Dächlein deck dich

Jarrett

Ihre Schreie weckten ihn. Immer lauter und panischer klangen sie und schließlich kniete Jarrett sich neben Hannah und redete beruhigend auf sie ein. Doch seine Worte holten sie nicht aus ihrem Albtraum, also berührte er sie an der Schulter, erst vorsichtig, dann fester. Unvermittelt riss sie die Augen auf und starrte ihn an.

»Hast du von Lauren geträumt?«

Sie blinzelte verwirrt. »Ja. Woher …?«

»Du hast im Schlaf geschrien. ›Nein!‹ und ›Ich hasse Barbecue!‹ Deshalb dachte ich …«

»Geschrien?« Sie setzte sich auf. Ihr Atem ging noch heftig.

»Du hattest einen Albtraum. Das ist alles.«

Sie nickte zaghaft, sog Luft ein und blies sie wieder hinaus. Gleichzeitig fing sie an, mit dem Daumen über ihren Zeigefinger zu reiben. Es schien sie zu beruhigen.

Jarrett stand auf und schaute aus den Fenstern. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber es musste jeden Moment so weit sein. Fahles Licht lag über den Büschen am Waldrand und dem Feld, das sich endlos nach Westen erstreckte. Die Grillen waren verstummt.

»Willst du nochmal schlafen?«

Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie dicke Ringe unter den Augen hatte.

»Okay, dann gehen wir weiter. Komm nach unten, wenn du so weit bist.« Er kletterte die Leiter hinunter und mit ihm das Hologramm. Es ließ sich noch immer nicht abschalten, was wohl bedeutete, dass der Spuk noch nicht vorbei war.

Unten angekommen, stieg Jarrett über die gebrochene Lehne des Drehstuhls und verdrückte sich in die Büsche, doch mehr als ein paar Tropfen hatte seine Blase nicht zu bieten. Dafür war seine Zunge über Nacht angeschwollen und sein Mundraum mit Schleifpapier tapeziert – ganz oben auf der To-do-Liste stand eindeutig Wasser finden.

Irgendwo in den Bäumen versteckt, fingen die Vögel zu singen an. Es war wohl ihre übliche Aufwachzeit, doch die von Hannah war es eindeutig nicht. Tapsig stieg sie die Leiter hinunter und danach schlurfte sie übers Feld. Jarrett hatte keine Ahnung, was hier angebaut wurde, aber Sojabohnen waren es nicht, dafür waren die Blätter zu gewellt und ausgefranst.

Südlich und nördlich des Felds ging der Wald weiter, aber von Bäumen hatte er erst einmal genug. Und so langsam hatte er auch von dem schlafwandelnden deutschen Mädchen genug. Sie war müde und dehydriert und ohne Zweifel war das alles ziemlich viel für sie gewesen. Aber was sollte er erst sagen? Sein persönlicher Albtraum hatte nicht erst mit dem Aufploppen des Staatsmottos begonnen. Und seine Gedanken bevölkerte nicht nur die durchbohrte Lauren, sondern auch der tranchierte Quentin. Doch verdammt noch mal, das hinderte ihn nicht am Laufen.

Mit jeder Minute, die Hannah dahinzuckelte, wurde er gereizter und genervter. Es verlangte ihn danach, seiner Wut ein Ventil zu geben.

»Was machen deine Verletzungen?« Ihre Frage kam aus dem Nichts.

»Meine Verletzungen?«, wiederholte er und schluckte die verletzende Bemerkung, die er auf den Lippen gehabt hatte, hinunter. »Du meinst meine Augen?«

»Und die Wunde von dem Drohnenpropeller.«

Er blickte auf seine aufgerissene Hand und den Unterarm. Er hatte, so gut es ging, darauf geachtet, dass kein Schmutz hineinkam, und bislang schien das auch nicht passiert zu sein. Der Riss war nicht tief, eiterte nicht und sah nicht gerade schlimm aus, seit kein Blut mehr floss. Hannahs Besorgnis erstaunte ihn.

»Die Wunde ist okay. Meine Augen brennen noch.« Er spürte, dass sie auf die Gegenfrage wartete. Darauf, wie es ihr ging, aber er hatte keine Lust, sie zu stellen. Nicht, wenn sie so langsam übers Feld zuckelte.

In ihrem Rücken kletterte die Sonne über die Baumkronen und überspülte das Feld mit Farbe. Möglicherweise waren es Zuckerrüben, überlegte Jarrett, aber eigentlich war es vollkommen egal. Fast alles war egal geworden, und daran waren nicht die amoklaufenden Maschinen schuld. Seine Welt war schon vor dem gestrigen Nachmittag aus den Fugen geraten.

Aber was war mit den Menschen, die zu seiner Welt gehört hatten? Waren sie auf einmal auch von Maschinen bedroht und gejagt worden? Seine Mutter besaß nur eine Smartwatch, keinen Androiden. Ihr weniges Geld gab sie für ganz andere Dinge aus – und überhaupt: Sollte er nach dem, was in den letzten Tagen passiert war, nicht endgültig aufhören, an sie zu denken? War es nicht eher angebracht, endgültig mit ihr abzuschließen?

Auch Desmond und Jazmine hatten kaum Technik im Haus. Ein kleiner Staubsaugerroboter, eine Brille, Smartwatches: Das war alles. Aber das musste nichts bedeuten, wenn man in einer Stadt wie Columbus lebte, in der eine Million anderer Menschen mit der Zeit gingen, statt sich ihr zu verschließen.

Und er hatte sich nicht mal mehr bei ihnen entschuldigt.

Als das riesige Was-auch-immer-Feld zu Ende ging, wagte Jarrett kurz zu hoffen, dass sie Wasser gefunden hatten. Doch das Bachbett, das daran anschloss, war so vertrocknet wie seine Kehle. Auf der anderen Seite des Grabens folgte eine frisch gemähte Wiese. An verschiedenen Stellen lagen noch große Heuballen auf den Stoppeln, der überwiegende Teil lagerte jedoch schon am westlichen Rand der Wiese.

»Wer sammelt die alle ein?«, fragte Hannah, was, wie Jarrett zugeben musste, eine angebrachte Frage war.

Er kannte die Antwort in dem Moment, als er eine viereckige Kontur auf der Wiese ausmachte. Es war kein Panzer, wie der, der sie bis auf den Highway verfolgt hatte. Was da auf der Wiese stand, kam von der Größe her eher den Jätrobotern der Giddeys gleich. Aber fürs Unkrautjäten schien das Ding nicht gemacht zu sein, denn es hatte lange, scherengleiche Arme, die, wenn man die Umgebung betrachtete, nur einem Zweck dienen konnten.

»Wir sollten einen großen Bogen um diesen Roboter machen«, wisperte Hannah.

»Ja, wobei ich glaube, dass sein Akku leer ist. Da liegen noch einzelne Heuballen auf der Wiese und trotzdem steht dieses Ding einfach rum, anstatt sie aufzuladen und einzusammeln.«

»Vielleicht reagieren seine Sensoren seit gestern nicht mehr auf Heu.«

Ein berechtigter Einwand. »Aber wenn sie nur noch auf Menschen reagieren, dann nicht besonders gut. Wir sind kaum mehr als hundert Fuß entfernt.«

»Trotzdem. Wir sollten kein Risiko eingehen.«

Womit sie abermals recht hatte. »Okay. Waldrand?«

»Waldrand.«

Vorsichtig gingen sie los. Hannah beäugte die Maschine wie ein wildes Tier, das jede Sekunde zum Sprung ansetzen konnte. Doch der Roboter stand einfach nur da und weder die langen Scheren noch die Räder bewegten sich. Über dem Fahrwerk war ein massives rechteckiges Dach angebracht. Es war zu hoch, um drauf sehen zu können, aber auf einmal reflektierte die Oberfläche die Sonne.

»Was, wenn das Solarzellen sind?«

Jarrett wollte schon mit den Schultern zucken und Na wenn schon? entgegnen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, denn der Roboter fuhr urplötzlich los. Sein Akku musste in der Tat leer gewesen sein, doch jetzt, da die Sonne hoch genug stand, um die Solarzellen zu erreichen, funktionierten seine Sensoren wieder. Und sie waren eindeutig nicht mehr auf Heuballen gepolt.

Hektisch sah Jarrett sich um. Aber wenn es eine Alternative zur Flucht in den Wald gab, dann sah er sie nicht. Da war nichts als gemähte Wiese.

Also rannten sie auf die Bäume zu, die noch ein ganzes Stück entfernt waren. Die Angst machte Hannah Beine. Zum ersten Mal an diesem Tag strengte sie sich wirklich an, aber Jarrett bezweifelte, dass das genügen würde. Der Wald war noch weit und der Roboter rollte rasant und lautlos hinter ihnen her, während Hannah schon wieder keuchte. Obwohl sie lange Beine hatte.

Jarrett verfluchte ihre mangelnde Fitness, doch er verwarf den Impuls davonzusprinten und blieb, mehr oder weniger, an ihrer Seite. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Roboter aufholte. In seiner Fahrtrichtung lag ein Heuballen, der noch auf den Abtransport wartete, und einen Moment lang wagte Jarrett zu hoffen, dass der Roboter sich seinen Sinn für Landwirtschaft bewahrt hatte. Aber die Maschine ließ den Heuballen links liegen und jagte weiter hinter ihnen her, die Scheren weit geöffnet. Das Solardach schien sie mit jeder Menge Strom zu versorgen.

Und da durchschoss es Jarrett: Es gab doch eine Alternative zum Wald! Das Problem war nur, dass diese Alternative die Maschine selbst war, genauer gesagt: ihr Dach. Ein ziemlich hohes Dach, und auch Hannah musste es hinaufschaffen, ohne zwischen die Scheren zu geraten. Die, entgegen ihrem eigentlichen Zweck, sicher auch gut menschliche Knochen brechen konnten.

Doch da lagen noch andere Heuballen auf der Wiese – und sie waren hoch genug, dass selbst Hannah von dort aufs Dach der Maschine kommen konnte. Was im Umkehrschluss jedoch bedeutete, dass sie es erst einmal auf ihr Sprungbrett schaffen musste.

»Siehst du den Heuballen da vorn? Kletter auf ihn drauf! Und dann springst du aufs Dach des Roboters!«

Was?! Nein! Das schaff ich nie!, schrien ihre Augen ihm entgegen.

»Du musst!« Denn zum Wald schaffst du es auch nicht! Nicht du!

Sie warf einen schnellen Blick zum Scherenroboter, erkannte, dass er sie einholen würde, bevor sie das Dickicht erreichte, und gab ihren stummen Protest auf. Sie änderte ihre Laufrichtung, hielt auf den Ballen zu und versuchte, hinaufzugelangen. Ihr Oberkörper plumpste auf das gepresste Heu, doch es sah nicht so aus, als könnte sie die Kraft aufbringen, den Rest von sich hochzuziehen. Kurz entschlossen fasste Jarrett ihr an die Hüften und schob sie hinauf. Hannah rappelte sich auf und er wollte schon hinterher, aber dann ließ er es bleiben, aus Sorge, dass sie herunterfallen könnte. Es gab noch andere Strohballen als diesen.

»Spring, sobald die Scheren den Ballen berühren!«, rief er, schwang die Arme und rannte, denn der Roboter rauschte heran.

Über Jarretts Arm hüpfte das ewige Hologramm, hinter ihm kreischte Hannah. Dann rumpelte es, was alles Mögliche bedeuten konnte, auch einen weiteren überfahrenen Körper. Jarrett drehte den Kopf und atmete auf. Hannah war bäuchlings aufs Dach des Roboters geklatscht.

Der Ballen, von dem sie gesprungen war, lag nun auf den Scheren der Maschine, die ihn weiter verfolgte. Allerdings nicht mehr ganz so schnell, jetzt, da sie mit einem Passagier und einem riesigen Ballen Heu beladen war, der wahrscheinlich zehnmal so viel wie Hannah wog.

Jarrett sprintete auf den nächsten Ballen zu und zog sich hoch. Er wartete, bis die Scheren bedrohlich nahe kamen, dann sprang er. Nicht auf Hannah, neben sie. Stumm sahen sie sich an, zwei Gestrandete auf einer winzigen, viereckigen Insel.

Einer Insel im Grasmeer. Der Roboter war stehen geblieben. Auf seinen Scheren balancierte er nun zwei Heuballen, aber er fuhr sie nicht zum Lagerplatz. Er fuhr überhaupt nicht mehr, was ebenso viele Dinge bewies, wie er Heuballen aufgeladen hatte. Erstens: Er wollte wirklich nur noch Menschen jagen. Zweitens: Solange die Menschen sich auf seinem Dach aufhielten, konnten die darunter angebrachten Sensoren sie nicht orten.

»Und jetzt?«, fragte Hannah zaghaft.

»Ich weiß nicht. Der Roboter zermalmt dich, wenn du runtersteigst. Jedenfalls solange er Strom hat.«

»Aber wir können doch nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit hier oben bleiben?! Bis dahin sind wir vertrocknet!«

Jarrett kratzte mit der Zungenspitze über seinen mit Schleifpapier tapezierten Mundraum. »Vielleicht können wir seine Stromversorgung unterbrechen.« Auf den Knien rutschte er über die Solarzellen, lehnte sich über den Rand des Daches und suchte nach Kabeln. Aber da waren keine, jedenfalls keine sichtbaren. Seufzend nahm er den Kopf wieder hoch. »Wir könnten uns ausstrecken, um den Sonneneinfall zu blockieren. Aber dafür müssten wir um einiges breiter und dicker sein.«

Hannah starrte auf ihre dünnen Beine, die sie mit den Armen umschlang. »Ich weiß, was wir tun könnten«, sagte sie auf einmal, aber es schwang keine Zuversicht und kein Triumph in ihrer Stimme mit.

»Und was?«

»Na ja, also, die Sache ist die, wenn überhaupt, kannst nur du es tun«, druckste Hannah herum. Sie war schon wieder knallrot im Gesicht, ihr Daumen rotierte. Jarrett war drauf und dran, etwas Gehässiges zu sagen, als sie endlich mit der Sprache rausrückte. Und ihre Idee war nicht nur gut, sie schien auch absolut machbar, wenngleich tatsächlich nicht für sie selbst.

Jarrett stand auf, trat ein paar Schritte zurück und sprang mit Anlauf auf die Wiese. Die Sensoren registrierten ihn sofort, denn der Roboter drehte die Scheren und rollte los. Aber Jarrett war schon außer Reichweite, schwang die Arme und rannte zurück in Richtung Was-auch-immer-Feld.

Die Maschine verfolgte ihn, doch sie hatte keinen Extra-Gang, keinen zuvor ungenutzten Turbo-Modus. Hannah saß als blinde Passagierin auf dem Dach, hielt sich am Rand fest und den Blick auf die Solarzellen gerichtet. Es war ihr offensichtlich peinlich, dass sie ihn brauchte, um ihre Idee in die Tat umzusetzen.

Während Jarrett rannte, schrie jeder Zentimeter seines Mundraums nach Wasser. Wie lange konnte der menschliche Körper ohne Flüssigkeit überleben? Drei Tage? Zwei? Ganz sicher jedoch länger als 18 oder 19 Stunden oder wie lange es auch her sein mochte, dass er in der Küche der Giddeys Zitronensoda getrunken hatte. Also vertrieb er die Gedanken an Dehydrierung und rannte weiter.

Nach dem Aufstehen, mit der schlurfenden und schlafwandelnden Hannah im Schlepptau, war ihm das Feld endlos erschienen. Jetzt, unter seinen alleinigen Schritten, schrumpfte es zusammen. Seine Sneakers plätteten die letzten ausgefransten Blätter, dann hatte er den Jägerstand und den kaputt im Gras liegenden Drehstuhl erreicht. Er kletterte die Leiter nach oben, krallte sich die Wolldecke und machte sich wieder an den Abstieg. Inzwischen war auch der Roboter angekommen und in seinem Wahn, den Menschen auf der Leiter zu erreichen, zermalmte er den Stuhl.

Jarrett hüpfte von der Leiter aufs Dach der Maschine und breitete die Decke aus. Hannah ging ihm zur Hand und sie mussten hier und da ein wenig zupfen und gleichzeitig darauf achten, die Decke nicht zu verrutschen, aber schließlich bedeckte sie sämtliche Solarzellen. Die Stromversorgung war gekappt.

»Tut mir leid, dass du so lange rennen musstest.« Hannah kniete am Rand des Daches und strich die eigentlich glatte Decke noch glatter.

»Immerhin hattest du die Idee.« Was stimmte. Sie hatten beide nichts davon, wenn Hannah sich unnütz fühlte. Ihnen war mehr geholfen, wenn sie ihre wenige Energie aufs Laufen verwendete.

»Meinst du, das Ding hat einen eingebauten Speicher?«

»Es gibt nur eine Art, das rauszufinden, oder?« Er ging vorsichtig zum Rand des Daches, um die Decke nicht zu verrutschen, und sprang auf den Boden. Die Maschine machte keinen Muckser.

»Kein Speicher! Wurde auch Zeit, dass wir mal Glück haben.«

»Ja.« Hannah lächelte ihr schüchternes Hannah-Lächeln, setzte sich auf den Rand des Daches und sprang ins hohe Gras zwischen Waldrand und Feld. Gemeinsam legten sie einen großen, ausladenden Ast auf die Decke – für den Fall, dass plötzlich Wind aufkam. Dabei verrutschte die Decke ein wenig, aber sie richteten sie, ehe die Maschine zum Leben erwachte. Und dann liefen sie wieder über das Feld, Hannah zum zweiten und er schon zum dritten Mal.