Hannah
Ich lachte nicht. Ich lächelte nicht einmal, ich starrte ihn nur an.
»Wir nehmen die Abkürzung übers Feld«, verkündete Jarrett und drehte am Lenkrad. »Weg von hier, zurück zur Straße.«
Es holperte ein bisschen, als er den Traktor durch die kleinen grünen Pflanzen lenkte. Ich drehte mich um und sah, dass Bones wieder rollte, aber rasch zurückfiel. Auch der Feldroboter schien langsamer als der Traktor zu sein, blieb uns jedoch auf den Fersen. Die Drohnen konnten unser Tempo mühelos halten, aber wir hatten die Scheiben als Schutz und im Gegensatz zu uns besaßen die Scheiben keine Bindehäute.
Meine brannten höllisch und die von Jarrett womöglich noch höllischer. Doch die Tatsache, dass er es geschafft hatte, den Traktor zum Fahren zu bringen, schien ihn für den Moment immun gegen Schmerz zu machen. Ich gönnte es ihm, schließlich brachte er uns hier fort, weg von diesen durchgedrehten Maschinen, und die Betonung lag auf uns: Er hatte mich mitgenommen. Obwohl ich ihn nur behindert hatte.
Ich wollte ihn fragen, warum. Aber die Stimme in meinem Kopf ließ mich nicht zu Wort kommen.
Warum er dich mitgenommen hat? Ehrlich? Ist das denn nicht offensichtlich? Na, weil er dich toll findet, schon von der ersten Sekunde an! Und als er dich dann schwitzen und sabbern gesehen hat, war es endgültig um ihn geschehen. Gewöhnliche hilflose Mädchen hätte er einfach bei den Killerrobotern zurückgelassen, aber dich – dich will er, Hannah!
Also fragte ich nicht, weshalb er mich mitgenommen hatte. Er hätte jede und jeden mitgenommen, das hatte mir meine innere, äußerst sarkastische Stimme eindrucksvoll klargemacht. Und überhaupt: Wieso dachte ich wieder nur an mich, wo doch gerade eine junge Frau gestorben war, die irgendwie sogar mit mir verwandt war? Und, noch überhaupter: Was war eigentlich mit Laurens Mann?
»Ist Quentin auch …?«
Erleichterung, Freude, Stolz – was immer Jarrett angesichts unserer geglückten Flucht empfunden haben mochte: Meine Frage wischte alles weg. Er nickte, dann sagte er leise: »Der Feldroboter hat ihn überfahren.«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich wusste nicht einmal, was ich fühlen sollte. Lauren hatte mich herzlich empfangen und einen netten Eindruck gemacht. Quentin hatte ich nur von einem Videotelefonat gekannt. Die Tatsache, dass sie beide tot waren, und das so plötzlich, schockierte mich. Ebenso wie die Art und Weise. Ich fragte mich, was mit Bones und den anderen Maschinen nicht stimmte, und gleichzeitig war ich mir sicher, dass ich nie, nie wieder Barbecue essen würde. Und wahrscheinlich auch nie wieder Himbeerkuchen. Aber ich war nicht wirklich traurig oder so was. Ich war eher verstört.
Ich blickte nach hinten und erkannte, dass unser Vorsprung auf den Feldroboter größer geworden und Bones kaum noch zu erkennen war. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, setzte ich mich auf den kleinen Klappsitz und sah zu, wie Jarrett den Traktor durchs Feld und dann auf einen asphaltierten Weg lenkte. Nach einer Weile erkannte ich, dass es derselbe war, auf dem der SUV uns zur Farm gebracht hatte. Jetzt fuhren wir in die entgegengesetzte Richtung.
Jarrett wischte das Blut an seiner Hand und auf seinem Arm ein weiteres Mal am Sitz ab. Er trug dieselbe Hose wie auf der Hinfahrt, aber ein anderes T-Shirt. Das neue war so gelb wie das Fliegenpapier, das sich vom Rückspiegel kringelte. Ein großer Brummer und drei kleinere Fliegen klebten daran.
Jarretts unverletzte Hand war nicht rot, im Gegensatz zu meinen Händen und Armen, auf denen sich deutliche Anzeichen von Ausschlag zeigten.
Über Jarretts Smartwatch schwebte noch immer das seltsame Hologramm.
With God
All Things
Are Possible
(Mt. 19,26)
Die gleichen Worte standen auf dem Display meiner warmen, nicht reagierenden Smartwatch. Und auch meinen heimlichen Trip ins Metaverse hatten diese Worte jäh beendet, gerade als Marisa mich auf der Ausstellung mit einem der jungen Künstler hatte bekannt machen wollen. Die Anzeige war plötzlich auf Mixed Reality gewechselt und das Einzige, was sich noch über das Gästezimmer der Giddeys gelegt hatte, war dieser Spruch gewesen. Er war nicht mehr verschwunden, egal, was ich gesagt oder gedrückt hatte.
»Hast du eine Ahnung, was die Worte bedeuten?« Schüchtern deutete ich auf Jarretts Hologramm.
»Mit Gott sind alle Dinge möglich – das ist das Motto unseres Bundesstaats«, antwortete er. »Ich war mit Quentin auf dem Traktor, hatte ihm gerade meine Ferienarbeitserlaubnis gezeigt. Dann kamen diese Worte.« Er drehte den Arm ein bisschen und das Hologramm drehte sich mit. »Und sie gehen nicht mehr weg.«
Ferienarbeit. Die Frage, was Jarrett auf der Farm und im SUV der Giddeys verloren hatte, war damit beantwortet. Blieb die weitaus wichtigere Frage, warum unsere Uhren nur noch das Motto des Bundesstaats Ohio anzeigten. Ich dachte darüber nach, aber in meinem Kopf machte es einfach nicht klick.
»Was ist mit den Buchstaben und Zahlen in den Klammern?«
»Ich weiß es nicht. Falls sie uns das in Geschichte beigebracht haben, habe ich wohl gerade nicht aufgepasst. Außerdem hasse ich dieses Motto.«
Überrascht sah ich von meiner Uhr auf. »Warum?«
»Egal«, antwortete Jarrett nur, den Blick auf den Weg gerichtet.
Ich fragte nicht weiter nach und versuchte all das, was über mich hereingebrochen war, zu verarbeiten. Dass der Sprühregen der Drohnen aufgehört hatte, merkte ich erst, als Jarrett mich darauf hinwies.
»Endlich sind die Tanks leer. 18,1 Liter«, seufzte er.
Obwohl sie nichts mehr zu spritzen hatten, flogen die Drohnen weiter neben uns her. Der Feldroboter war mittlerweile deutlich zurückgefallen, die Gebäude der Farm waren gar nicht mehr zu erkennen. Ich musste an Lauren und Quentin denken.
»Wir müssen zur Polizei«, sagte ich. »Oder zu jemandem, der die Polizei ruft.«
»Ja«, sagte Jarrett.
Einfach nur ja. Ich hätte mir eine ausführlichere Antwort, eine Art Plan und irgendwie auch so was wie Trost gewünscht, aber ich bekam nur ein Ja.
Die Sicht durch die Windschutzscheibe war klar, jetzt, da sie nicht mehr besprüht wurde, und ich erkannte, dass wir uns der Straße mit dem zweifachen gelben Mittelstreifen näherten. Ich wusste nicht, wohin wir uns dort halten mussten, aber ich war mir sicher, dass Jarrett es wusste.
Ohne dass irgendetwas vorgefallen war, drehten die Drohnen auf einmal ab und flogen zurück in Richtung Farm.
»Sie können nur 72 Minuten in der Luft bleiben«, sagte Jarrett. »Schätze, die sind gleich um.« Er blickte auf das Hologramm über seinem Arm und dann auf seine Smartwatch, aber wie meine zeigte sie die Zeit nicht mehr an. Nur die Worte, aus denen ich nicht schlau wurde.
Ich überlegte, ob die Drohnen sich jetzt aufladen und danach wieder hinter uns herfliegen würden oder ob ihr abnormes Verhalten vorbei sein würde, sobald sie sich mit der Dockingstation verbanden. Aber im Grunde spielte es keine Rolle. Bis die Drohnen wieder aufgeladen waren, würden sie uns nicht mehr orten können.
Die Straße war jetzt nah und ich konnte zwei Autos sehen, die in entgegengesetzte Richtungen fuhren. Hören konnte ich sie nicht, denn der Traktor tuckerte, wohingegen die Autos natürlich Elektromotoren besaßen. Sie fuhren schnell, im Vergleich zu unserem Traktor geradezu irrsinnig schnell, und kurz bevor sie aneinander vorbeischossen, fuhren sie auf den gelben Mittelstreifen und krachten frontal ineinander.
Ich schrie. Keine Ahnung, ob Jarrett auch schrie, aber der Traktor machte einen Satz nach vorne und blieb dann stehen. Die Autos waren grotesk deformiert.
»Meinst du, da ist jemand drin?« Jarretts Stimme drang wie aus weiter Ferne zu mir.
Ich konnte es nicht erkennen, die Fahrgastkabinen waren zusammengepresst und verzogen. Die Autos sahen kaum noch wie Autos aus. Wie sollte es da erst um Menschen bestellt sein?
Trotzdem nickte ich, als Jarrett meinte, wir sollten nachsehen gehen. Als ich ausstieg und auf die Straße lief, fühlten sich meine Beine wie Pudding an. Unter einem der ineinandergekrachten Autos glühte plötzlich etwas. Keine zwei Sekunden später brannte das ganze Auto.
Wie angewurzelt stand ich da und starrte auf die Flammen, die nun auf das zweite Auto übergriffen. Ich lauschte auch, aber das, wovor ich Angst hatte, blieb aus: Niemand schrie. Falls sich jemand in diesen Überresten befand, war er oder sie schon tot.
Oder hatte keine Stimme mehr, um zu schreien.
Ich verdrängte diesen Gedanken und sah zu Jarrett. Der Adamsapfel an seinem Hals bewegte sich, dann nickte er stumm in Richtung Traktor. Ich folgte ihm und wir stiegen wieder ein, jeder an seiner Seite.
Der Feldroboter rückte uns erneut auf die Pelle, aber Jarrett wusste noch, was er tun musste, um den Motor in Gang zu bringen. Der Traktor machte einen kleinen Satz und wir fuhren vom Feldweg nach links auf die Straße ein. Rechts brannten die Autos.
»Sie sind mitten auf der Straße ineinandergekracht«, sagte Jarrett, vermutlich mehr zu sich selbst als zu mir. »So als hätten sie es darauf angelegt.«
»Ja«, sagte ich. Einfach nur Ja.
Meine Gedanken fuhren Karussell. Immer wieder stellte ich mir dieselben Fragen: Wieso zeigten unsere Uhren nur noch Ohios Staatsmotto an? Weshalb gingen die Farmroboter auf Menschen los? Und warum krachten selbstfahrende Autos ungebremst ineinander?
Wie hing das alles zusammen? Ich brannte darauf, mit jemandem darüber zu sprechen, aber mit Jarrett konnte ich es irgendwie nicht. Er sprach selbst nicht viel, jedenfalls nicht mit mir, dem Zombie und Lahmarsch, und ich konnte mich nicht dazu überwinden, den Anfang zu machen. Ich war zu schüchtern, zu unsicher und er so schwer zu deuten.
Also schwieg ich, folgte mit den Augen dem Auf und Ab des Stromkabels am Straßenrand und ließ meine Gedanken Karussell fahren. Oder eher Geisterbahn.
Außer uns und dem wieder zurückfallenden Feldroboter war nichts und niemand unterwegs. Und auch zu beiden Seiten der Straße deutete außer den Stromkabeln nichts auf Zivilisation hin. Da waren nur Wiesen und vor allem Wälder und mir fiel ein, dass der Bordcomputer des SUVs diese Gegend als die am dünnsten besiedelte in ganz Ohio bezeichnet hatte. Vielleicht war die nächste Polizeistation doch nicht so nah, wie ich geglaubt hatte.
Das Gelände war hügelig, und als wir eine bewaldete Anhöhe hinauffuhren, wurde der Traktor noch langsamer. Die Bäume wuchsen hier gleich neben dem Asphalt und ein paar der Äste hingen so weit und tief über die Straße, dass ich die schützenden Scheiben und das Dach über uns vergaß und instinktiv den Kopf einzog. Jarrett bemerkte es und sah mich von der Seite an. Meine Wangen wurden heiß und ich suchte fieberhaft nach etwas, was ich sagen konnte, um von meinem peinlichen Reflex abzulenken. Ein Schild am Straßenrand rettete mich. Es hatte eine ziemlich ungewöhnliche Form und zeigte nur eine Zahl. 35.
»Wofür steht die Zahl?«, brachte ich geradeso heraus.
»U. S. Route 35. Der Highway.« Jarrett schaute kurz auf meinen nervösen Daumen und dann wieder auf die Straße.
Ich wusste nicht, ob er in der Lage gewesen wäre, den Traktor anzuhalten und dann wieder neu anzufahren, aber es war nicht nötig. Er musste nicht bremsen, er fuhr einfach auf den Highway, der, soweit ich sehen konnte, uns gehörte. In jeder Richtung gab es zwei Fahrspuren, dazwischen einen breiten Streifen gemähtes Gras. Links und rechts der Straße hielten Seitenbegrenzungen die immer noch allgegenwärtigen Büsche und Bäume zurück. Nach einem flachen Stück bei der Auffahrt ging es in einer lang gezogenen Kurve bergauf. Nirgendwo waren Fahrzeuge.
»Quentin nennt den Traktor Little John. Hat ihn Little John genannt«, korrigierte sich Jarrett und drückte seinen Sneaker gegen eines der Pedale. Der Anstieg war ein bisschen viel für Little John.
Ich blickte nach hinten und hielt Ausschau nach dem Feldroboter, aber wegen der Kurve und der Bäume konnte ich nicht weit zurückschauen. Also drehte mich wieder um und sah zu, wie wir im Schneckentempo auf die Bergkuppe zuzuckelten.
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Veränderung von Jarretts Hologramm wahr. Da waren mehrere neue Zeilen. Ich blickte auf meine Smartwatch, deren Display das Gleiche anzeigte:
With God
All Things
Are Possible
(Mt. 19,26)
With God
There’s No Need
For Technology
Mit Gott gibt es keinen Grund für Technik – ich wälzte die Worte im Kopf herum und sah zu Jarrett. Er hatte die neuen Zeilen ebenfalls bemerkt, denn er guckte ebenso irritiert wie ich.
Und dann, ehe einer von uns etwas sagte, sahen wir den Rauch. Wir erreichten die Kuppe der bewaldeten Anhöhe, der Traktor nahm wieder Tempo auf und wir bekamen freie Sicht auf den Highway, der sich als graugrünes Band ins Tal wand. Überall, auf dem Asphalt, vor allem aber auf dem begrünten Mittelstreifen, brannte und rauchte es. Mal waren zwei Autos zusammengekracht, mal ein halbes Dutzend. Plus mehrere Lastwagen. Manche der Fahrzeuge waren bis zur Unkenntlichkeit ineinander verkeilt, von anderen waren nur noch verzogene, verrußte Stahlgerippe übrig.
Wohin ich auch blickte, überall waren Rauchsäulen und Karambolagen. Ich blinzelte, wieder und wieder, aber das Band der Apokalypse, das sich vor meinen Augen entrollt hatte, wollte sich partout nicht wieder zusammenknäueln.