Hannah
An den ersten Crashs fuhren wir vorbei – wir auf unserem Traktor, der so alt war, dass er noch nicht eigenständig fahren konnte. Ein benzinbetriebenes Relikt inmitten von deformierter, brennender Technik.
With God There’s No Need For Technology. In meinem Kopf machte es ganz leise klick. Ich wusste nicht, was Gott damit zu tun hatte, und schon gar nicht, wie und warum das alles passierte, aber eines schien sicher: Das hier war keine örtliche Fehlfunktion. Kein Virus, der ausschließlich die Maschinen einer Farm und des engeren Umlands befallen hatte. Das hier betraf … Tja, wen oder was betraf es? Den Süden Ohios? Den Bundesstaat? Sämtliche Maschinen in den USA, softwarelose Relikte wie Little John ausgenommen?
»Meinst du, das passiert überall?«
»Ich weiß es nicht.« Jarrett steuerte den Traktor an einer weiteren Unfallstelle vorbei. Selbst in unserer Kabine stank es mittlerweile nach Rauch.
Ich schaute auf die brennenden Wracks. Wie viele Menschen mochten hier gestorben sein?
»Es ist wohl besser, wenn wir uns erst einmal von Highways fernhalten. Und … vielleicht auch von Städten.«
»Ja«, sagte ich und sah in Jarretts entzündete rote Augen, »wahrscheinlich.«
Er atmete laut aus und riss das Lenkrad herum. Wir waren im Tal angekommen, der Highway durchschnitt nicht länger den Wald. Es gab keine Schutzplanken mehr und Jarrett lenkte den Traktor über eine niedrige Böschung in die nächste Wiese. Vielleicht war es auch eine Steppe, keine Ahnung, Geografie interessierte mich nicht besonders. Jedenfalls waren die Halme ziemlich gelb und lang, und keiner von denen, die Little John platt rollte, richtete sich danach wieder auf.
Ich hörte auf, nach Fahrzeugen zu suchen, die uns verfolgten. In diesem Teil von Ohio schien es im Augenblick keine fahrtüchtigen Autos mehr zu geben und auch der Feldroboter der Giddeys war nirgendwo zu sehen. Vielleicht hatte er uns nicht mehr orten können und war auf dem Highway geblieben. Vielleicht war er auch umgekehrt, weil sein Akku eine Aufladung brauchte. Egal, Hauptsache, wir hatten das Feld für uns.
Mein Kopfkino kam etwas zur Ruhe, jetzt, da ich nicht mehr mit ineinandergerauschten Autos konfrontiert wurde. Dafür wurde ich mir wieder meiner brennenden Augen bewusst und mittlerweile juckten auch meine Arme. Tausende von Härchen und jetzt auch noch rote Pusteln. Obendrein schwitzte ich. Die Sonne brannte durch die Scheiben des Traktors und meine schwarze Jeans schien sie wie ein Brennglas anzuziehen.
»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte ich vorsichtig.
»Ich weiß nicht. Am besten irgendwohin, wo Menschen, aber keine Maschinen sind.«
»Und das heißt?«
»Keine Ahnung, was das heißt. Es gibt überall Maschinen, das ist ja das Problem.«
»Und was sollen wir dann tun?«
»Woher soll ich das wissen?! Ich kenne weder diese Gegend, noch hab ich mehr Plan als du! Niemand hat mir Bescheid gesagt, dass die Welt untergeht!«
Es war erst das zweite Mal, dass Jarrett die Fassung verlor. Eigentlich ein Wunder in Anbetracht unserer Situation, aber an der lag es diesmal nicht. Es lag an meinen hilflosen, dummen Fragen. Ich schluckte und schwieg. Und wie aus Mitleid fing auch Little John zu schlucken an. Er ruckelte und klang irgendwie komisch.
Jarrett drückte das Pedal durch, aber das änderte nichts. Er beugte sich vor und suchte mit den Augen das Armaturenbrett ab. Es war noch analog und schließlich fand er wohl so etwas wie eine Tankanzeige, denn er sagte: »Ich glaube, das Benzin ist alle.« Seine Stimme war wieder ruhig. Trotz dieser beschissenen Neuigkeit.
Little Johns vorsintflutlicher Motor bekam immer noch mehr Schluckauf und schließlich ging er ganz aus.
Und was jetzt?, hätte ich am liebsten gesagt, verkniff es mir aber. Ich war auf Jarrett angewiesen, doch er nicht auf mich. Ich durfte mich nicht wie eine Klette an ihn hängen. Und auch wenn es mir schwerfiel: Ich musste selbst ein wenig Initiative zeigen. Vorschläge unterbreiten. Und nicht immer nur Fragen stellen, auf die auch Jarrett keine Antwort hatte.
Also versuchte ich es mit einem konkreten Vorschlag. Na ja, eigentlich war es eher eine Frage. Aber zumindest eine, die Jarrett beantworten konnte. »Steigen wir aus?«
»Klar, was sonst?«, sagte er, öffnete die Tür und sprang ins Gras. Ich stieg über die kleinen Trittstufen nach unten. Von der Seite knallte mir die Sonne ins Gesicht, weshalb ich die Augen mit meinen von Pusteln überzogenen Händen abschirmte. Dann sah ich mich um. Der Highway duckte sich hinter die hohen gelbblonden Halme, aber am Himmel konnte ich noch Rauchsäulen erkennen. In der anderen Richtung war ein Wald auszumachen. Scheunen oder Häuser entdeckte ich keine und ich wusste nicht, ob ich deswegen enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Vorläufig entschied ich mich für Letzteres.
Jarrett kam um den Traktor herum. »Sollen wir uns Richtung Wald halten?«
Ich überlegte. Für den Wald sprach, dass es dort wohl nichts anderes geben würde als Bäume, Büsche und so weiter. Ich war alles andere als ein Naturfreund, aber wie es schien, wurde Natur fürs Erste zu einer Art notwendigem Übel – was nicht leicht zu verkraften war für einen Zombie wie mich. Aber ich konnte mich nicht ins Metaverse beamen. Und hierbleiben konnten wir auch nicht. Irgendwohin mussten wir.
»Okay«, sagte ich, »gehen wir in Richtung Wald.«
Jarrett blickte zu Little John und ich hatte das Gefühl, dass er sich in Gedanken verabschiedete. Ich überlegte, ob ich ebenfalls ein paar stumme Worte an unser Fluchtfahrzeug richten sollte, aber mit einem Traktor zu sprechen, und sei es nur in Gedanken, war mir dann doch zu heftig. Außerdem hatte ich mich noch nicht einmal bei Jarrett dafür bedankt, dass er mich aus dem Haus gezogen und mitgenommen hatte. Wenn, dann sollte ich damit anfangen. Aber ich redete mir ein, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, und verschob es auf später. Ich wusste, dass ich mir etwas vormachte, aber so war ich nun mal. Ziemlich erbärmlich.
Jarrett ging voraus. Unter seinen schwarzen Sneakers teilte sich das Meer aus gelbblonden Halmen. Ich ging hinterher und es dauerte nicht lange, dann atmete ich schwer. Ich konnte zwar stundenlang stehen, wenn ich Controller in den Händen und eine Brille vor der Nase hatte, aber laufen, und dann noch durch die Natur, war etwas anderes. Ich war untrainiert, hatte null Kondition und schließlich hörte Jarrett mich keuchen. Überrascht drehte er sich um. Es war nicht das erste Mal, dass er mich keuchen hörte, aber diesmal floh ich nicht vor einem durchgeknallten Roboter, sondern spazierte durch eine Wiese-Schrägstrich-Steppe.
Danach versuchte ich, leiser zu keuchen. Und unterdrückte den Impuls, mich wie ein kleines Kind über Seitenstechen und Durst zu beklagen.
Als wir den Wald erreichten, wurden wir zumindest die knallende Sonne los. Unter den Bäumen war es angenehm kühl und die Luft nicht mehr so schwer und drückend. Doch es gab keinen Weg und wir mussten über Wurzeln steigen, Büsche umgehen und Zweigen ausweichen. Die meisten hatten Blätter, manche Nadeln und ich nicht die geringste Ahnung, wie sie hießen. Ich konnte noch nicht einmal sagen, ob es dieselben Bäume auch in Deutschland gab.
»Gott, ich muss zehn gewesen sein, als ich das letzte Mal im Wald war«, stöhnte ich und vergaß vorübergehend, dass ich mir aus eigenem Interesse verbale Zurückhaltung auferlegt hatte. Die ganze Situation war einfach zu bizarr.
»Ich war zehn, als ich das erste Mal im Wald war.«
»Was?!« Ich konnte es nicht glauben. »Haben deine Eltern dich vorher nie zu Sonntagsspaziergängen oder Ausflügen verdammt?«
»Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Und meine Mutter hat immerzu Löcher in die Luft gestarrt. Zum ersten Mal im Wald war ich mit meinen Pflegeeltern. Meinen zweiten Pflegeeltern.«
Seine zweiten Pflegeeltern. Fuck, hätte ich bloß nicht gefragt.
Danach sagte ich kein Wort mehr, schämte mich und dachte über Jarrett nach. Schon als ich am Flughafen die Autotür geöffnet hatte, hatten mich seine Augen in ihren Bann gezogen: sein ernster, melancholischer und irgendwie auch erwachsener Blick. Das wenige, was ich gerade von ihm erfahren hatte, reichte, um diesen Blick zu erklären. Kein Vater, nicht genug Mutter, mehrere Pflegefamilien – das klang nach allem, nur nicht nach einer unbeschwerten Kindheit.
Durch die Baumwipfel brach ein wenig Sonnenlicht und sprenkelte den Waldboden mit hellen Tupfen. Irgendwann stießen wir auf einen Weg, was gemischte Gefühle in mir hervorrief. Einerseits freute ich mich, dass wir uns nicht länger durchs Dickicht schlagen mussten. Andererseits hatten wir mit Straßen nicht gerade gute Erfahrungen gemacht und dieser Weg hier war befahren worden – in der Erde waren Reifenspuren. Allerdings sahen sie nicht gerade frisch aus und das Dickicht war auf Dauer auch keine Lösung.
Da der Weg breit genug für ein Auto war, konnten zwei Menschen nebeneinanderlaufen, ohne sich zu berühren. Ich ging also neben Jarrett, aber nun konnte ich nicht länger unbemerkt meine stechende Seite halten, und laut zu schnaufen traute ich mich auch nicht mehr. Mir war bewusst, dass wir noch keine große Strecke zurückgelegt hatten, aber das änderte nichts daran, dass meine Beine und mein Kopf müde waren. Nachtflug, Jetlag, Apokalypse – scheiße, ich hatte ein Recht darauf, müde zu sein.
Mit jedem Schritt hoffte ich mehr, dass wir am Ende des Weges nicht einfach nur Natur vorfinden würden. Ich fantasierte mir so etwas wie eine Jagdhütte herbei, inklusive einem funktionierenden Telefon, Leitungswasser und einem weichen Bett. Einen Moment lang reichte meine Fantasie sogar für Strom und eine auf dem Nachttisch bereitliegende VR-Brille. Aber dann sah ich wieder Jarretts Hologramm und das eingefrorene Display meiner Uhr und begnügte mich gedanklich mit Getränken und einem Bett.
Neben der linken Fahrrinne des Weges lag eine alte Zigarettenschachtel auf dem Boden. Ich hätte sie nicht weiter beachtet, aber Jarrett beachtete sie und so warf ich ebenfalls einen längeren Blick auf sie. Newport hieß die Marke, und wie ich an den weniger ausgebleichten Seiten erkannte, war die Schachtel ursprünglich wohl türkis gewesen. Sie sah nach Mentholzigaretten aus, aber das machte sie für meine Begriffe nicht interessanter. Jarrett jedoch starrte sie aus irgendeinem Grund an.
Doch was dumme Fragen anging, hatte ich meine Lektion gelernt, und da er von sich aus nichts sagte, gingen wir schweigend weiter. Jarrett, mein Seitenstechen und ich.
Der Weg führte uns auf eine Lichtung, die in der Mitte von einer Reihe von Nadelbäumen unterteilt war. Nicht weit von der Baumreihe stand ein mobiler Container. Wahrscheinlich ein Arbeitscontainer, denn da war nur ein kleines Fenster und aus der Wand führten zwei Kabel. Eines ging zu einer Vorrichtung nahe der Nadelbäume, das andere zu mehreren auf dem Waldboden aufgestellten Solarzellen.
Die Containertür war nicht verschlossen. Im Inneren befanden sich eine schmale Bank und ein Tisch, auf dem ein Ventilator, ein Aschenbecher und eine leere Wasserflasche der Marke Deer Park standen. An der Wand, durch die die Kabel führten, war eine ziemlich große Solarbatterie angebracht. Es gab auch eine Steckdose, aber keine Brille, kein Bett und keine kühlen Getränke. Ernüchtert und erschöpft ließ ich mich auf die Bank fallen. Mein Mund war wie ausgedörrt, mein Daumen zu träge für Kreise.
Im Container war es stickig und heißer als draußen. Der Ventilator funktionierte, aber der Effekt war bescheiden. Also öffnete ich auch noch das kleine Fenster neben mir. Ein Fliegengitter kam zum Vorschein, doch an dem konnte es nicht liegen, dass sich die frische Luft von draußen nicht mit der im Container vermischte.
Ich rutschte zum Rand der Bank, damit auch Jarrett sich setzen konnte, aber er blieb neben dem Tisch stehen und schaute gedankenverloren auf die Kippen im Aschenbecher. Ich beugte mich vor, um die türkise Schrift oberhalb des Filters zu entziffern. Newport stand da, genau wie auf der Schachtel am Wegesrand.
Jarrett nahm den Blick von den Kippen. »Brauchst du eine Pause?«
Ich wusste, dass wir weitermussten. Aber ich wusste auch, dass wir vermutlich noch eine ganze Weile laufen würden, bis wir einen besser geeigneten Ort für die Nacht finden würden. Eine Pause war das Mindeste, was ich brauchte. Also bejahte ich Jarretts Frage, obwohl es mir megapeinlich war.
»Okay«, sagte er, »bleib hier und ruh dich ein wenig aus. Ich sehe mich solange um.«
Und weg war er. Kurz fragte ich mich, ob er zu aufgekratzt für eine Pause war oder ob er nur nicht dicht neben mir sitzen wollte, aber ich zermarterte mir nicht gerade das Hirn deswegen. Und auch die Apokalypse schaffte es nicht, meine Gedanken zu entern. Stattdessen saß ich einfach nur da und sah dem Ventilator bei seinen Schwenkbewegungen zu. Nach einer Weile lehnte ich mich nach vorn, legte den Kopf auf die Arme und dämmerte vor mich hin. Ein schrilles, schrecklich lautes Geräusch machte diesem Zustand ein jähes Ende. Neben meinem Kopf, Zentimeter von meiner Schläfe entfernt, rotierte ein Sägeblatt.
Ich erschrak so sehr, dass ich glaubte, mein Herz würde einfach stehen bleiben. Es schlug weiter, ich sprang auf und statt durch meinen Kopf, fuhr das Sägeblatt durch den Ventilator – knirschend, aber mühelos wie ein Messer durch Margarine.
Das Sägeblatt war an einer Art metallenem Arm befestigt, der über mehrere Gelenke und am Ende über Greifvorrichtungen verfügte. Durch das offene Fenster und das zersägte Fliegengitter schob sich der Arm in den Container.
Ich wich zurück, aber das Ding verfolgte mich. Durch den Krach hörte ich leise, wie jemand meinen Namen rief. Ohne zu wissen, was mich dort erwartete, stürzte ich ins Freie.
Das Erste, was ich sah, war Jarrett, der durch das Dickicht auf die Lichtung zurannte und gleichzeitig versuchte, seinen Gürtel zuzumachen. Der Krach stammte von Maschinen, denen aus Kugelgelenken lange Arme wuchsen. Am Ende der Arme waren metallene Greifvorrichtungen, die sich wie Hände um Baumstämme schlossen, so dass sich die Maschinen wie Affen von Baum zu Baum schwangen.
Ich nahm an, dass es Forstroboter waren, die autonom Bäume fällten, denn ihre frei beweglichen Metallarme waren wie Schienen für die Sägeblätter, die an ihnen entlangfuhren, zur Seite kippten und … sägten. Durch die Containerwand zum Beispiel, was meine Ohren zum Schreien brachte und mich weiter auf die Lichtung zurückweichen ließ. Neben mir tauchte Jarrett auf. Er hatte es endlich geschafft, seinen Gürtel zuzumachen.
»Deshalb haben sie mitten auf der Lichtung diese Baumreihe stehen lassen!«
Ich hatte es mir auch schon gedacht. Die mit Strom aus der Solarbatterie versorgte Vorrichtung auf dem Boden war offenbar eine Dockingstation, an der sich die Forstroboter abends aufluden. Doch sie konnten nicht laufen und die Station nur erreichen, indem sie sich von Baum zu Baum schwangen. Deshalb war die Lichtung nicht komplett gerodet.
Der Roboter, der uns am nächsten war, hielt sich mit einem Arm am Stamm fest, der andere glitt durch die Luft. Sein Sägeblatt rotierte vor unseren Nasen. Wir waren außer Reichweite, aber andere Metallaffen schwangen sich schon über die einsame Nadelbaumreihe auf den Rand der Lichtung zu. Sie wollten uns von beiden Seiten in die Mangel nehmen und die freie Fläche war nicht groß genug, um Sägeblättern von vorne und hinten auszuweichen.
»Wird Zeit, dass wir verschwinden!« Jarrett schrie, um den Krach zu übertönen.
Der Weg, der uns hergebracht hatte, endete auf der Lichtung. Ich wollte nicht wieder zurück. Und Jarrett offenbar auch nicht.
»Da lang?« Er deutete in Richtung Dickicht.
Ich nickte und wir rannten aus der Lichtung. Hinter uns kreischten die Sägen der metallenen Affen.