Man kennt ihn als Dante, aber lexikalisch korrekt sollte er unter dem Familiennamen Alighieri stehen. Ich habe ihn einmal, 2015, auf Einladung der FAZ, als Weltenretter gewürdigt, und er gehört hierher als ferner Bekannter mit A.
Im Laufe der Jahrzehnte habe ich immer mal wieder einen Blick in das Fischer-Taschenbuch der «Göttlichen Komödie» geworfen, das mein Vater in den Fünfzigern gekauft hatte. Über die ersten drei, vier Seiten kam ich nie hinaus. Der ans Komische grenzende Reimzwang und das idealisierende, fromm aufgepumpte Vokabular waren alles andere als verlockend.
2001, in Rom, empfahl mir eine deutsche Buchhändlerin die Übertragung von August Vezin bei Herder, auch in gereimten Terzinen, aber etwas frischer, klarer, geschmeidiger. Außerdem waren hier jedem Gesang zwei, drei Seiten Erläuterungen vorangestellt, nicht zu viel, nicht zu wenig. So stapfte ich Schritt für Schritt, mit mäßigem Vergnügen, durch die halbe Hölle und gab dann auf. Das Italienisch zu schwierig, das Deutsch zu verkünstelt.
Es musste erst Kurt Flasch 2011 mit den zwei großformatigen Bänden, mit seiner präzisen Prosafassung und der «Einladung, Dante zu lesen» kommen, damit ich die 14233 Verse noch einmal von vorn und dann bis zum Ende las. Aber warum? Die Lektüre blieb ja strapaziös. Bei aller Begeisterung für poetische Raffinesse, bei aller Bewunderung der Phantasiekraft, bei aller Neugier auf den politischen Dante – es gibt genügend öde Passagen, die uns heutige Leser resignieren lassen. Wir verzweifeln an unserer Unbildung, wir ermüden auf den kosmologischen, philosophischen, mystisch-theologischen Etappen am Läuterungsberg und im Paradies. Warum ich durchhielt, kann ich nur erklären, wenn ich ein Betriebsgeheimnis preisgebe.
Jeden Morgen vor der Arbeit an einem Prosatext pflege ich mich mit einem Klassiker zu stärken. Zwei, drei Seiten, wenige Minuten nur, es kann «Dichtung und Wahrheit», ein Jean-Paul-Roman oder Joseph Roth sein, auch die neuen Übersetzungen der «Kartause von Parma» oder von «Tristram Shandy»; derzeit ist es Jaroslav Hašeks «Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg». Mit dem Echo solcher Meisterprosa im Ohr wird es leichter, die Kriterien scharf zu halten und die eigene Sprachmelodie zu finden.
Flaschs Dante half 2012 bei der Erzählung «Die linke Hand des Papstes». Ich arbeitete in Rom, jonglierend mit meinen Erfahrungen, Beobachtungen und Entdeckungen aus zwölf und mehr Rom-Jahren. Da tat es gut, jeden Morgen vor der Arbeit einen Gesang, also rund hundertvierzig fein rhythmisierte Zeilen aus der «Göttlichen Komödie» zu lesen, teils im Original, teils im Flasch, teils im Vezin, mit möglichst wenig Kommentar. Schnell war klar, dass Dante ein ferner Verbündeter war. Gegen das, was er seinen Zeitgenossen entgegengeschleudert hatte, war das, was ich meinen romliebenden Helden romkritisch, berlusconikritisch, deutschkritisch und kirchenkritisch aussprechen ließ, äußerst gemäßigt und milde. Ich achtete darauf, nur solche Italienkritik einzuflechten, die Italiener geäußert hatten, so höflich wäre Dante nie gewesen. Gewiss, Rom ist nicht die Hölle. Aber seine höllischen Seiten, Schlünde und Fallgruben werden gern übersehen. Die Kenner wissen: Ein südlicher Vorort, wo nie ein Tourist hinkommt, heißt Infernetto, Höllchen. Nicht weit davon wurde Pasolini ermordet.
Ein spezielles Vergnügen also, im skandalsatten und korrupten Rom den Moralisten Dante täglich zehn Minuten bei seinen Gängen und Visionen zu begleiten, bevor ich daranging, von den Konflikten eines Fremdenführers zu erzählen, vom Geheimnis der linken Hand des Papstes und vom Coup des > AUGUSTINUS, die Erbsünde zu erfinden und diese Idee dank Bestechung mit achtzig arabischen Zuchthengsten bei Kaiser und Papst durchzupauken. Vergil und Dante mit größtmöglichem Abstand und Respekt in heiterer Bescheidenheit zu folgen, das kann auch im 21. Jahrhundert kein Irrweg sein.
Endlich hatte ich begriffen: Hier schreibt der frechste Dichter aller Zeiten. Und das nicht nur als Gesellschaftskritiker, der seine politischen Gegner und die Schufte seiner Zeit, Päpste und Kaiser inklusive, stracks in die Hölle befördert. Seine größte Frechheit ist keine politische, sondern eine theologische.
Der Dichter schwingt sich zum Weltenrichter auf. Mit der Fiktion seiner Wanderung durch Inferno, Purgatorio und Paradiso nimmt er, natürlich in frömmster Absicht, Gott die Arbeit des millionen- oder milliardenfachen Menschensortierens ab und entthront ihn, zumindest vorläufig, auch wenn er ihm inbrünstig unterworfen bleibt. Das ist der erheiterndste Widerspruch der Commedia, die zu anderen Zeiten als Ketzerei verfolgt wurde. Welche Urteile über welche Toten am Jüngsten Tag von Gott oder Jesus oder Erzengeln oder wem auch immer gesprochen werden, wusste um 1300 kein Mensch und weiß bis heute niemand. Aber hier stellt sich ein Dichter hin und arbeitet schon mal vor.
Er bestimmt, in aller Demut und in aller Schärfe, wer in den Himmel, wer in die Hölle kommt. Durch das beflissene Beschreiben dessen, was er bei seiner erfundenen Wanderung gesehen haben will, und durch den Zauber einer bislang ungehörten poetischen Sprache erscheint die Kühnheit der Fiktion als Faktum höchster Selbstverständlichkeit, da die meisten Leser ja mehr an die Fiktion von Himmel und Hölle als an die Kraft literarischer Fiktion glauben. Das Wunder der Literatur, hier wird es Ereignis. Die anschaulich ausgemalten Tiefen der Hölle wirken wie der Gipfel der Wahrheit und sind doch vor allem ein Gipfel der Poesie – und ein Gipfel der Gotteslästerung. Das ungeheure Volumen der Danteschen Phantasien und die bis dato unbekannte detailfreudige Darstellung des Jenseits wirken so überwältigend, ja einschüchternd, dass die Frechheit, sich an Gottes Stelle zu setzen, von vielen gar nicht mehr bemerkt wird. Alle folgenden Gotteslästerungen, die die Kirchen Künstlern vorgeworfen haben, sind nichts gegen diese: Der Dichter wird zum Richter, jedenfalls solange das Weltgericht nicht stattfindet und immer wieder verschoben werden muss.