Hannah
Eigentlich mochte ich Überraschungen. Genau wie Gespräche und … Jungs. Doch wann immer zwei oder drei dieser Dinge zusammenkamen, war ich heillos überfordert.
Jedenfalls im sogenannten echten Leben. Im Metaverse war alles leichter. Dort merkte niemand, wie ich vor Aufregung rot wurde. Niemand sah die Schweißflecken unter meinen Achseln oder die kleinen Härchen, die meine Arme bevölkerten. Im Metaverse hatten alle mein virtuelles Ich vor sich und das war 24/7 selbstsicher und cool.
Doch blöderweise war mein virtuelles Ich im Augenblick offline und mein reales Alter Ego nicht in der Lage, Schweißflecken, rote Wangen und körperliche Makel geheim zu halten. Was umso fataler war, da ich mich auf einem Flughafenparkplatz in Columbus befand, wo ich die Tür eines Autos geöffnet hatte, in dem entgegen meiner Erwartung jemand saß. Ein Junge, das auch noch, und da er wach war und mich ansah, musste ich annehmen, dass er jeden Moment etwas sagen würde.
»Hey.« Da war es.
»Hey«, entgegnete ich und zwang mich, nicht auf meine Sneakers, sondern in seine Richtung zu schauen. Er war Afroamerikaner und sah schlank, aber sportlich aus, soweit ich das bei seiner weit geschnittenen Kleidung – Jeans und T-Shirt – auf die Schnelle beurteilen konnte. Seine Haare waren kraus und ziemlich kurz, sein Gesichtsausdruck ernst. Er lächelte nicht, weder mit dem Mund noch mit seinen großen braunen Augen.
»Ich bin Jarrett. Bist du das Mädchen aus Deutschland?«
Jarrett sprach schnell und nicht gerade deutlich, aber ich verstand ihn trotzdem. Im Metaverse unterhielt ich mich andauernd auf Englisch und mittlerweile fielen mir für viele Dinge erst englische Worte ein, ehe ich auf halbwegs passende deutsche kam. Deep eyes war das Erste, was mir zu Jarretts Augen in den Sinn kam, denn ich verlor mich beinahe in ihnen, so hypnotisch und gleichzeitig melancholisch war ihr Ausdruck.
Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich nicht auf Jarretts Frage geantwortet hatte und ihn regelrecht anstarrte. Ich nickte kurz (Wahnsinnsantwort, Hannah!), zerrte die Reisetasche von der Schulter und hielt sie beim Einsteigen wie ein Schutzschild vor mich. Am liebsten hätte ich sie auch noch wie einen Raumteiler hochkant gestellt, doch dann legte ich sie nur zwischen uns und zog die Autotür zu. Jarrett sah noch immer zu mir her, vermutlich weil er darauf wartete, dass auch ich mich vorstellte.
»Ich bin Hannah«, sagte ich und sprach meinen Namen englisch aus, während meine Gesichtsfarbe wahrscheinlich zu Stoppschildrot wechselte. Ich rang mir ein kurzes, peinliches Lächeln mit geschlossenem Mund ab, drehte mich weg und griff nach dem Anschnallgurt. Ich zog nur langsam daran, um den Moment hinauszuzögern, in dem ich ihn einrasten lassen und mich wieder in Jarretts Richtung drehen musste. Denn wenn auch das erledigt war, was dann?
Ein Teil von mir brannte darauf, zu erfahren, wer Jarrett war und woher er wusste, dass ich aus Deutschland kam. Aber ein anderer Teil von mir schmetterte diese Neugier nieder.
Pff, was soll schon dahinterstecken? Jarrett ist eben mit deiner amerikanischen Gastfamilie verwandt oder bekannt. Und nachdem er in Columbus Freunde getroffen oder irgendetwas erledigt hat, lassen ihn die Giddeys nun in ihrem selbstfahrenden Elektro-SUV mitfahren. Wahrscheinlich spontan, weshalb Jarrett von dir wusste, aber du nicht von ihm. Und das ist auch schon alles, mehr ist da nicht. Schnall dich an und danach widmest du dich am besten deiner Smartwatch. Stoppschildrot muss nicht das Ende sein, da geht noch mehr auf der Gesichtsfarbenskala, und das weißt du!
Wusste ich, leider. Rot war sozusagen meine Farbe und deshalb wollte ich meiner inneren Stimme gerade gehorchen, als ich die deutlich angenehmere Stimme des Bordcomputers vernahm.
»Vielen Dank fürs Anschnallen. Ich bringe Sie nun an das definierte Ziel«, verkündete die KI in akzentfreiem Englisch. »Die geschätzte Fahrzeit beträgt eine Stunde und 23 Minuten.« Kaum hörbar schaltete sich der Elektromotor ein und der SUV der Giddeys setzte zurück, um auszuparken. »Ihr Ziel liegt in Vinton County. Mit einer Bevölkerung von 12000 Menschen ist Vinton County das am dünnsten besiedelte County des Bundesstaats Ohio, in dem etwa elf Millionen Menschen leben. Mehr als ein Viertel davon hat deutschstämmige Vorfahren.«
So wie Lauren Giddey, dachte ich. Wenn mein Vater sich nicht vertat, war meine Familie über fünf oder sechs Ecken mit Lauren verwandt. Dass ich im selbstfahrenden SUV der Giddeys saß, lediglich durch meine Reisetasche von einem amerikanischen Jungen getrennt, lag jedoch nur zum Teil an meinem Familienstammbaum. Vor allem lag es an meinen Eltern, die in mir so etwas wie einen Zombie sahen. Was sie mir als Amerikaurlaub verkauften, war im Grunde nichts anderes als eine Entziehungskur.
Aber nicht mit mir. Durch die Kunstfasern der Reisetasche ertastete ich die Rettung meiner Ferien. Ich hatte meine Eltern ausgetrickst und mir im Duty-free-Shop am Flughafen dieselbe Virtual-Reality-Brille gekauft, die mein Vater daheim aus meiner Reisetasche geholt hatte. Wahrscheinlich würde ich die Brille nur heimlich benutzen können, aber immerhin. Das Metaverse würde mich nicht ganz verlieren.
»Möchten Sie mehr über Ohio erfahren?«, fragte die weibliche Stimme aus dem Lautsprecher.
Ich spürte Jarretts Blick. Ich schluckte, dann bejahte ich leise, obwohl ich an Fakten über Ohio so wenig Interesse hatte wie an einem Podcast über Ahnenforschung. Der SUV fuhr vom Parkplatz auf eine mehrspurige Straße und die KI erzählte von Ohios Geschichte, die mir zum einen Ohr hinein und zum anderen hinausging. Doch solange der Bordcomputer redete, musste ich nicht mit Jarrett reden.
Sein Blick ging über die Reisetasche (gelegt, nicht gestellt) zu meiner Hand. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die Finger zur Faust geballt hatte und mit dem Daumen Kreise auf das Gelenk meines Zeigefingers malte: eine Marotte von mir, die ich nicht ablegen konnte und die sich immer dann zeigte, wenn ich keinen VR-Controller in der Hand hielt oder nervös war. Und Gott, ich war nervös!
Beschämt steckte ich die Hand unter die Reisetasche und machte unsichtbar für Jarrett mit meinen Daumenkreisen weiter.
»Ohio ist Teil des sogenannten Corn Belts des mittleren amerikanischen Westens, in dem lange Zeit hauptsächlich Mais angebaut wurde. Mittlerweile ist die landwirtschaftliche Produktion deutlich diversifizierter«, belehrte mich die KI und ein Blick durch die getönte Fensterscheibe des SUV zeigte, dass die landwirtschaftliche Produktion auch in den Großstädten angekommen war. Der Flughafen lag etwas außerhalb von Columbus, aber überall am Horizont schraubten sich Farmscraper in den dunstigen Mittagshimmel – vertikale Farmen, in denen auf unzähligen Etagen Gemüse für die Stadtbevölkerung angebaut wurde.
Da ich meinen Eltern noch eine Nachricht schreiben musste, aktivierte ich meine Smartwatch. Die Hologrammanzeige ploppte auf und auf meinem Unterarm erschien die Projektion einer Tastatur. Meine Finger flogen über die optischen Tasten, die auf meine blasse Haut und die dunklen Härchen projiziert waren. Wenn es nach meinen Eltern ging, sollte mir dieser zwangsverordnete USA-Urlaub helfen, allein in der Realität zurechtzukommen und selbstständiger zu werden. Es passte nur nicht so recht dazu, dass ich meinen Eltern Nachrichten schreiben sollte, sobald ich sicher gelandet war (was ich getan hatte), sobald ich im Auto saß (was ich in diesem Augenblick erledigte) und dann noch einmal, wenn ich bei den Giddeys angekommen war. Eine Stunde und 16 Minuten veranschlagte der Bordcomputer noch dafür und es sah ganz danach aus, als würden es 76 Minuten des Schweigens werden, denn Jarrett hatte sich abgewandt und sah, mit Kopfhörern über den Ohren, aus dem getönten Fenster.
Ich war erleichtert und gleichzeitig enttäuscht. Ich hatte vermeiden wollen, dass Jarrett noch einmal das Gespräch mit mir suchte, insgeheim jedoch hatte ich mir genau das gewünscht. Da war etwas in seinem Blick gewesen, das mich fasziniert hatte. Und davon abgesehen – wäre es nicht nett gewesen, zur Abwechslung mal im realen Leben ein paar Worte mit einem Jungen zu wechseln? Nett und obendrein gut fürs Ego? Wenn ich ehrlich war: ja, und zwar so was von ja. Aber natürlich war es nicht dazu gekommen, denn ich hatte wieder einmal sensationell versagt.
Mit einem Tastendruck deaktivierte ich die Smartwatch und sofort verschwanden die Hologrammanzeige und die auf meinen Unterarm projizierte Tastatur. Ich öffnete den Reißverschluss der Reisetasche, steckte die Hand hinein und strich über das Gehäuse meiner neuen Brille. Es verlangte mich danach, sie herauszuholen, aufzusetzen und ins Metaverse zu fliehen. Aber ich hatte den nur spärlich geladenen Akku noch vor dem Abflug in die Knie gezwungen und alles, was ich jetzt noch tun konnte, war, die Finger um den Controller zu schließen und den Daumen über die kreisrunde Taste kreisen zu lassen. Es bewirkte nichts, jetzt, da die Brille ausgeschaltet war, aber zumindest beruhigte es mich.
Ein Gähnen stemmte mir den Mund auf. Achteinhalb Stunden war ich nach New York geflogen, wo ich am Flughafen vergeblich nach einer freien Steckdose zum Aufladen der Brille gesucht hatte, ehe ich abermals in einen Flieger gestiegen war. Aufgrund der Zeitverschiebung war es in Amerika erst Mittag, aber ich war seit mehr als 14 Stunden unterwegs und während der ganzen Zeit nur einmal kurz eingedöst. Meine Beine hatten sich in beiden Flugzeugen als hinderlich lang erwiesen, in der Fahrgastkabine des SUVs jedoch konnte ich sie problemlos ausstrecken und jetzt lag ich mehr, als dass ich saß.
Aus den Augenwinkeln schielte ich zu Jarrett, der, wie ich feststellte, nicht nur große Augen, sondern auch ziemlich große Ohren hatte, und nach wie vor aus dem Fenster starrte. Am Straßenrand hinter der getönten Scheibe ploppte ein Werbehologramm für eine im Bau befindliche Hyperloopstrecke auf, die es möglich machen würde, von Columbus in zwei Stunden den Strand von Florida zu erreichen. Geplante Fertigstellung: Sommer 2057. Wenn die ersten Ohioaner (oder wie immer man die in diesem Bundesstaat lebenden Menschen nannte) in Kapseln stiegen, um mit Schallgeschwindigkeit einem Nachmittag am Strand entgegenzujagen, würde ich nicht mehr 16, sondern 18 sein. Volljährig. Ich bezweifelte, dass diese Tatsache mein reales Leben beflügeln würde.
Der SUV reihte sich in eine Kolonne von selbstfahrenden Autos ein, die auf einem Highway stadtauswärts fuhren, gleich neben den Hyperloopröhren. Es waren zwei, eine für jede Fahrtrichtung, und soweit ich das beurteilen konnte, sahen sie fertig aus. Wir fuhren an einer Wohnwagensiedlung vorbei und ein paar Minuten später durch irgendeinen Vorort von Columbus, dann zogen vor den getönten Fenstern nur noch Leitplanken, Stromleitungen und Natur vorüber. Was Jarrett immer noch interessanter zu finden schien als mich, das befremdliche Mädchen aus Deutschland. Die KI war mittlerweile beim Themenpunkt Religion in Ohio angekommen, woraus ich schloss, dass ich wohl kaum etwas verpasste, wenn ich die Augen zumachte und ein wenig döste.
* * *
»Hey. Hannah.« Jarretts Stimme drang wie durch Watte an mein Ohr. »Ich glaube, es ist Zeit zum Aufwachen.«
Ich blinzelte mich wach, kehrte aus dem Tiefschlaf in den SUV der Giddeys zurück. Jarrett hatte die Kopfhörer abgenommen und sah zu mir her. Auch diesmal lächelte er nicht.
»Noch ein paar Minuten«, er nickte in Richtung des Bordcomputers, »dann sind wir da.«
»Okay«, sagte ich und spürte den Speichelfaden, der aus einem meiner Mundwinkel geronnen war. Auch Jarrett musste ihn bemerkt haben, genau wie mein hervorstehendes Kinn, das den Speichelfaden bremste. Hitze überzog mein Gesicht, während ich mich hastig abwandte und versuchte, den Speichel beiläufig wegzuwischen.
Ich war froh, dass Jarrett mich rechtzeitig geweckt hatte, aber ich bedankte mich nicht bei ihm, ich stierte aus dem Fenster. Das Gelände war hügeliger als dort, wo ich eingeschlafen war, und wir fuhren auch nicht mehr auf dem Highway, sondern auf einer schmaleren Straße. Statt Leitplanken gab es jetzt einen zweifachen gelben Mittelstreifen, die Stromleitungen neben der Straße waren aber immer noch da, genau wie die Natur.
Der SUV bog auf einen asphaltierten Weg, der zuerst von ein paar Bäumen und schließlich von einem weiß gestrichenen Lattenzaun gesäumt wurde. Dahinter begannen Äcker und Felder, auf denen in endlosen Reihen grüne niedrige Pflanzen wuchsen. Noch eine Minute, kündigte das Display des verstummten Bordcomputers an, und durch die Windschutzscheibe drängten bereits die Gebäude der Farm. Oder vielmehr: meiner Entzugsklinik auf dem Land.
Das größte Gebäude war eine riesige, in kräftigem Rot gestrichene Scheune, vor der sich auf einem von dicken Kabeln umrankten Stahlgerüst ein Windrad drehte. Das weiß gestrichene Wohnhaus besaß eine Veranda, deren Überdachung ebenso wie das Hausdach mit Solarzellen gepflastert war, und auf der Veranda stand winkend die Klinikleiterin.
Der SUV kam zum Stehen, die KI bedankte sich für die Fahrt und Lauren Giddey öffnete die Tür zur Fahrgastkabine.
»Hannah, wie schön, dass du da bist!« Ihr Lächeln war so nett, dass ich drauf und dran war, ihr die Freude abzukaufen. »Und du musst Jarrett sein. Herzlich willkommen auf unserer Farm!«
Also doch kein Verwandter oder Bekannter der Giddeys. Aber wer war Jarrett dann?
Meine sperrige Reisetasche bewahrte mich nicht vor einer Umarmung. Lauren war Mitte bis Ende 20, hatte kurze blonde Haare und ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht. Über einem Jeansrock trug sie ein blaues Top mit Spaghettiträgern. Ihre Arme waren kein bisschen behaart.
»Wie war der Flug, Hannah?«
»Äh, okay. Ziemlich lang.«
»Oh, das kann ich mir vorstellen.« Lauren tätschelte mir mitfühlend die Schulter, dann bemerkte sie Jarrett, der ums Auto herumgekommen war. »Ich bin Lauren, Quentins Frau.« Sie streckte ihm die Hand entgegen und Jarrett schüttelte sie, hatte aber auch für unsere hübsche Gastgeberin kein Lächeln, was mich aufrichtig erstaunte.
»Und«, sagte Lauren, »habt ihr beide euch schon angefreundet während der Fahrt?«
»Ähm … Na ja … Ein bisschen vielleicht«, stammelte ich und wagte es nicht, Jarrett in die Augen zu schauen. Von den anderthalb Stunden, die wir uns jetzt kannten, hatte ich den größten Teil verschlafen. In den wenigen Minuten, die ich wach gewesen war, hatte ich es geschafft, mehrfach knallrot zu werden (so wie jetzt), aus dem Mund zu sabbern und zusammengerechnet vier Worte mit ihm zu wechseln. Man konnte sagen, ich hatte mein Möglichstes getan, damit er sich nicht mit mir anfreunden wollte.
Laurens Blick verharrte etwas zu lang auf mir. Dann war ihr Lächeln wieder da, diesmal jedoch wirkte es aufgesetzt. »Na, dann kommt mal mit rein«, sagte sie und nickte uns zu.
Wir folgten ihr über die Veranda ins Haus, das hell, geräumig und ziemlich modern eingerichtet war. Auf dem Esstisch türmte sich etwas, das aussah wie eine Mischung aus Burgerpatties und nicht glasierten Elisenlebkuchen.
»Das ist Goetta. Eines der traditionellen Gerichte Ohios, das seinen Ursprung in Deutschland hat. Gekochte Hafergrütze, Zwiebeln, Gewürze und Schweinehackfleisch – also eigentlich. Bones ersetzt es auf unseren Wunsch hin durch Tofu.« Lauren deutete auf den Haushaltsandroiden in der zum Wohnbereich hin offenen Küche. Es war ein eher simples Modell, mit weißem Kunststoff verkleidet und einem Torso, der nicht auf Beinen, sondern auf großen Rollen aufsaß. Die Sensoraugen des Androiden waren auf eine Rührschüssel gerichtet, in die seine stufenlos biegbaren Finger ein Ei aufschlugen.
»Bones backt Himbeerkuchen«, erklärte Lauren, »für den Nachmittagskaffee. Heute Abend hätte ich an vegetarisches Barbecue gedacht. Aber nehmt euch erst einmal Goetta. Ansonsten ist Bones beleidigt.« Sie zwinkerte uns zu, woraufhin Jarrett sich zwei Tofulebkuchen auf seinen Teller legte. Ich murmelte etwas von wegen kein Hunger.
»Quentin füllt gerade Pflanzenschutzmittel in die Sprühtanks der Drohnen«, sagte Lauren in die etwas peinliche Stille hinein. »Aber er müsste jeden Moment fertig sein, dann kann er euch die Farm zeigen. Möchtest du dich vorher frisch machen, Hannah?«
»Ähm, ja, gerne, aber …« Mein Blick wurde von der brillenförmigen Ausbeulung in meiner Reisetasche angezogen. »Könnte ich mich nach dem Duschen vielleicht erst mal ausruhen?«
»Natürlich, Hannah.« Lauren nickte verständnisvoll. »Wollen wir nach oben gehen, damit ich dir das Bad und dein Zimmer zeigen kann?« Sie stand auf und lud sich die Reisetasche auf die Schulter. »Ich bin gleich zurück, Jarrett. Nimm dir ruhig noch einmal nach, ja?«
Er nickte und ich folgte Lauren nach oben, wo sie mir Bad und Gästezimmer zeigte und mich ermutigte, zu ihr zu kommen, sollte ich irgendetwas brauchen. Doch das Bad und das Gästezimmer waren völlig okay und was das Wichtigste war: Es gab eine strategisch sehr günstig gelegene Steckdose unmittelbar neben dem Bett. Ich holte die Brille und den Adapterstecker vom Duty-free-Shop aus der Reisetasche, stöpselte Kabel und Stecker zusammen und stülpte mein Kissen darüber. Lauren schien nett zu sein, aber meine Eltern hatten sie nun mal zur Leiterin meiner Entzugsklinik auserkoren – oder eher: verdammt. Bis klar war, auf wessen Seite sie stand, war ich besser vorsichtig.
Die Dusche verfügte über eine coole Wasserfallfunktion, die ich nur kurz auskostete. Ich trocknete mich ab und schlüpfte eilig in die frische Kleidung, die ich aus meiner Tasche bereitgelegt hatte: Unterhose, Füßlinge, meine schwarze Lieblingsjeans, in der ich fast so etwas wie einen Hintern hatte, BH und ein schlichtes weißes T-Shirt, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen reichten. Ich hatte es gerade über den Kopf gezogen, als sich mein Blick im Spiegel verfing. Es gab nicht viel, was ich an mir mochte: meine grünbraunen Augen, die geschwungenen, dichten Brauen und vielleicht noch meine hohen Wangenknochen. Der Rest hingegen … Mein Kinn war zu spitz, der Hals zu lang und meine Figur nicht nur hager, meine Arme und Beine waren obendrein von Heerscharen kleiner Härchen besiedelt.
Schnell streifte ich das T-Shirt über, floh aus dem Bad und in mein Zimmer. Ich verriegelte die Tür, schrieb meinen Eltern die dritte kurze Nachricht, dann stellte ich mich neben das Bett, setzte die VR-Brille auf und nahm die Controller in die Hände. Ich drehte die Lautstärkeempfindlichkeit nach oben, damit ich im Flüsterton sprechen und Lauren mich nicht hören konnte, und schaltete den Displaymodus von Mixed auf Virtual Reality. Prompt verschwand das Gästezimmer der Giddeys hinter den Polygonwänden meines virtuellen Lofts.
Ich seufzte, spürte, wie sich mein ganzer Körper entspannte. Ich war zurück in der Welt, in der auch ich mich hübsch, selbstsicher und beachtet fühlte. Zurück im Metaverse, zurück in meinem wahren Leben.
Es dauerte keine 30 Sekunden, dann klingelte es an der Tür meines virtuellen Lofts. Fjellas virtuelles Alter Ego trug Minirock und Lederjacke, die Lippen hatte sie knallrot geschminkt. In Norwegen, wo die leibliche Fjella vermutlich in ihrer autofreien Garage stand, war es Freitagabend.
»Hannah! Ich habe mich sofort herteleportiert, als ich deine Statusmeldung gesehen habe. Ich dachte, du wärst in Amerika und deine Eltern hätten dir verbo…«
»Ich bin in Amerika, Fjella! Und deswegen kann ich auch nicht laut sprechen, aber ich bin trotzdem am Start! So in eineinhalb oder zwei Stunden muss ich mich wieder blicken lassen, also … was machen wir so lange? Heute ist doch das Konzert der Spotted Beasts! Oder sollen wir erst mal auf Marisas Ausstellung? Entscheid du, Fjella, mir ist beides recht. Gott, es ist so schön, hier zu sein!«