Mensch – Maschine

Jarrett

Die Räder des Traktors wirbelten trübgelbe Staubwolken auf, die vom Feldweg über die Äcker walzten. Quentin Giddey, ein drahtiger Kerl Ende 20, saß mit hochgerollten Hemdsärmeln am Lenkrad und erzählte, dass laut seiner Smartwatch so bald nicht mit Regen zu rechnen sei.

»In fünf Tagen vielleicht, 45-prozentige Wahrscheinlichkeit aktuell. Es ist zu trocken, Jarrett, viel zu trocken. Das Gewitter vorletzte Nacht war nur ein Tropfen auf den heißen Stein – jedenfalls hier auf dem Land. Hat es in Columbus mehr geregnet?«

»Ich weiß nicht«, sagte Jarrett. »Kann sein.« Er hatte die Regentropfen in jener Nacht aufs Dach prasseln hören und sie später auch auf Kleidung und Haut gespürt. Doch er hatte sie kaum beachtet, denn seine Gefühle waren Achterbahn gefahren und sein Körper geradezu übergelaufen vor Adrenalin. Quentin Giddey mochte jene Nacht mit dem Regen verbinden, der für seine Felder nicht ausreichte. Jarrett selbst verband sie mit dem, was er kaputt gemacht hatte.

»Das ist der vierte Sommer, seit Lauren und ich die Farm gepachtet haben, und mit Abstand der trockenste.« Quentin griff sich an die Baseballkappe, auf die das Logo der Ohio State University genäht war, eingerahmt von einem verblichenen Schweißfleck. »Wir haben den Pachtvertrag am Tag vor der Hochzeit unterschrieben, was es mir leichter macht, mich ans Datum zu erinnern. Also an das unseres Hochzeitstages.« Er lachte, dann zeigte er über das Getreidefeld zu dem asphaltierten Weg, auf dem der SUV in Richtung Landstraße fuhr. »Die Inspektion steht an, drüben in Chillicothe. Ich bin froh, dass der SUV das allein hinkriegt. Es gibt nur noch eine Maschine auf der Farm, die gesteuert werden muss, und das«, er trommelte aufs Lenkrad, »ist Little John hier.«

»Little John?«, wiederholte Jarrett, um nicht unhöflich zu erscheinen. Sie fuhren auf einem grünen Traktor der Marke John Deere – es war nicht schwer, sich zusammenzureimen, warum Quentin diesen Spitznamen gewählt hatte. Die Frage war höchstens, ob er Robin Hood gelesen oder gestreamt hatte. Wie sich herausstellte, kannte Quentin nur die Serie mit Denji Bassey. Er erzählte, dass der nach der Romanfigur benannte Traktor uralt und Teil des Pachtvertrags gewesen sei. Höchstgeschwindigkeit: 25 Meilen pro Stunde. Tankinhalt: 164 Liter. Verbrauch: 16,9 Liter pro Stunde. Jarrett musste an das Mädchen aus Deutschland denken, das verklemmt, aber clever genug gewesen war, Müdigkeit vorzuschieben und in ihrem Zimmer zu bleiben.

Dabei war die Farmtour eigentlich gar nicht so übel, nur Quentins Faible für technische Details nervte. Und davon gab es eine Menge auf einer Farm, die normalerweise nur von zwei Menschen, aber wer weiß wie vielen Maschinen bewirtschaftet wurde. Da waren Jätroboter, die zwischen langen Reihen von Sojabohnen hindurchzuckelten, über Kamerasysteme verfügten und darauf programmiert waren, alles wegzuhacken, was nicht nach Sojabohnen aussah. Über einem benachbarten Feld kreisten autonome Drohnen, die flüssige Pflanzenschutzmittel aus 18,1 Liter großen Tanks versprühten und bis zu 72 Minuten in der Luft bleiben konnten – nur zwei von dutzenden Zahlen, die Quentin ungefragt ausspuckte. Und dann, auf einem bereits abgeernteten Feld, kam der Technische-Daten-Overkill: ein massiver, kettenbetriebener Feldroboter, der, wenn man ihn umlackiert und mit einer Rohrkanone ausgestattet hätte, mühelos als Panzer durchgegangen wäre. Im Augenblick zog der Feldroboter einen Pflug und er war so vielseitig, dass Jarrett ein ums andere Mal nicken und Interesse heucheln musste, bis Quentin endlich alle Funktionen und Details abgespult hatte.

»Für einen jungen Kerl wie dich dürfte es ein Kinderspiel sein, die Roboter und Drohnen einzusetzen. Im Grunde brauchst du nur deine Smartwatch. Sobald ich sie freigegeben habe, kannst du sämtliche Maschinen mit ihr steuern. Da fällt mir ein: Ich müsste noch deine Ferienarbeitserlaubnis sehen.«

Jarrett ließ seine Uhr den entsprechenden Nachweis anzeigen. Die Zeitanzeige 15.22 Uhr verschwand und das Hologramm jenes digitalen Zertifikats ploppte auf, das man in Ohio brauchte, um mit fünfzehn einen Ferienjob anzunehmen. Quentin warf einen flüchtigen Blick darauf, während er Little John einhändig um ein Getreidefeld lenkte.

»Und deine Eltern sind einverstanden?«

»Ja.« Die Lüge kam prompt von Jarretts Lippen. Er wollte diesen Ferienjob, wenn auch nicht wegen dem, was er hier tun sollte, oder der Bezahlung. Dieser Job war kein Ausweg aus dem Dilemma, in das er sich selbst hineinmanövriert hatte, aber er verschaffte ihm zumindest ein paar Tage Zeit.

Über ihnen pinselte ein Flugzeug einen weißen Kondensstreifen auf den wolkenlosen blauen Himmel. Quentin faselte irgendetwas von wegen Landeschneise und Maschinen aus Charlotte und Atlanta, aber Jarrett war in Gedanken woanders. Als Quentin zu ihm herübersah, nickte er reflexartig, doch diesmal schien das nicht zu genügen, denn Quentin runzelte die Stirn.

»Entschuldigung, ich habe gerade nicht zugehört. Was hattest du gesagt?«

»Kein Problem.« Quentins forschende Miene löste sich zu einem sonnigen Lächeln auf. »Ich hatte dich nur nach deiner Meinung gefragt. Denkst du auch, dass sich Kontinentalflüge in ein paar Jahren erledigt haben?«

»Schon möglich. Aber erst einmal müssen all die Hyperloop-Strecken fertig werden, oder?«

»Ja. Und dann stellt sich noch die Frage, was so eine Kapselfahrt kos…« Quentins Blick wurde von dem Hologramm angezogen, das Jarretts Smartwatch nach wie vor projizierte. Aber nun zeigte das Hologramm nicht mehr das Ferienarbeitszertifikat an, stattdessen standen da Worte.

With God

All Things

Are Possible

(Mt. 19,26)

»Mit Gott sind alle Dinge möglich … Das ist ja Ohios Staatsmotto! Wow, ich hätte nicht gedacht, dass ein Junge deines Alters diesen Satz als Standardholo wählt.«

»Das … habe ich auch nicht.«

»Ist doch cool.« Quentin schien zu glauben, dass Jarrett sich dafür schämte, das Bundesstaatsmotto als Standardanzeige festgelegt zu haben, die je nach Einstellung kurz zu sehen war, ehe sich die Hologrammprojektion automatisch abschaltete. Aber er hatte diesen Satz nicht gewählt. Irritiert drückte er auf seine Smartwatch, doch sie reagierte nicht.

»Wusstest du, dass Ohios Staatsmotto auf einen zehnjährigen Jungen zurückgeht? Er hat diesen Vers in einem Brief an den Cincinatti Enquirer vorgeschlagen. Müsste so vor hundert Jahren gewesen sein.«

Diesmal machte sich Jarrett nicht die Mühe zu nicken. Er mochte diesen Spruch nicht, hatte ihn nie gemocht. Wenn es einen Gott gab und wenn mit ihm alles möglich war, dann hatte der Gott, der für sein Leben zuständig war, eine Vorliebe für schlechte Dinge.

Seine Smartwatch, die bis eben nie groß aufgemuckt hatte, war jetzt ungewöhnlich warm. Und sie reagierte einfach nicht, weder auf Sprachkommandos noch auf Tastendruck.

Auch Quentin drückte mittlerweile an seiner Uhr herum. »Bei mir funktioniert die Hologrammanzeige nicht. Gar nichts funktioniert mehr, aber …« Auf dem Display von Quentins Smartwatch standen dieselben Worte, die als Hologramm groß über Jarretts Arm schwebten. »Ist heute irgendein Ohio-Jahrestag, von dem ich nichts weiß? Irgendein Jubiläum, wegen dem Gouverneur Baker unsere Smartwatches kapert?«

Jarrett antwortete nicht. Stattdessen versuchte er zum wiederholten Mal, seine Uhr neu zu starten. Er spürte, wie die Taste unter seinem Finger nachgab und sanft vibrierte. Aber es tat sich einfach nichts. Das Hologramm war wie eingefroren.

Ohne Vorwarnung trat Quentin auf die Bremse. Jarrett folgte seinem Blick und landete bei zwei Jätrobotern, die quer durch ein Sojafeld in Richtung Traktor fuhren. Ihre Hacken bohrten sich in einem fort in den Boden. Ganz egal, was dort wuchs.

»Verdammt! Die machen mir die Bohnen kaputt!« Quentin drehte den Zündschlüssel herum und riss die Tür auf. »Komm mit, Jarrett! Wir müssen sie stoppen!« Er sprang auf den Weg und rannte aufs Feld.

Jarrett zögerte einen Moment, dann stieg auch er aus und eilte hinter Quentin auf die Jätroboter zu.

»Sie müssen ein Problem mit den Kameras haben! Und mit dem Datenbankzugriff!«

»Und wie stoppen wir sie?«, rief Jarrett zurück. An seiner Jeans streiften unentwegt Sojabohnen entlang.

»Normalerweise per App. Jetzt manuell. Siehst du die Kabel, die rings um die Roboter gespannt sind? Wenn man Druck auf sie ausübt, halten die Roboter an.«

»Das heißt, ich soll daran ziehen?«

»Genau!«

Quentin brauchte nicht mehr zu schreien, denn Jarrett hatte ihn eingeholt und gleich darauf überholt. Er war seit zwei Jahren im Leichtathletikteam der Henderson High.

Als er den Roboter erreichte, bückte er sich zu dem ringsum gespannten Kabel und zog daran. Doch der Roboter fuhr und jätete weiter. Jarrett zog erneut, diesmal noch fester, und wich gleichzeitig zurück, damit seine Turnschuhe nicht unter die Hacken gerieten. Aber egal wie fest er am Kabel zog, die Hacken gruben sich immer weiter in den Boden. Jarrett wollte gerade fragen, was er falsch machte, doch ein Blick zu Quentin zeigte ihm, dass es dem genauso ging.

»Keine Ahnung, was da los ist!« Quentin sah ihn mit umwölkten Augen an.

Sie versuchten es weiter, zogen an den Kabeln und liefen dabei rückwärts übers Feld. Quentin schrie seine Smartwatch an und hämmerte auf die Taste – aber die Steuerungs-App der Jätroboter zu öffnen, schien nicht mehr zu den Dingen zu gehören, die mit Gott möglich waren.

»Scheiße, scheiße, scheiße! Die ruinieren mir noch die ganze Ernte! Jarrett, komm her, wir versuchen, einen von ihnen umzudrehen!«

Jarrett eilte zu Quentin, aber wenig überraschend erwies sich der Roboter als zu schwer, um ihn hochzuheben. Erstaunlicher war, dass der andere Jätroboter seine Richtung geändert hatte und sie nun von der Seite bedrängte. Jarrett spürte das Kabel an seinem Knie und machte einen Satz rückwärts. Sofort korrigierte auch die Maschine ihren Kurs und hielt, unermüdlich Sojabohnen jätend, auf ihn zu.

Jarrett tauschte einen kurzen, verdutzten Blick mit Quentin, dann schlug er einen Haken und sprintete auf die andere Seite des Roboters. Doch der drehte sich prompt um 180 Grad und verfolgte ihn abermals.

Offensichtlich funktionierten die integrierten Kameras also noch. Nur schienen die Roboter plötzlich nicht mehr auf Unkraut programmiert zu sein, sondern auf Menschen.

Ein Sirren in der Luft ließ Jarrett herumfahren. Drohnen! Und sie flogen so schnell heran, dass die Jätroboter im Vergleich wie Schnecken wirkten. Aber es sah so aus, als visierten Schnecken und Drohnen dieselben Ziele an.

»Was zur Hölle ist hier eigentlich los?« Quentins Augen leuchteten blau aus seinem kreidebleichen Gesicht.

Das Sirren der Propeller schwoll an und Jarrett erkannte die Tanks (18,1 Liter groß, er hatte es sich tatsächlich gemerkt) und die Vorrichtungen, aus denen sich sprühender Regen ergoss.

»Das ist Pflanzenschutzmittel!«, schrie Quentin, der seine Kappe tief ins Gesicht zog. »Pass auf, dass es dir nicht in die Augen kommt!«

Jarrett schirmte die Augen mit den Händen ab. Er hörte, wie die Drohnen über ihnen kreisten, spürte den Sprühregen auf Haut und Kleidung.

»Warum spritzen sie auf uns statt auf die Pflanzen?«

»Ich weiß es nicht. Erst unsere Uhren, dann die Jätroboter und jetzt die Drohnen – alles spielt verrückt!« Quentins Stimme klang wacklig. »Wir steigen besser wieder in den Traktor, sonst verätzt uns das Pflanzenschutzmittel noch die Haut!«

Sie rannten los, doch aus dem bereits abgeernteten Feld walzte ein Panzer heran: Der kettenbetriebene Feldroboter, der noch immer den Pflug hinter sich herzog. Er war Little John näher als sie und obendrein schneller. Und wenn Jarrett sich nicht verdammt täuschte, nahm er dieselben Ziele wie die Jätroboter und Drohnen ins Visier.

Quentin kam armerudernd zum Stehen, fuhr herum und packte Jarrett am Arm. »Wir müssen ins Haus! Oder in die Scheune! Los, los, los!«

Jarrett rannte, und obgleich er seine Arme nicht einsetzen konnte, weil er mit den Händen die Augen schützte, hatte er Quentin bald abgehängt. Über ihm sirrten die Drohnen und besprühten ihn. Die Haut an seinem ungeschützten Nacken fing schon zu jucken an. Jarrett warf einen hastigen Blick über die Schulter und sah, dass Quentin ebenfalls von Drohnen bespritzt wurde und der pflügende Panzer beständig aufholte.

»Keine Sorge, der kriegt mich nicht!«, rief Quentin, der alles andere als schlecht in Form war. Außerdem war es nicht mehr weit zum Haus und zur Scheune.

Doch plötzlich ging eine der Drohnen vor Quentin in den Sinkflug. Er schaffte es nicht rechtzeitig, die Hände hochzunehmen, und auch der Schirm seiner Baseballkappe schützte ihn nicht vor dem Beschuss von vorn. Schreiend fasste er sich an die verätzten Augen und während die Drohnen ihn aus allen Richtungen besprühten, walzte über den Feldweg der Panzer heran. Jarrett brüllte und endlich setzte sich Quentin wieder in Bewegung. Aber er taumelte nur noch vorwärts und geriet vom Weg in den angrenzenden Acker, wo er blindlings in eine Ackerfurche stolperte. Er ging zu Boden, seine Augen waren einen Moment lang ungeschützt und die Tanks der Drohnen noch längst nicht leer. Schreiend und wankend rappelte sich Quentin wieder auf. Doch im nächsten Moment walzte der Panzer über ihn hinweg und der Pflug grub seine eisernen Messer in ihn.

Jarretts Magen krampfte sich zusammen. Einen Moment lang glaubte er, erbrechen zu müssen, doch anscheinend überlegte es sich die zerkaute Goetta auf halber Strecke anders. Jarrett riss seinen Blick von Quentin Giddeys zerhacktem Körper los und zwang sich zu funktionieren. Zu rennen.

Es dauerte keine drei Sekunden, dann schwirrten sämtliche Drohnen über ihm, dem einzig verbliebenen lebendigen Ziel. Schon ging die erste Drohne in den Sinkflug und attackierte ihn von vorn, aber er versuchte erst gar nicht, sein Gesicht zu schützen, denn seine Arme mussten schwingen. Und sie schwangen, während er mit geschlossenen Augen weitersprintete, eskortiert vom sirrenden Regen der Drohnen.

Der Feldweg war ziemlich eben, aber er war keine Tartanbahn und Jarrett wusste, dass ein einziges Schlagloch reichen würde, um ihn aus dem Tritt zu bringen. Der Feldroboter wummerte immer lauter in seinem Nacken, aber als Jarrett vorsichtig blinzelte, sah er für einen Moment das Haus, weiß wie die Ziellinie im Stadion. Dann verschwamm es vor seinen fürchterlich brennenden Augen. Am liebsten hätte er geschrien, aber er hatte keine Luft dafür und durfte auch keine dafür verschwenden. Jarrett versuchte, wie auf der Tartanbahn zu denken, aber es klappte nicht, denn hier ging es nicht um einen neuen Rundenrekord, sondern um alles.

Das Rattern des Roboters und das Scharren der Pflugmesser schwollen an. Jarrett rannte, machte die Augen einen Spalt weit auf, sah die Stufen zur Veranda und spürte, wie das Pflanzenschutzmittel seine Bindehaut in Brand setzte. Zwei Stufen auf einmal, ein Sprung, ein Schlag nach den Drohnen, dann riss er keuchend Fliegentür und Verandatür auf und knallte sie hinter sich wieder zu, gerade noch rechtzeitig, bevor die vorderste Drohne hereindrängte. Wie durch einen Schleier sah er die Umrisse des Wohnraums, stürzte in die Küche und zum Waschbecken. Er schaufelte Wasser in die Augen, hielt sie direkt unter den Strahl, aber es nützte nicht viel – sie brannten wie Hölle.

Als er das Wasser abschaltete und sich umdrehte, machte er einen blau-roten Schemen auf der weißen Wohnzimmercouch aus.

»Lauren.« Er ging auf sie zu und das Hologramm, das noch immer über seinem linken Arm schwebte, bewegte sich mit ihm. Jarrett schluckte angesichts dessen, was er berichten musste. »Lauren. Die Maschinen draußen spielen alle verrückt! Und Quentin, er …«

Aber Lauren Giddey musste nicht mehr erfahren, dass ihr Mann von einem Feldroboter geplättet und wie ein Truthahn an Halloween tranchiert worden war. Aus ihrer Brust ragte der Holzschaft eines Barbecuespießes, der sie durchbohrt und an die Couch gespießt hatte.

Jarrett spürte, wie sich die zersetzte Goetta in seinem Magen rührte. Einen Moment lang hoffte er, dass Lauren nur verletzt war, aber ihre fehlende Reaktion, der leere Blick und das viele Blut ließen nur einen Schluss zu: Sie war so tot wie Quentin.

Durch ein offen stehendes Fenster drang das Sirren der Drohnen. Lediglich ein Fliegengitter hinderte sie am Eindringen und es war sicher ratsam, das Fenster rasch zu schließen. Doch Jarretts Gedanken formten sich nur langsam und ebenso langsam und mit wackligen Knien trat er von Lauren zurück. Ein neues Geräusch riss ihn aus seiner Lethargie. Der Haushaltsandroide der Giddeys rollte auf ihn zu. Seine vormals schwarzweißen Sensorenaugen leuchteten rot und mit einer seiner biegbaren Kunststoffhände hielt er einen weiteren Barbecuespieß. Paprika- und Zucchinischeiben steckten darauf, aber es gab noch reichlich Platz für menschliche Innereien.

Bones stieß den Spieß nach vorn, aber Jarrett sprang gerade noch rechtzeitig zurück. Sein Rücken krachte gegen die Kante des Esstischs. Er war zum Nachmittagskaffee gedeckt. Bones’ Arm schnellte vor, Jarrett wich geistesgegenwärtig zur Seite aus und der Barbecuespieß bohrte sich in den Himbeerkuchen. Der Androide zog ihn heraus und jetzt waren die Paprika- und Zucchinischeiben mit Himbeersahne überzogen.

Jarrett trat gegen den mit Kunststoff verkleideten Torso. Bones’ Oberkörper kippte vor und zurück, mehr bewirkte der Tritt nicht. Sofort setzte der Androide wieder zum Angriff an, doch Jarrett flüchtete auf die andere Seite des Esstischs.

Polternd krachte das Fliegengitter auf den Dielenboden. Durchs offene Fenster drang eine Drohne. Sie versprühte Pflanzenschutzmittel und hielt auf das Mädchen aus Deutschland zu, das unbemerkt von Jarrett die Treppe heruntergekommen war.

»Mach die Augen zu!«, brüllte er und stürmte um den Tisch herum.

Hannah reagierte nicht. Wie versteinert stand sie auf der untersten Stufe der Treppe, den Blick auf ihre an die Couch gespießte Verwandte geheftet.

Die Drohne besprühte Hannah. Sie schrie und schützte endlich ihr Gesicht, aber Jarrett packte eine ihrer Hände, zog sie von der Drohne weg und die Treppe herunter. Bones wollte schon wieder zustechen, doch Jarrett trat ihm seitlich gegen den Arm und zerrte Hannah hinter den Küchenschrank.

Durchs offene Fenster schwirrte eine weitere Drohne. Auch ihr Tank war noch nicht leer.

»Wir müssen hier weg!« Jarrett zog das unter Schock stehende Mädchen in den hinteren Teil des Hauses. Das Sirren in seinem Rücken ließ ihn hastig über die Schulter blicken. Die Drohnen flogen um den Küchenschrank herum. Unmittelbar unter ihnen rollte Bones. Von den Gemüsescheiben tropfte Sahne.

Jarrett zerrte das Mädchen durch den Flur. Links war die Tür zur Toilette, rechts eine Tür, die vielleicht in einen Abstellraum führte. In beiden Räumen würden sie in der Falle sitzen. Was blieb, war die Haustür. Er riss sie auf, bugsierte Hannah ins Freie und schlug die Tür hinter sich zu. Über seiner Uhr schwebte eingefroren das Hologramm.

»Schnell! Hier draußen ist ein Feldroboter, der … Ach, renn einfach!« Er zog sie mit sich, und als er glaubte, dass sie begriffen hatte und auch allein weiterrennen würde, ließ er los.

Hinter ihnen sirrte es. Bones hatte mit seiner freien Hand die Haustür geöffnet und die Drohnen nach draußen gelassen, wo sie ihre Geschwindigkeit wieder voll ausspielen konnten.

»Wenn sie vor uns sind, musst du die Augen zumachen und blind rennen!«

»Aber wohin?« Ihre roten Augen tränten. »Was ist hier eigentlich los?!«

Er hatte keine Zeit für Erklärungsversuche. Aber die Frage nach dem Wohin war eine verdammt gute. Jarrett schwang die Arme und auf einmal kam ihm die Antwort. Er hatte zwar nicht den blassesten Schimmer, warum die Maschinen auf dieser Farm auf einmal Menschen jagten. Aber es gab eine Maschine, die es nicht tat. Eine Maschine, die sich nicht selbst gesteuert fortbewegte, sondern gehorchen würde.

Die Drohnen hatten sie überholt und sprühten jetzt von vorn. Jarrett riss den Kopf herum und sah, dass Hannah nicht auf ihn gehört hatte. Sie rannte nicht mit geschlossenen Augen weiter, sie rannte überhaupt nicht. Er stürzte zu ihr, nahm ihre Hand und zog sie wieder mit sich. Er wusste, wo er hinmusste und wie er dorthin kam, ohne ihren Vorsprung auf den wummernden, mit den Messern scharrenden Feldroboter herzuschenken.

Er zog Hannah quer übers Feld, wo die Sojabohnen gegen seine Hosenbeine klatschten. Dem stärker werdenden Sprühregen nach zu schließen, waren die Drohnen wieder alle vereint. Hannah war nervtötend langsam. Am liebsten hätte er sie losgelassen und die Arme so geschwungen, wie er es gewohnt war. Aber sie brauchte ihn. Und wenn er sich selbst nicht noch mehr hassen wollte, brauchte er sie auch.

Endlich waren da keine Sojabohnen mehr, stattdessen knirschte Kies unter seinen Sohlen. Und unter denen von Hannah. Sie keuchte wie die Dampflok in den alten Harry-Potter-Filmen, die er sich mit Desmond und Jazmine zur Weihnachtszeit ansah. Vielleicht keuchte sie aber auch wie seine leibliche Mutter, wenn die einmal im Monat den Weg zu Bobbys Bruchbude im fünften Stock auf sich nahm.

Das Rattern und Kratzen hinter ihnen schwoll an. Hannah stolperte. Sie fiel nicht, weil er sie mit eisernem Griff davor bewahrte, aber für einen Moment verloren sie jegliches Tempo. Jarrett zerrte sie weiter und machte die Augen einen Spalt weit auf. Sofort schrien sie vor Schmerz, aber da war Little John, nur noch ein paar Fuß entfernt!

Jarrett setzte zum Endspurt an, riss die Tür zur Fahrerkabine auf und schob Hannah die Trittstufen hinauf. Der Panzer machte keine Anstalten, langsamer zu werden, und rauschte frontal in den Traktor. Hannah verlor das Gleichgewicht, Jarrett flog beinahe von der oberen Stufe, aber seine Finger krallten sich in das Gummi des Türrahmens.

Er schubste Hannah in die Kabine und schlug nach einer Drohne, die hinterherwollte. Einer ihrer Propeller riss ihm die Hand und den Unterarm auf, aber für einen Moment geriet die Drohne aus der Balance, und während sie schwankte, zwängte er sich in die Kabine und knallte die Tür zu.

»Du blutest.« Hannah keuchte noch immer, aber sie sprach.

»Ist nicht so schlimm.« Was schlimm war, war der lodernde Schmerz in seiner Bindehaut. Auch in Hannahs Augen war kein Weiß mehr.

Die Drohnen versprühten ihr Pflanzenschutzmittel jetzt auf die Scheiben. Die Türen schlossen gut, lediglich auf der Gummidichtung bildete sich ein kleines Rinnsal. Der Panzer ratterte noch immer, aber er schaffte es nicht, Little John vom Fleck zu schieben.

»Okay«, Jarrett atmete durch, »jetzt müssen wir nur noch hier weg.« Nur noch. Er setzte sich hinters Lenkrad und klappte Hannah den kleinen Sitz herunter, auf dem er selbst gesessen hatte, als Quentin gefahren war. Der Schlüssel steckte noch, aber da waren eine Menge Hebel und er hatte nicht aufgepasst, welche Quentin benutzt hatte.

Hannah stöhnte auf. Jarrett blickte durch die besprühte Windschutzscheibe und sah den Haushaltsandroiden auf Little John zurollen. In seiner Hand steckte noch immer der Spieß.

»Er hat keine Beine. Er kommt hier nicht hoch«, murmelte Jarrett und widmete sich wieder den Hebeln. Hatte Quentin sie überhaupt benutzt?

Drauf geschissen. Er wischte die blutige Hand am Sitz ab und drehte den Zündschlüssel herum. Den hatte Quentin definitiv benutzt und Little John machte auch einen Satz vorwärts, aber dann stand er wieder und der Motor war aus. Bones rollte neben den Panzer hin. Es sah aus, als wären sie alte Kumpels.

»Was, wenn er in die Reifen sticht?«

Jarrett antwortete nicht. Irgendwas hatte er übersehen, aber er glaubte nicht, dass es die Hebel waren. Er blickte sich in der Kabine um. Da waren mehrere Pedale, die er mit den Füßen erreichen konnte. Doch welches sollte er drücken? Er hatte keine Ahnung, aber warum nicht zwei auf einmal? Er drehte den Zündschlüssel und trat die Pedale durch. Diesmal bewegte sich Little John nicht von der Stelle. Aber der Motor war an. Irgendetwas hatte er richtig gemacht. Nur nicht genug.

»Und wenn der Android in die Reifen sticht!?« Hannahs Stimme klang schrill in seinen Ohren.

Jarrett reagierte nicht. Er versuchte, sich die Fahrt mit Quentin ins Gedächtnis zu rufen. Der Farmer hatte viel geredet, aber was hatten seine Hände und Füße getan?

»Scheiße, jetzt sticht er!«

Jarrett blickte auf und durch die Glasscheibe. Tatsächlich, Bones stach zu. Aber er traf keinen Reifen, sondern eine Felge. Das Aufeinanderprallen von Stahl auf Stahl war selbst durch die Kakophonie aus Rattern, Kratzen und Sirren zu hören.

»Warum fährst du nicht los?!« Hannah starrte ihn mit feuerroten, vor Angst geweiteten Augen an.

»Ich weiß nicht, wie! Ich bin noch nie gefahren! Kein Mensch fährt mehr selbst! Und hör auf, davon zu reden, dass der Android gleich in den …« Er brach gerade noch rechtzeitig ab. »Das Ding hat eine beschissene künstliche Intelligenz! Es kann nicht nur hören, es kann auch denken! Wir haben nur Glück, dass es ein einfaches Modell ist. Und dass es nicht zu seiner Routine gehört, mit einem Spie… Ach, verdammt!« Er schlug gegen das Lenkrad, das Hologramm über seinem Arm erzitterte und Little John machte einen Satz vorwärts.

Für einen Moment glaubte er, dass es an seinem Schlag lag. Dann begriff er, dass er vor Wut die Pedale nicht mehr durchgedrückt hatte. Die Pedale … Da waren drei, nicht zwei.

Während Bones auf die Felge einstach, drehte Jarrett den Zündschlüssel und trat auf zwei andere Pedale. Der Motor sprang wieder an und Little John ein weiteres Mal vorwärts. Doch diesmal kam er nicht zum Stehen.

»Wir fahren! Scheiße, wir fahren!« Er sah zu dem Mädchen, das er eben noch angeschrien hatte, doch jetzt entfuhr ihm ein anderer, gänzlich unerwarteter Laut. Jarrett lachte. Es war ein trockenes, krächzendes Lachen – aber verdammt noch mal, es fühlte sich gut an!