Hannah
Ich pfiff auf dem letzten Loch, versuchte durchzuhalten und mich abzulenken von meinem pochenden Fuß, meinen platzenden Lungen und der ewigen Bedrohung hinter uns. Ich rannte mit in den Nacken gelegtem Kopf, schaute hinauf zum Turm. Es waren so viele Stockwerke. So viele gläserne und wie Steine aufeinandergestapelte Etagen.
Auf der obersten war ein Kran und ungefähr jede dritte hatte eine Außenplattform, auf der sich Windräder drehten, Bäume wuchsen und Wasser gesammelt wurde.
Ganz unten bestand die Fassade aus dreieckigen, grün schimmernden Paneelen, in denen Algen in flachen Wassertanks schwammen und Sauerstoff und Strom erzeugten. Jarrett und ich rannten an ihnen vorbei in den Turm. Im Erdgeschoss des Farmscrapers waren ein großes Aufbereitungsbecken, eine Wand, die aus nicht ganz so viel Glas bestand wie der Rest des Turms und davor Treppen und ein Aufzug. Nein, zwei Aufzüge nebeneinander. Die Türen waren aus Glas, Panzerglas vermutlich. Die Tasten leuchteten, die Aufzüge hatten Strom. Wenn die Anzeige stimmte, war einer im 15. Stock, der andere im ersten, nur eine Etage über uns.
Jarrett hämmerte auf die Taste. Auf der Anzeige erschien ein Pfeil, der nach unten zeigte. Der Aufzug fuhr. Zu uns ins Erdgeschoss, wo Allie bereits auf uns zurannte.
Pling. Der Aufzug ist da. Endlich. Die Tür geht auf, wir stürzen hinein und Jarrett prügelt auf die oberste Taste. 31 steht auf ihr, womit klar ist, dass der Farmscraper 31 Etagen hat. Aber es passiert nichts, obwohl Jarrett die Taste regelrecht misshandelt. Währenddessen sprintet Allie auf uns zu. Sie hat keine Waffe mehr in der Hand, aber sie braucht auch keine.
Mir fällt auf einmal der Kran ein, oben auf dem Dach, in der 31. Etage. Aus Sicherheitsgründen braucht man wahrscheinlich eine Keycard, um dorthin fahren zu können, denn neben den Tasten ist auch ein Sensorfeld. Die 31 ist nicht die Lösung. Also drücke ich auf die 30. Die Taste leuchtet, die Glastür fängt an, sich zu schließen. Allie macht einen Satz vorwärts. Der Chip in ihrem Kopf ist wild entschlossen, noch eine Hand vor die Tür zu kriegen und den Schließvorgang zu unterbrechen. Mir stockt das Blut in den Adern. Jarrett strafft seinen ganzen Körper. Alles läuft in Zeitlupe, vor allem die Tür. Aber dann ist sie zu und Allies Elektrodenhandschuh nicht in der Tür, sondern davor. Auf der anderen Seite. Sie muss die Faust ballen und aufs Panzerglas schlagen. Aber ich schaue nicht auf ihre Hand, sondern auf das, was Jarrett und ich mit ihrem Gesicht gemacht haben. All die Verletzungen und Wunden sind unser Werk.
Der Aufzug fährt nach oben. Wird Allie den anderen nehmen? Ich schätze schon, auch wenn sie dafür warten muss, bis er vom fünfzehnten Stock nach unten ins Erdgeschoss gefahren ist. Aber selbst sie, die in einem Roboteranzug steckt, ist dann immer noch schneller, als wenn sie die Treppen nimmt.
Die Aufzugkabine ist an zwei Seiten aus Glas und durch die gläsernen Wände sehe ich Regale voller Gemüse. Durch die gläsernen Außenfassaden des Farmscrapers sehe ich grüne Plattformen und die darunterliegende graue Stadt. Allie hat durch die gläserne Tür gesehen, dass wir ins 30. Stockwerk fahren. Was nicht gut ist, aber vielleicht können wir sie austricksen und auch noch auf Taste 22 oder so drücken und dort schon aussteigen.
Ich weihe Jarrett in meine Überlegungen ein und er nickt und drückt auf Taste 22. Das Täuschungsmanöver wird nur klappen, wenn Allie dann nicht mehr unten im Erdgeschoss unsere Anzeige verfolgt. Aber einen Versuch ist es wert, meint er und ich meine dasselbe.
Ich bemerke die Kamera über unseren Köpfen, zeige sie Jarrett und frage ihn, ob er glaubt, dass es hier Sicherheitsandroiden gibt.
Er sagt: Ja, schon möglich. Aber dass sie hoffentlich nicht mehr vor den Überwachungsbildschirmen sitzen. Und dass sie sich hoffentlich nicht ausgerechnet in dem Stockwerk aufhalten, in dem wir gleich aussteigen werden.
Und dann hält unsere Glaskabine an. Auf der Anzeige über der Tür steht 22. Laut der Zeitanzeige neben den Tasten ist es 13.37 Uhr. Es macht pling und die Tür öffnet sich. Wir steigen aus und während sich die Tür wieder schließt, blicken wir aufgeregt auf die Anzeige von Allies Aufzug. Sie ist im sechsten Stock. Jetzt im siebten. Jetzt im achten … Und damit ist klar, dass sie nicht mehr vor der Anzeige im Erdgeschoss steht und nicht weiß, dass wir schon im 22. und nicht erst im 30. Stockwerk ausgestiegen sind. Wohin unser Aufzug jetzt wieder unterwegs ist – allerdings ohne uns. Das sieht gut aus, endlich mal. Jarrett und ich nicken uns zu, dann sehen wir uns hastig um.
Hier, im Inneren einer der gläsernen Etagen, merkt man nicht, dass von außen alle Stockwerke wie durchsichtige, aufeinandergestapelte Steine aussehen. Hier sieht man nur Regale, die dreimal so hoch sind wie wir und in denen alles Mögliche an Gemüse wächst. Aber ich bin heilfroh, dass ich nur Gemüse sehe und keine Androiden. Und deshalb keimt in mir, der nicht gläsernen und völlig vertrockneten Hannah Pöltl, ein zartes Pflänzchen der Hoffnung.
Allies Aufzug ist inzwischen im 16. Stock und Jarrett erinnert sich daran, dass die Kabine eine Glastüre hat, weshalb Allie uns sehen wird, wenn wir hier weiter Wurzeln schlagen. Also eilen wir auf die Regale zu und positionieren uns so, dass wir vom Aufzugschacht aus nicht zu sehen sind. Irgendwann halten wir es nicht mehr aus, spitzeln zwischen den Salatblättern durch und erkennen, dass der Aufzug gerade im 26. Stock ist und weiter nach oben fährt. Das Pflänzchen in mir sprießt und Jarrett und ich strahlen uns an.
Aber auch wir sollten wohl weiter, und zwar zur nächsten frei liegenden Plattform, auf der Bäume wachsen. Im 22. Stock gibt es keine, aber wir können durch die Glasfassade sehen, dass sich gleich unter uns eine befindet. Wir rennen die ersten Stufen hinunter, bis ich Jarretts Arm berühre und den Zeigefinger an den Mund lege, denn mir fällt ein, dass Allie auch schon im Treppenhaus sein kann, acht Etagen über uns. Also schleichen wir nach unten und spähen nach oben, aber von Allie ist nichts zu sehen, was hoffentlich heißt, dass sie uns hinter Regalen im 30. Stock sucht und nicht im Treppenhaus – wo es weitere Kameras gibt, weshalb mein leerer Magen sich etwas zusammenzieht und das Pflänzchen in mir sich weigert zu wachsen.
Wir schaffen es ziemlich lautlos in die 21. Gewächshausetage, in der ich keine Kameras entdecke. Was nicht heißen muss, dass es keine gibt, aber … Vielleicht gibt es keine.
Vorsichtig gehen wir durch die Regalreihen. Es scheint niemand da zu sein. Niemand außer uns und Tausenden von Tomaten. Unbehelligt erreichen wir den Ausgang zur Plattform. Es hat aufgehört zu regnen, doch die Windräder drehen sich und der Wind zupft auch spürbar an mir, schließlich sind wir draußen und verdammt weit oben. Doch das Wetter ist nicht wichtig, es geht darum, dass wir auf einen dieser Bäume klettern und dort oben bleiben, bis alles vorbei ist.
Wir suchen uns einen Baum, der nicht ganz am Rand der Plattform wächst, damit ich im Falle des Fallens nur auf die Plattform falle und nicht 21 Stockwerke in die Tiefe. Wie schon bei der Hyperloopröhre macht Jarrett eine Räuberleiter. Ich steige auf seine ineinandergefalteten Handflächen und ziehe mich auf den untersten Ast. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was das für ein Baum ist, aber er hat keine stupsigen Nadeln, sondern Blätter und hält sogar den Wind ab. Das Pflänzchen der Hoffnung, das ich in mir trage, legt einen kräftigen Wachstumsschub hin.
Auch Jarrett ist jetzt auf dem Baum und wir steigen höher und noch ein bisschen höher. Die Äste sind stark, aber wir können nicht nebeneinandersitzen, eigentlich können wir überhaupt nicht sitzen, wir stehen eher im Baum und lehnen uns an, aber das ist okay, solange wir es unbemerkt und unbehelligt tun können.
»Siehst du drinnen jemand?«, sagt Jarrett leise.
Ich schüttle den Kopf. »Siehst du hier draußen Kameras?«
»Nein. Was denkst du, wo Allie ist?«
»Ich weiß es nicht«, sage ich.
Was ich währenddessen denke, ist: Der Turm hat 31 Stockwerke, theoretisch kann sie überall sein. Aber ob sie auch überall nach uns sucht? Systematisch? Etage für Etage? Plattform für Plattform? Wenn ja, kommt sie früher oder später zu uns und versucht, auf den Baum zu klettern, und dann müssen wir sie treten und treten und treten. Bis wir nicht mehr können, bis sie nicht mehr aufsteht oder bis die Soldaten kommen und sie vor unseren Augen erschießen.
Aber so muss es nicht laufen, denn der Turm hat 31 Stockwerke. Nicht nur Allie kann theoretisch überall sein, sondern auch Jarrett und ich. Um uns zu entdecken, muss Allie auf die Plattform kommen oder sich in einem Stockwerk über uns die Nase an der Scheibe platt drücken. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie eines von beidem tut. Aber zwangsläufig oder unausweichlich ist es auch nicht und deshalb sage ich zu Jarrett: »Was auch immer Allie tut … Hier, auf diesem Baum, haben wir zumindest eine Chance.«
Er nickt und sagt: »Wie lange ist es her, dass du zum letzten Mal auf einen Baum gestiegen bist?«
Ich überlege und sage: »Vielleicht fünf oder sechs Jahre.«
Ich will schon sagen: Und bei dir?, aber dann fällt mir etwas ein, was Jarrett zu Beginn unseres apokalyptischen Trips erzählt hat. Also frage ich ihn nicht, wann er das letzte Mal auf einen Baum gestiegen ist, sondern ob das erste Mal mit seinem ersten Besuch im Wald zusammengefallen ist. Als er zehn gewesen ist und Desmond und Jazmine ihn mitgenommen haben.
Er lächelt leise. »Das hast du dir gemerkt?«
Ich nicke und sein Lächeln wächst, sein Blick bekommt diesen verschwommenen Ausdruck. Er beugt sich vor, hält sich mit einer Hand am Ast fest und küsst mich. Ich küsse ihn zurück und vergrabe meine Finger in seinen Haaren, spüre das Kribbeln, das meinen ganzen Körper erfasst. Im Eifer des Gefechts rutscht sein nackter Fuß vom nassen Ast, Jarrett landet auf mir und wir lachen ein bisschen, weil wir uns scheinbar nur an den unmöglichsten Orten küssen können, auf Hyperloopröhren und auf Bäumen. Und dann sortieren wir uns neu und versuchen es noch mal, in einer anderen Position, und zuerst lassen wir es ruhig angehen, aber es bleibt nicht ruhig und diesmal bin ich es, die rutscht und auf ihn fällt. Diesmal lachen wir nicht, wir machen einfach weiter, denn alles, was zählt, sind unsere tanzenden Zungen und wandernden Hände. Sie kommen nicht überallhin, wo sie gern hinmöchten, weil Äste, Rinde und Kleidung im Weg sind, doch es gibt auch erreichbare Stellen und sie fühlen sich gut und aufregend an. So aufregend, dass ich zwar merke, dass da ein Geräusch über uns ist, aber ich will mich nicht darum kümmern, ich will weitermachen, weiter und weiter.
Und das tue ich, bis sich irgendwo in meinem bis in die Zehenspitzen kribbelnden Körper die Vernunft regt. Und in Jarrett anscheinend auch, denn wir lassen gleichzeitig voneinander ab und schauen in Richtung des viel zu lauten Geräuschs über uns. Ich begreife nicht, was ich da sehe, aber was auch immer es ist – es kommt wie an der Schnur gezogen auf uns zu. Und das schnell.
Jarrett windet sich unter mir heraus und springt auf die Plattform. Ich sehe, wie er sich den Kopf hält, frage, ob alles in Ordnung ist, und klettere währenddessen auf einen niedrigeren Ast. Ich bekomme keine Antwort, aber Jarrett streckt die Hand zu mir hoch und ich nehme sie, springe zu ihm runter und schaue panisch nach oben, zu dem immer lauter werdenden Geräusch und dem immer größer werdenden Körper.
Es ist ein Roboter, der in einer Art Gurt steckt und sich an einem Stahlseil hängend abseilt. Ich weiß nicht, ob er eigentlich damit beauftragt ist, Fenster zu putzen oder Bäume zu schneiden, aber jetzt will er wohl weder das eine noch das andere tun, denn seine Augensensoren leuchten apokalyptisch rot. Er drückt an einer Art Steuerkonsole herum, die an seinem Gurt befestigt ist, und da bewegt sich das Seil zur Seite. Es sieht aus, als ob es an dem Kran hängt, der sich zehn Stockwerke über uns befindet und dessen Arm ebenfalls zur Seite schwenkt.
Das Ding manövriert sich an der Baumkrone vorbei. Es hat beinahe den Boden erreicht und Jarrett ist anzumerken, dass er überlegt, ob er es angreifen soll. Aber das Ding sieht stabil aus, weshalb es wohl wenig bringt, es mit Tritten und Schlägen zu bearbeiten. Jarrett kommt zum selben Schluss, wir tauschen einen schnellen Blick und rennen zurück ins Innere des Turms. Ich könnte heulen, weil uns einfach keine Ruhe vergönnt ist und keine Zeit für uns allein. Immerzu müssen wir Angst haben, immerzu müssen wir rennen oder uns verstecken.
Wir kauern uns hinter eines der Regale, spähen zwischen den Tomaten nach draußen zum Roboter, der noch in seinem Gurt steckt. Er hat Beine, er kann theoretisch reinkommen, aber wird er es tun?
Ich frage Jarrett, doch er weiß es genauso wenig wie ich. Wir starren auf die Anzeige bei den Aufzügen. Der Aufzug, den Allie benutzt hat, ist immer noch im 30. Stockwerk. Der, den wir benutzt haben und der dann ohne uns weiter nach oben gefahren ist, ist nicht mehr im 30. Stock. Er fährt nach unten, gerade ist er in der 27. Etage, jetzt in der 26. und jetzt nimmt Jarrett meine Hand und wir stürzen an den Regalen, an der gläsernen Aufzugtüre und an der Anzeige vorbei, auf der jetzt 23 steht. Wir flüchten in einen toten Winkel vor dem Treppenhaus und harren dort einen Moment lang aus, doch es macht nicht pling. Der Aufzug ist ans uns vorbeigefahren.
Leise gehen wir die Treppen nach unten. Mein Herzschlag dröhnt mir in den Ohren. Mit einem Mal gibt es so viele Unwägbarkeiten. Wir wissen nicht, was der Roboter auf der Plattform tut. Ob er in seinem Gurt bleibt oder ob er sich abschnallt und reinkommt. Wir wissen nicht, wo Allie ist. Wir wissen nicht, wohin der Aufzug fährt und ob jemand mit ihm nach unten fährt oder ob jemand ihn gerufen hat, um zu uns hochzufahren. Wir wissen gar nichts und was vielleicht das Schlimmste ist: Ich weiß nicht, wo wir noch hinsollen, wenn wir nicht einmal auf Bäumen sicher sind. Ist da ein Pflänzchen der Hoffnung in mir gewachsen? Vorübergehend ja, aber jetzt ist es eingegangen, vertrocknet und tot.
Noch zwei Stufen, dann sind wir im 20. Stock. Hören kann ich nichts außer meinen einigermaßen leisen Schritten und meinem furchtbar laut hämmernden Herz.
»Sollen wir schauen, wo die Aufzüge gerade sind?«, wispere ich.
Jarrett nickt und wir schleichen zur Anzeige. Der eine Aufzug ist nach wie vor in der 30. Etage. Der andere ist im 15. Stock. Er fährt nicht mehr. Er hat angehalten. Wir stehen da und starren und rätseln.
»Glaubst du, Allie ist mit ihm gefahren?«, raunt Jarrett.
»Ich weiß nicht«, antworte ich leise. Aber ich weiß noch, dass der Aufzug im 15. Stock war, als wir den Farmscraper betreten haben. Der Turm hat 31 Etagen, aber einen fünfzehnkommafünften Stock gibt es nicht und deshalb sind der 15. und der 16. Stock die beiden Etagen, von denen man es in beide Richtungen gleich weit hat, nach oben und nach unten. Und ist die schnelle Erreichbarkeit aller Stockwerke nicht ein wichtiges Kriterium, wenn es um den Standort von so etwas wie einer Kommandozentrale geht? Einer Kommandozentrale für …
»Sicherheitsandroiden!«, stoße ich aus. Sie haben den Aufzug gerufen, vielleicht weil sie mit dem im Gurt steckenden Roboter gekoppelt sind, der sie durch ein Signal alarmiert und dadurch schlussendlich geweckt hat. Das Entscheidende ist: Sie kommen. Der Aufzug fährt. Nach oben. Wahrscheinlich zu uns.
Hilfe suchend schaue ich zu Jarrett. Wir haben keine Zeit, um den anderen Aufzug zu rufen. Wenn wir fliehen wollen, dann nur durchs Treppenhaus. Aber da sind Kameras und es steht zu befürchten, dass die Sicherheitsandroiden einen von ihnen in der Zentrale zurückgelassen haben, der die Bildschirme verfolgt und seine Kollegen mit Informationen versorgt. Vielleicht ist das auch gar nicht nötig, vielleicht wissen die Androiden in wachem Zustand auch so Bescheid, wann immer die Kameras Menschen erfassen. Hier, in diesem Stockwerk, inmitten der Gewächshausregale, scheint es keine Kameras zu geben. Ich sehe jedenfalls noch immer keine. Und Jarrett auch nicht. Er schaut mich an.
»Verstecken wir uns? Hier?«
Ich kann nicht sprechen, die Angst schnürt mir die Kehle zu. Aber wir müssen eine Entscheidung treffen und deshalb nicke ich. Ich bin nicht froh über diese Entscheidung. Es ist keine gute, ich spüre es, aber ich weiß auch keine bessere und wir haben verdammt noch mal keine Zeit.
Wir rennen vom Aufzug und vom Treppenhaus weg, tauchen in die unzähligen Reihen von Gewächshausregalen ein. In dieser Etage werden Gurken angebaut. Nein, wahrscheinlich sind es Zucchini, sie wachsen übereinander, acht oder neun oder zehn Reihen in jedem Regal. Manche ihrer Stängel stoßen von unten gegen die Metallböden, auf denen die nächsten Tröge mit den nächsten Pflanzen stehen. Sie tragen alle Früchte, dicke grüne und gelbe Zucchini. Und sie haben auch große grüne Blätter, aber es sind nicht genug, um uns zuverlässig vor Blicken zu verbergen.
Wir schleichen, damit uns nicht auch noch die Geräusche unserer Schritte verraten. In meinem Rücken macht es leise pling. Die Aufzugtür öffnet sich.
Schritte. Die Androiden schleichen nicht. Jarrett hält an und deutet nach oben. Er will auf das Regal klettern, was an und für sich nicht die schlechteste Idee ist, weil die Androiden wohl nicht dort oben nach uns suchen. Aber zuerst müssen wir da hochkommen. Und zwar lautlos.
Wir versuchen es, fangen an hinaufzusteigen. Die Stabilität des Regals ist nicht das Problem, es ist massiv und muss unzählige Tröge mit einer Menge Erde und Zucchini tragen, da kommt es auf Jarrett und mich wohl nicht an. Der Abstand der Metallböden ist ebenfalls nicht das Problem, meine Beine sind lang genug und auch meine Finger finden Halt. Das Problem ist, dass ein unsichtbares Gewicht auf meine Brust drückt, und zwar so fest, dass ich kaum noch atmen kann. Das Problem ist, dass ich zwar lautlos sein will, aber es nicht bin. Und das größte Problem ist, dass ich die Androiden schon sehe.
Es sind zwei und sie sind bewaffnet. Sie halten Pistolen in den Händen. Klobige, seltsame Pistolen. Die Androiden nähern sich, aber anscheinend haben sie uns noch nicht bemerkt, denn sie rennen nicht, sie schießen nicht und sie schauen auch nicht nach oben. Noch nicht.
Was jetzt? Ich suche Jarretts Blick. Er ist gleich neben mir, uns fehlen vielleicht noch zwei oder drei Metallböden bis ganz oben. Er klettert weiter, also klettere ich auch weiter. Meine Knie und mein ganzer Körper wackeln.
Die Androiden sind nur noch eine Regalreihe entfernt. Sie sehen aus wie das Modell, das wir auf dem Supermarktparkplatz in Hatford Dale gesehen haben und das laut Jarrett vielleicht nur mit einer Elektroschockpistole bewaffnet gewesen ist. Wahrscheinlich sind die klobigen Dinger in den Händen dieser Typen also auch nur Elektroschockpistolen, aber was heißt nur. Wenn sie uns damit treffen, fließt Strom durch unsere Körper und dann sind wir bewegungsunfähig, fallen auf den Boden und die Androiden können uns ohne Widerstand den Rest geben.
Jarrett ist jetzt ganz oben auf den Trögen. Ich noch nicht. Ich habe zu viel Angst, Geräusche zu verursachen, und kralle mich mit bebenden Fingern an den obersten Metallboden. Die Androiden schauen noch immer nicht zu mir hoch. Aber jetzt kommen sie in unsere Reihe. Mein Herzschlag erfüllt den ganzen Raum.
Jarrett streckt mir eine Hand entgegen, doch ich kann sie nicht nehmen. Ich zittere zu sehr und wenn ich das Metall loslasse, falle ich, ehe ich seine Hand zu greifen bekomme. Er kniet direkt über mir auf dem Rand eines Troges, gleich neben riesigen Zucchini. Ich will zu ihm, aber ich kann nicht, ich muss hier hängen und darauf hoffen, dass ich mich so lange halte, bis die Androiden verschwunden sind. Vielleicht begreift das auch Jarrett, denn jetzt nimmt er die Hand weg und legt sie an den Trog neben dem, auf dem er kniet.
Unter mir nähern sich die Androiden. Sie laufen hintereinander und der vordere von ihnen ist schon beinahe unter mir. Ich schlottere vor Angst und das Regal schlottert mit mir. Der Zwischenboden vibriert und klappert, die Androiden schauen nach oben. Ihre Augen sind rot. Sie reißen ihre klobigen Pistolen hoch und da weiß ich, dass ich gleich auf den Boden fallen werde. Und Jarrett auch.
Doch da fällt schon etwas anderes, direkt neben mir. Es ist ein Trog, in dem riesige Zucchini wachsen, und er kracht auf die Androiden und begräbt sie unter sich. Jarrett hat es irgendwie geschafft, ihn über den Rand des Regals zu bugsieren und mich zum siebenhundertvierundfünfzigsten Mal zu retten.
Vorläufig, denn die Androiden versuchen bereits, sich unter dem Trog zu befreien.
»Geh aus dem Weg, Hannah!« Jarrett schwingt seine Beine eine Regaletage tiefer und tritt mit den nackten Füßen von hinten gegen einen weiteren Pflanztrog – den, vor dem ich immer noch hänge. Ich hangle mich zur Seite, Jarrett stöhnt vor Anstrengung. Aber er schafft es, der nächste Trog fällt und landet genau auf den sich aufbäumenden Androiden. Sie sind nicht tot oder so und deshalb springe ich neben sie, um zu verhindern, dass sie die Waffen erreichen, die ihnen aus den Kunststofffingern gefallen sind.
Ich lande mehr auf Ellenbogen und Knien als auf Händen und Füßen. Aber für Schmerz ist keine Zeit. Ich hebe die erste Waffe auf, von der anderen trennen mich die Androiden. Einer von ihnen grapscht schon nach mir.
»Vorsicht!«, schreit Jarrett, der mich, wie ich merke, nicht vor dem Androiden warnen will, sondern vor einem weiteren Trog, den er nach unten stößt. Wieder trifft er und nun sieht es so aus, als kämen die Androiden so schnell nicht mehr hoch. Ich weiche ihren Armen aus, bücke mich nach der zweiten Waffe und springe außer Reichweite.
Jarrett springt vom Regal. »Hauen wir ab!« Er fasst sich an den Kopf, aber auch für Fragen ist keine Zeit. Die Tröge werden die Androiden nicht ewig aufhalten. Und außerdem waren wir nicht gerade leise. Wir müssen hier weg und deshalb rennen wir zurück in Richtung Treppenhaus. Wir rennen nebeneinander, ich halte Jarrett eine Pistole hin und nach kurzem Zögern nimmt er sie. Offensichtlich ist es auch für ihn das erste Mal.
Unsere Blicke fliegen zur Anzeige bei den Aufzügen. Der eine ist nach wie vor im 30. Stockwerk. Der andere noch da, wo die Androiden ausgestiegen sind: bei uns, in der 20. Etage. Jarrett sieht mich an. Meine Hoffnungen auf den Farmscraper haben sich zerschlagen. Ich weiß nicht, wo wir noch hinkönnen, aber dieser gläserne Turm ist nicht die Lösung. Und deshalb hämmere ich auf die Taste.
Es macht pling und die Glastür geht auf. Aber da ist noch ein anderes Geräusch. Im Treppenhaus. Schritte. Schnelle Schritte. Wir stürzen in den Aufzug.
»Erdgeschoss!«, schreie ich panisch und Jarrett drischt auf die Taste fürs Erdgeschoss – denke ich, doch im letzten Moment hält er inne. Sein Finger verharrt Millimeter vor der Taste. Seine Augen suchen meine.
»Wenn im 15. noch mehr Sicherheitsandroiden sind – dann werden sie den Aufzug stoppen!«
Scheiße, daran habe ich nicht gedacht. Aber was sollen wir sonst tun? Nach oben fahren? Davon kriegen die Androiden auch Wind, wegen der Kamera in der Kabine.
»Hannah! Wohin?!«
Die Schritte im Treppenhaus werden lauter. Sie sind nah, schnell und stampfend.
Ich will auf die Taste fürs Erdgeschoss dreschen. Aber Jarrett hat die Schritte auch gehört und wahrscheinlich denkt er dasselbe wie ich und deshalb klatscht meine Hand auf seine und seine auf die Taste.
Die Glastür fängt an zuzugehen. Sie bewegt sich auch dieses Mal wie in Zeitlupe und da schießt Allie um die Ecke und kriegt die Finger in den Spalt, der gerade noch so breit ist wie ihre in einem Handschuh steckende Hand. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus, die Panzerglastür öffnet sich wieder. Ich will zurückweichen, Jarrett will die Waffe heben und schießen, aber Allie packt ihn am Gelenk und reißt ihm den Arm zur Seite. Ihre andere Hand umschließt meine und ehe Jarrett reagieren kann, tritt Allie ihm zwischen die Beine. Er krümmt sich vor Schmerz, sie hat eine Hand frei und rammt sie mir zur Faust geballt in den Magen. Mir bleibt die Luft weg, meine Pistole entgleitet mir und Allie packt mich und schleudert mich gegen die Rückwand der Kabine. Jarrett landet krachend neben mir und während wir versuchen hochzukommen, hat Allie unsere beiden Pistolen aufgehoben und richtet sie auf uns.
Sie sagt nichts. Sie kann nichts sagen, denn sie hat sich das transparente Klebeband mehrfach um Mund und Nacken wickeln müssen. Aber ich sehe, was sie denkt. Sie denkt, dass es ihr leidtut, das hier und wahrscheinlich alles, und im selben Moment betätigt sie die Abzüge.