse. Meine Mitschüler hatten so gut wie kein Wort mit mir gesprochen, und verunsichert und allein war ich ihnen hinterhergedackelt, durch die endlosen vertikalen Gewächshäuser und über gefühlt alle freiliegenden Plattformen.

Der Farmscraper vor uns war noch größer. Er sah regelrecht labyrinthisch aus und wenn niemand seine Stromversorgung unterbunden hatte, besaß er sicher auch einen funktionierenden Aufzug. Den wir benutzen konnten, um Allie abzuhängen. Und außer dem Aufzug gab es dort auch Balkone und Plattformen, die mit Bäumen bepflanzt waren, die nicht dünn, sondern stattlich waren. So stattlich, dass man auf sie hinaufklettern konnte. Und war Klettern nicht so ziemlich das Einzige, worin wir besser waren als Androiden, Roboter und Menschen in Exoskeletten?

Klettern war nicht das, wofür die meisten Maschinen gemacht waren. Und deshalb war dieser gläserne Turm womöglich unsere beste Chance zu überleben, bis das Militär endlich in die südlichen Viertel von Columbus vordrang.